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Aus: Ausgabe vom 30.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Internationale Lieferketten

»Wir kämpfen teilweise um Mindeststandards«

Über Gewerkschaftsarbeit in den Gemüseplantagen der Region Almería. Ein Gespräch mit José García Cuevas
Von David Maiwald und Annuschka Eckhardt, Almería
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Die riesige Fläche von Gewächshäusern bei El Ejido in der Provinz Almería ist als »schimmernder Fleck« auch aus dem Weltall zu sehen

Die Gewerkschaft SOC-SAT kämpft mit Landarbeitern in den Gemüseplantagen der Region Almería. Mit welchen Problemen haben Sie zu tun?

Wir kämpfen teilweise um Mindeststandards. Um Löhne, die mittlerweile zwar offiziell das Mindestlohnniveau erreichen, wegen nicht bezahlter Überstunden aber tatsächlich viel niedriger sind. Unternehmen lassen keine Pause zu, lassen Arbeiter Pflanzenschutzmittel ohne vorherige Ausbildung oder Schutzkleidung ausbringen. Es gibt Arbeitszeitbetrug, starken Druck durch Arbeitstaktung, Einschüchterung durch Chefs und Vorarbeiter. Wir haben sogar dokumentiert, wie Arbeiter körperlich angegriffen wurden, weil sie ihre Rechte in den Unternehmen einforderten.

Von was für Unternehmen sprechen wir hier?

Es sind keine Kleinbauern, sondern große Firmen, mit Umsätzen von 60 bis 70 Millionen Euro. Sie betreiben Plantagen in der Dominikanischen Republik und im Senegal. Sie arbeiten mit moderner Technologie, während sie eine sehr alte, überkommene Vorstellung von Arbeitsbeziehungen haben. So trägt jeder Arbeiter ein Mobiltelefon bei sich, durch das er jederzeit geortet werden kann und das jede Tätigkeit zu seiner Kontrolle aufzeichnet. Die Löhne sind gering, Mindestbedingungen werden nicht eingehalten, es wird verschärft getaktet und kontrolliert. Auch die großen, multinationalen Saatgut-, Agrochemie- sowie Lebensmittelkonzerne sind für das, was hier passiert, verantwortlich.

Wie ist das Verhältnis der andalusischen Kleinbauern zu diesen Konzernen?

Aktuell reiten sie auf der Welle der Großkonzerne und ihrer Lobby. Es gab eine Zeit, da konnten Kleinbauern mit ihren überschaubaren Anbauflächen eine Menge Geld verdienen. Mit einem Hektar Gewächshaus konnten sie an die 60.000 Euro verdienen. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch eine andere ideologische Positionierung; wer aus den Bergen kam, etwa in Granada, und dort unter sehr schwierigen Bedingungen lebte oder sogar aus der Arbeiterklasse kam, identifizierte sich damit. Doch es entwickelte sich eine andere Art sozialer und politischer Struktur, so dass sich viele heute an einer anderen Klasse orientieren – auch wenn sie nicht dazu gehören. Aktuell sind die Kleinbauern gefährdet, aber trotzdem weit davon entfernt, Organisationen oder Dynamiken der Linken zu fördern. Viele machen sich den Diskurs der extremen Rechten zu eigen, weil sie es sind, die die Freihandelsabkommen unterzeichnen und sich dem Neoliberalismus unterordnen. Es fehlt an Kleinbauernorganisationen, die wirklich eine andere Art von Landwirtschaft verteidigen. Und die ein Bündnis gerade mit den Arbeitern und Gewerkschaften, nicht mit den Unternehmensinteressen anstreben. Denn am Ende sind es deren Bosse, die ihnen im Nacken sitzen.

Welche Gewerkschaften sind außer SOC-SAT noch hier vor Ort aktiv?

Es gibt noch die zwei großen, CCOO (Comisiones Obreras, Arbeiterkommissionen, jW) und UGT (Union General de Trabajadores, Allgemeine Arbeiterunion, jW). In der Praxis sind sie aber quasi unsichtbar. Sie erhalten staatliche Finanzierung, was sich aber nicht in eine direkte Unterstützung der Arbeiter zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen umsetzt. Ein Beispiel ist die Rahmenvereinbarung für den Agrarsektor, die eigentlich alle zwei oder drei Jahre erneuert werden müsste. In der Provinz Almería ist sie 2015 ausgelaufen, und die Unterzeichner UGT und CCOO haben absolut nichts Wichtiges getan, um die Unternehmer an den Verhandlungstisch zu bringen. Damit meine ich, zu Mobilisierungen aufzurufen, etwa einem Streik im gesamten Agrarsekor. So etwas gab es nicht. Dadurch wurde die Ausbeutung über Jahre verfestigt, und die Arbeitsbedingungen wurden immer schlechter. Wir erhalten für unseren Kampf übrigens keinen Cent vom Staat.

Wieso gelingt es den Gewerkschaften nicht, wirksamere Aktionen anzustoßen?

Die Realität hier liegt leider auch in der Verantwortung der Linken. Denn die Linke hat sich sehr stark auf den Parlamentarismus verlassen. Sie will dort Veränderungen anstoßen, ist dadurch aber wenig präsent bei sozialen Kämpfen, hat wenig Präsenz auf der Straße oder bei der Organisierung einer Bewegung, wie es historisch in anderen Prozessen geschehen ist. Wird dieser Raum aber freigelassen, degeneriert ihn das System letztendlich und leitet ihn um – oder die extreme Rechte kann ihn mit ihrem Diskurs besetzen.

In der BRD gibt es eine Lieferkettenrichtlinie, die bessere Arbeitsbedingungen sicherstellen soll, die EU hat kürzlich ebenfalls eine auf den Weg gebracht.

Das Verhalten der Supermärkte hat sich dadurch etwas verändert. Früher haben sie uns nicht geantwortet oder sind ausgewichen. Jetzt reagieren sie, weil Verstöße gegen die Arbeits- oder Menschenrechte mit einer Sanktion oder einem Bußgeld geahndet werden könnte. Das bedeutet aber nicht, dass es aufrichtigen Willen zu Veränderung gibt: Sie wissen schon lange, was hier passiert. Jeder kann in Almería herumfahren, mit Arbeitern sprechen, fragen, wo sie arbeiten, was sie unter welchen Bedingungen verdienen. Das Gesetz wird also eher sicherstellen, dass nichts Justiziables mehr an die Öffentlichkeit gelangt.

Wie könnte denn ein wirksames Gesetz aussehen?

Sie meinen eines, das den Kapitalismus beendet?

Nun ja, vielleicht auf einem etwas reformistischeren Niveau.

Wir sprechen also reformistisch, na gut: Der spanische Staat und die EU müssten Mittel bereitstellen, um etwa die Zahl der Arbeitsinspektoren zu erhöhen. Bisher gibt es sehr wenige für ein sehr großes Gebiet. Es braucht Klarheit zur Umsetzung der Richtlinien und zur Unterstützung der Organisierung von Beschäftigten. Es braucht strafrechtliche Konsequenzen für Unternehmer, die zehn, zwölf oder zwanzig Beschäftigte ohne Papiere ausbeuten. Diese Art von Veränderung würde uns die Arbeit hier vor Ort erleichtern.

José García Cuevas ist Sprecher der andalusischen Landarbeitergewerkschaft SOC-SAT

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