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Aus: Ausgabe vom 26.04.2024, Seite 8 / Feuilleton

Maut des Tages: Venedig-Gebühr

Von Felix Bartels
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Wenn die Gondeln Bauern tragen: Venedig und der Pöbel

Schon lange hatte Gustav von Aschenbach mit Unmut an seinen jährlichen Aufenthalt im Leningrad des Südens gedacht. Venedig, wie das einmal klang, als die Stadt noch nicht vom Pöbel erobert war. Wo kommen die alle her, haben die überhaupt Abitur oder wenigstens einen Titel? Aschenbach hatte sein »von« sogar für sein Genie und nicht bloß für seine Geburt erhalten.

Letztes Jahr war er wieder über die engen Pflasterwege flaniert, links ein Haus, rechts ein Kanal. Enge und Lärm, das Erdbeereis eines proletarischen Kindes troff ihm auf die wohllackierten Schuhe. Früher, dachte von Aschenbach, ging das hier noch, kein Geschrei, nur du, die alten Bauten und handverlesenes Publikum. Nichts gegen die einfachen Leute, aber warum fahren die nicht einfach an die Ostsee? Die Schönheit war zum Fluch der Stadt geworden. Jeder wollte hin, sie sehen, und folglich sah man sie nicht mehr. Auf den Gemälden von Hackert waren auch arme Leute, aber doch nicht so viele.

Und dann kam das Frühjahr 2024, die Rettung. Die Verwaltung Venedigs hatte entschieden, Eintritt zu nehmen. Zur Regulierung der Besucherströme. Von Aschenbach atmete aus, das erste Mal seit 70 Jahren. Wie lang schon hatte er Tadzio nicht wiedergesehen, selbst dieser schöne Junge schien von den reisenden Massen verschluckt. Es hat schon seinen Grund, dass das Wort Tourismus klanglich so nahe an Terrorismus liegt, stellte von Aschenbach laut fest, als er in der Schlange vor der Stadt zum Stehen kam, sein Eintrittsgeld in der bernsteinfarbenen Geldbörse bereithaltend. Sie stecken nicht im Stau, Sie sind der Stau, kommentierte ein vor ihm stehender Familienvater die Bemerkung.

Erst stehlen sie uns Venedig, und jetzt die Witze. Dachte von Aschenbach grimmig. Er stand an dritter Stelle der Schlange, als der Einlass für den Tag geschlossen wurde.

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