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Gesellschaft (2)

Von Helmut Höge
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Die Dritte Industrielle Revolution bereitete sich zur selben Zeit wie die Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank am Ende des Zweiten Weltkriegs vor. Dazu fanden zwischen 1946 und 1953 die sogenannten Macy-Konferenzen statt, auf denen sich die »technokratische Wissenschaftselite der USA« versammelt hatte, um ausgehend von der  Waffenlenksystemforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und  der Informationswissenschaft zu diskutieren. Dabei waren u. a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margaret Mead. Als Konferenzsekretär fungierte zeitweilig Heinz von Foerster. Es entstand die Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme auf Tiere, Computer, Volkswirtschaften etc. gleichermaßen zutreffen.

Als einer der ersten Gegner dieses bald immer mehr Wissenschaftsbereiche erfassenden Paradigmenwechsels trat 1953 der Schriftsteller Kurt Vonnegut mit seinem Buch »Das höllische System« auf, in dem er die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassenden Anwendung beschrieb, die Herbert Marcuse dann als »Herrschaft eines technologischen Apriori« bezeichnete, was der Wiener Philosoph Günther Anders wiederum zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen und Recherchen zur »Antiquiertheit des Menschen« machte.

In dem Szenario, das Vonnegut entwarf – indem er die Militärforschung des »Fathers of Cyborg«, Norbert Wiener, und des Mathematikers John von Neumann weiter dachte – geht es um die Folgen der »Maschinisierung von Hand- und Kopfarbeit«, d. h. um die  vom Produktionsprozess freigesetzten Menschenmassen, die überflüssig sind und nur noch die Wahl haben zwischen Ein-Dollar-Jobs in Kommunen und Militärdienst im Ausland, wobei sich beides nicht groß unterscheidet. Theoretisch könnten sie sich auch selbständig machen – »Ich-AGs« gründen, wie das 1997 in Wisconsin entwickelte »Trial Job«-Modell nach Übernahme durch die rotgrüne Regierung hierzulande heißt, oder »Startups«. »Reparaturwerkstätten, klar! Ich wollte eine aufmachen, als ich arbeitslos geworden bin. Joe, Sam und Alf auch. Wir haben alle geschickte Hände. Für jedes defekte Gerät in der Stadt ein eigener Mechaniker. Gleichzeitig sahnen unsere Frauen als Schneiderinnen ab – für jede Einwohnerin eine eigene Schneiderin.«

Da das nicht geht, bleibt es dabei: Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial eher schlecht als recht endversorgt, während eine kleine Elite, vor allem »Ingenieure  und Manager«, die Gesellschaft bzw. das, was davon übriggeblieben ist – »Das höllische System« – weiter perfektioniert. An vorderster Front steht dabei Norbert Wiener. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr »Aussteigern« unterstützt. Der Autor  erwähnt namentlich John von Neumann. Nach Erscheinen des Romans beschwerte sich Norbert Wiener brieflich beim Autor über seine Rolle darin. Die Biologiehistorikerin Lily E. Kay bemerkt dazu in ihrem 2002 auf deutsch erschienenen »Buch des Lebens« über die Entschlüsselung  des genetischen Codes: »Wiener scheint den Kern von Vonneguts Roman völlig übersehen zu haben. Er betrachtete ihn als gewöhnliche Science-Fiction und kritisierte bloß die Verwendung seines und der von Neumanns Namen darin.« Vonnegut antwortete Wiener damals: »Das Buch stellt eine Anklage gegen die Wissenschaft dar, so wie sie heute betrieben wird.«

Im Roman geht es dann so weiter, dass die von der fortschreitenden Automatisierung auf die Straße Geworfenen sich organisieren, wobei sie sich an den letzten verzweifelten Revivalaktionen der Sioux im 19. Jahrhundert orientieren: an den Ghost Dancers, die gefranste westliche Secondhandklamotten trugen. Im Roman heißen sie »Geisterhemdgesellschaften« – und irgendwann schlagen sie los, d. h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft, wobei es ihnen vor allem um den EPICAC-Zentralcomputer in Los Alamos geht. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an »ihren« Maschinen zu arbeiten. Bevor die Rädelsführer hingerichtet werden, sagt einer, von Neumann: »Dies ist nicht das Ende, wissen Sie.« Leider ging es jedoch erst einmal so weiter, dass heute jeder mindestens einen Handcomputer hat, der ihn trotz Vereinsamung mit der Welt »verbindet«.

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