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Aus: Ausgabe vom 02.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Reportage

»Die Ukraine ist tot«

Fassungslosigkeit und Wut auf Kiew: Odessa nach dem Pogrom am 2. Mai 2014
Von Reinhard Lauterbach
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Gedenken unerwünscht: Einsatzkräfte des ukrainischen Innenministeriums sichern am 3. Mai 2014 das Haus der Gewerkschaften in Odessa ab

Nach dem Massaker im Gewerkschaftshaus in Odessa reiste jW-Autor Reinhard Lauterbach vor zehn Jahren in die Ukraine. Die Reportage erschien am 9. Mai 2014 in der jungen Welt.

Morgens um kurz nach sieben sind auf dem weitläufigen Platz vor dem Odessaer Gewerkschaftshaus schon einige Dutzend Menschen versammelt. Sie stehen stumm vor den verkohlten Balken der massiven Eingangstüren, schauen in das verwüstete Vestibül, legen Blumen nieder, entzünden Kerzen. Ein Besucher vom Vortag hat einen Sinn für bittere Ironie bewiesen: Auf seinem Blumenstrauß schmilzt eine Tafel Schokolade der Firma Roshen, die dem Präsidentschaftskandidaten Petro Poroschenko gehört, vor sich hin: 78 Prozent Kakao, extra bitter. Nimm das, Dreckskerl, ist die implizite Botschaft.

Tausende Sträuße roter Nelken liegen vor dem massiven Bau im sowjetischen Klassizismus, der 1948 für das Gebiets­parteikomitee errichtet wurde, und ständig kommen im Laufe des Tages Leute vorbei, die neue Blumen dazulegen: Mütter mit Kindern, Leute auf dem Weg ins Büro, Jugendliche. Eine der Besucherinnen des Orts schon am frühen Morgen, eine ältere Frau mit Goldzähnen, sagt: »Das hier ist schlimmer als der Maidan.« Sie kommt nach ihren Worten aus Tschernigow (Tschernigiw), einer Stadt im Norden der Ukraine und sei selbst auf den Demonstrationen in Kiew dabeigewesen. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Urlaubsort am Schwarzen Meer und hat die Umsteigezeit zur Regionalbahn genutzt, die paar hundert Meter vom Bahnhof herüberzukommen, um der Opfer zu gedenken. Manche der Besucher bekreuzigen sich, andere stehen nur schweigend da, fassungslos angesichts dessen, was hier am 2. Mai geschehen ist.

Wen sie für die Toten verantwortlich machten, frage ich eine Gruppe junger Leute. »Die Macht«, sagt eine junge Frau Anfang 20 mit nichts als kaltem Hass in der Stimme. Unter Präsident Wiktor Janukowitsch sei die Staatsmacht korrupt gewesen, aber sie habe die Leute leben lassen, fügt ihr Begleiter hinzu; was jetzt herrsche, sei »bespredel« – Willkürherrschaft ist vielleicht die beste Übersetzung.

Andere sind gesprächiger. Im Laufe des Vormittags wächst die Menge vor dem Gewerkschaftshaus auf konstant vielleicht 200 Leute an. Sie stehen in Gruppen, diskutieren, das Wort führen meist ältere Leute. »Die waren schlimmer als die Faschisten«, erklärt eine Rentnerin und schließt gegenüber dem deutschen Reporter gleich die Geschichte an, wie sie im Winter 1941/42 ein deutscher Soldat vor dem Erfrieren gerettet habe. Gerüchte machen die Runde, sie sind nicht zu überprüfen und widersprechen sich teilweise: In den Kellern lägen noch Dutzende Opfer des Pogroms, sagt die eine. Nein, sagt ein anderer: Ihm habe ein Bekannter, der als Krankenwagenfahrer arbeite, erzählt, sie seien in der Nacht nach dem 2. Mai angewiesen worden, im Dunkeln Dutzende Leichen wegzuschaffen. Beim nächsten Redner werden aus den Dutzenden Hunderte. Der plausible Kern dieser Gerüchte: Die offizielle Zahl von 46 Toten ist wahrscheinlich zu niedrig. Die Mutter eines der ermordeten Aktivisten berichtete schon vor Tagen, ihr seien im Leichenschauhaus allein mindestens 60 Tote gezeigt worden. Andere Gerüchte berichten von Vergewaltigungen der Opfer, hetero- und homosexuellen, vor ihrer Ermordung – was mit der Situa­tion in einem brennenden Gebäude und der Tatsache, dass der Pogrom nach Augenzeugenberichten etwa 20 Minuten andauerte, nicht recht zusammenpassen will.

Zweifler haben es schwer. Ein junger Mann auf einem Mountainbike fragt die Diskutierenden, woher sie das denn alles wüssten, was sie erzählten. Sofort fangen die Älteren an, ihn zu schubsen: Hau doch ab auf deinen Maidan, ist noch das Mildeste, was der Radfahrer zu hören bekommt. Sein blau-gelb gesprenkeltes Kopftuch wird spontan als Emblem der anderen Seite wahrgenommen. Das Misstrauen gegen Medienvertreter ist groß. Als am Abend ein Reporter der Nowaja Gaseta aus Moskau Fotos macht, drehen sich die Leute weg und versuchen, ihn abzudrängen.

Nebenan steht ein Ehepaar in den Vierzigern, sie kommen aus Donezk, sind auf dem Rückweg von einem Familienbesuch in der Westukraine. »Es war unerträglich dort«, erzählt die Frau. »Alle haben uns als Terroristen und Separatisten beschimpft, sogar die Verwandten – die sind vollkommen benebelt da im Westen.« Dabei wollten sie nur so leben, wie sie es gewohnt seien, und ihre Sprache sprechen können.

Die Westukrainer bildeten sich ein, die Herren im Lande zu sein, verweist jemand anderes auf einen wirtschaftlichen Aspekt des Konflikts; dabei finanziere allein Odessa über die Hafengebühren fast den halben Staatshaushalt. »Wir brauchen Kiew nicht, Kiew braucht uns, deswegen sind sie gegen die Föderalisierung.« Im Donbass rechnen die Leute ähnlich vor, dass allein die Steuern des Gebiets Donezk die Summe der staatlichen Subventionen für die drei besonders nationalistischen Bezirke Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk überstiegen. Egal, ob die Berechnungen stimmen – und sie stimmen im wörtlichen Sinne sicher nicht, schließlich gibt es auch im Osten aus dem Staatsbudget finanzierte Schulen und Rentner –, sie sind Argumente für ein Gefühl. »Die Ukraine, die wir kannten, ist tot«, fasst der Mann aus Donezk die Diskussion zusammen. Er ist nicht der einzige, der sich so äußert an diesem Maitag, an dem in Odessa der Flieder und die Kastanien blühen, als wäre nichts gewesen.

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