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Aus: Ausgabe vom 25.04.2024, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Birtek-Sen

»Maßstab sind Interessen der Arbeiter«

Über den Kampf der Textilarbeitergewerkschaft Birtek-Sen im Südosten der Türkei und staatliche Repression. Ein Gespräch mit Mehmet Türkmen
Von Interview: Mahir Sahin
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Während des 80tägigen Streiks der Textilarbeiter von Özak in Şanlıurfa nahm die Polizei 200 Beschäftigte und Gewerkschafter fest

Im März wurde der Vereinten Textil- und Lederarbeitergewerkschaft, Birtek-Sen, vom türkischen Arbeitsministerium eine Geldstrafe auferlegt. Warum?

Das Arbeitsministerium hat gegen uns eine Geldstrafe von knapp 1,5 Millionen Türkischen Lira verhängt, das gab es noch nie für eine Gewerkschaft. Als Grund für die hohe Geldbuße gibt das Ministerium den massenhaften Gewerkschaftsübertritt der Belegschaft von der Öz İplik-İş zur Birtek-Sen an. Die Gewerkschaft Birtek-Sen hätte die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Textilbetrieb Özak in der Stadt Urfa zu einem Gewerkschaftsübertritt gezwungen. 545 von den 757 Arbeiterinnen und Arbeitern aus dem Werk Urfa waren zur Birtek-Sen gewechselt. Die Öz İplik-İş gehört der AKP-nahen islamischen Arbeiterkonföderation HAK-IȘ an. Seit sieben Jahren war die Öz İplik-İş die zuständige Gewerkschaft bei Özak. Die Beschäftigten hatten in den letzten Jahren immer wieder versucht, zu einer anderen Gewerkschaft zu wechseln, die sich wahrhaftig für die Interessen der Beschäftigten einsetzt. Doch der Unternehmer konnte das bis November 2023 mit Hilfe der Öz İplik-İş immer wieder verhindern. Özak produziert Textilien für Levi’s, Zara und Hugo Boss. Hunderte Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Fabrik hatten 80 Tage für gewerkschaftliche Rechte und gegen Massenkündigungen gestreikt. Anscheinend möchte das Arbeitsministerium unsere Gewerkschaft jetzt zerschlagen, es eilt den Unternehmen zu Hilfe.

Birtek-Sen wurde 2022 im türkischen Gaziantep gegründet? Wofür steht die Gewerkschaft?

In Gaziantep sind 130.000 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Textil- und Lederindustrie beschäftigt. Aber nur drei Prozent sind gewerkschaftlich organisiert. Die Arbeiterinnen und Arbeiter im Südosten der Türkei haben durch das sozialpartnerschaftliche Handeln der bürokratischen, gelben Gewerkschaften lange Zeit schlechte Erfahrungen gemacht. Das ist ein Hindernis für die Organisierung, aber genau deshalb haben wir uns als kämpferische Gewerkschaft gegründet. Wir sind das Gegenstück zu den bürokratischen und gelben Gewerkschaftskonföderationen.

Bei den gelben Gewerkschaften werden die Gewerkschaftsmitglieder nicht in Beschlüsse einbezogen, sie entscheiden nicht über Tarifforderungen, sie werden auch nicht vorab nach ihrer Meinung gefragt. Sie dürfen auch nicht die eigenen betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen bestimmen. Die Arbeitsbedingungen in den gewerkschaftlich organisierten Betrieben unterscheiden sich nicht von denen in den nichtorganisierten Betrieben. Niedriglohn, lange Arbeitszeiten und andere schlechte Arbeitsbedingungen sind weitverbreitet. Diese Gewerkschaften kooperieren nicht nur mit den Unternehmen, sondern arbeiten auch sehr eng mit der Regierung zusammen.

Wir hingegen haben ein anderes Verständnis von Gewerkschaftsarbeit. Bei uns werden bei allen Beschlüssen die Arbeiterinnen, Arbeiter und die Gewerkschaftsmitglieder einbezogen, für uns intern ist die gewerkschaftliche Demokratie sehr wichtig, und Maßstab bei allen Entscheidungen sind immer die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Gründer unserer Gewerkschaft sind ehemalige Streikführer und Beschäftigte, die Erfahrungen mit betrieblichen Kämpfen haben. Wir haben viele Kämpfe in den Städten Urfa und Gaziantep begleitet und geführt. Zwar sind wir hauptsächlich in südöstlichen Städten wie Gaziantep, Urfa und Malatya aktiv, haben aber auch vereinzelte Gewerkschaftsmitglieder in Adana und Istanbul. Wegen gewerkschaftsfeindlicher Gesetze der Regierung sind unsere Mittel sehr begrenzt.

Warum konzentriert sich Birtek-Sen euch auf den Südosten der Türkei? Was für Arbeitsbedingungen herrschen dort?

Die Gründer unserer Gewerkschaften leben in diesen Städten wie Urfa und Gaziantep. Dort gab es auch in der Vergangenheit viele betriebliche Kämpfe. Sie sind Zentren der Textilindustrie. Die Arbeitsbedingungen sind miserabel: lange Arbeitszeiten, fehlender Arbeitsschutz, die Beschäftigten bekommen nur den Mindestlohn, der knapp über der Hungergrenze liegt. Es gibt viele Migrantinnen und Migranten aus Syrien, die diskriminiert werden und unter noch schlechteren Arbeitsbedingungen arbeiten. Besonders viele Frauen arbeiten in den Textilfabriken. Auch sie werden diskriminiert und ungerecht behandelt. Die Regierung will Arbeitsverhältnisse wie in Bangladesch, also extreme Ausbeutungsverhältnisse und eine Niedriglohnregion. Als unabhängige Gewerkschaft sind wir Repressionen ausgesetzt.

Gibt es Solidarität von anderen Gewerkschaften?

Viele andere kämpferische Einzelgewerkschaften haben sich mit uns solidarisiert. Von den Gewerkschaftskonföderationen hat sich leider bisher nur die der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (KESK) gemeldet und Unterstützung zugesagt.

Was möchten Sie den Gewerkschaftern und Arbeitern in Deutschland mitteilen?

Unsere Interessen, egal in welchem Land, sind immer gleich. Ein erfolgreicher gewerkschaftlicher Kampf, wo auch immer, ist ein Erfolg für die gesamte Arbeiterklasse in der Welt. Viele Fabriken hier produzieren für internationale Textilkonzerne, die in Europa und den USA ansässig sind. Aber die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter in diesen Fabriken hier vor Ort ist katastrophal, und sie schuften unter sehr schwierigen Arbeitsbedingungen, so wie in der Fabrik Özak in der Stadt Urfa. Die Textilarbeiterinnen und -arbeiter in der Region und unsere Gewerkschaft brauchen Solidarität von den Arbeitern und den Gewerkschaften aus Deutschland. Protestiert gegen Levi’s und Zara, die weiter zu miesen Arbeitsbedingungen bei Özak produzieren lassen. Das Recht auf freie Wahl einer Gewerkschaft und freie Betätigung für Gewerkschaften muss gewährleistet werden. Wir brauchen mehr Gewerkschaftsrechte. Aktuell brauchen wir Unterstützung gegen die Geldstrafe des türkischen Arbeitsministeriums.Interview: Mahir Sahin

Mehmet Türkmen ist Vorsitzender von Birtek-Sen. Kontakt: birlesiktekstilsendikasi@gmail.com

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