4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 22.04.2024, Seite 12 / Thema
Philosophiegeschichte

Stets vernünftig

Philosophie der Aufklärung. Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant geboren
Von Hermann Klenner
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Metaphysik der Sitten. Kant war der Auffassung, es sei falsch, Schlüsse über das, was getan werden solle, aus dem abzuleiten, was getan wird; nicht vom Empirischen, sondern vom Vernünftigen müsse man ausgehen. (Antifademo in Hamburg, 2.6.2012)

Der vorliegende, leicht redigierte Text erschien in Heft 3/2024 der Mitteilungen der Kommunistischen Plattform innerhalb der Partei Die Linke. Wir danken Autor und Herausgeber für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Vor dreihundert Jahren wurde im damals in Preußen liegenden Königsberg (dem seit 1946 zu Russland gehörenden Kaliningrad mit seiner seit Juli 2005 nach dem jetzigen Jubilar benannten Immanuel-Kant-Universität) einer der bedeutendsten Philosophen nicht nur Deutschlands geboren. Mit Fichte, Hegel und Feuerbach leitete Kant den Denkweg ein, der schließlich zu Karl Marx führte. Ohne diesen Vorausgang wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus nie zustande gekommen, war die Meinung von Friedrich Engels, der auch Lenin – der übrigens Kants Werke mit in die Verbannung nahm – zustimmte.¹

Kein Freund der Kirche

Zunächst zu seinem Leben: Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 als viertes von neun Kindern des Handwerkmeisters Johann Georg Kant und dessen Ehefrau Anna Regina Kant geboren. Von 1730 bis 1732 besuchte er eine Hospitalschule, danach bis 1740 das pietistische Kollegium Fridericianum. Hier begeisterte er sich für antike Autoren und begann seine Abneigungen gegen religiösen Zwang, Pietismus und Kirchgängerei, die er sein ganzes Leben lang beibehalten sollte. Seine Mutter wie sein Vater erhielten nach ihrem Ableben 1737 bzw. 1746 ein Armenbegräbnis. Kant verdiente seinen Unterhalt durch Privatstunden. 1740 begann er ein Universitätsstudium in Königsberg, verließ aber die Universität ohne Examina. Als erste und einzige zu seinen Lebzeiten erschienene Originalausgabe publizierte er 1746 »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker (…) bedienet haben«.

Bis 1755 arbeitete Kant in der Umgegend Königsbergs als Hauslehrer (Hofmeister) bei drei verschiedenen Familien: der eines Predigers, der eines Gutsbesitzers und der eines Grafen. Nach seiner Promotion und Habilitation unterrichtete er für die nächsten fünfzehn Jahre als Privatdozent für Philosophie an der Universität von Königsberg und begann eine an Themen und Stundenzahl umfangreiche Vorlesungstätigkeit über Logik, Metaphysik, Theologie, Mathematik, Physik, Geographie, Anthropologie, Pädagogik, Religions-, Geschichts-, Moral- und Rechtsphilosophie. Durch eine harte Disziplin – tagtäglich von vor fünf Uhr früh bis 22 Uhr – verlangte der nur 1,57 Meter große Kant seinem schwächlichen Körper eine außergewöhnliche Arbeitslast ab. Seine Bewerbungen für freigewordene Professuren wurden 1756 und 1758 von Preußens König bzw. Russlands Zarin abgelehnt. In seinem 42. Lebensjahr erhielt der »berühmt gewordene Magister Kant« auf seine Bewerbung hin die mit 62 Talern Jahresgehalt dotierte Stelle eines Unterbibliothekars an der Königlichen Schlossbibliothek.

In seinem 47. Lebensjahr wurde Kant endlich an der Universität Königsberg »Ordentlicher Professor für Metaphysik und Logik« mit einem Jahresgehalt von 236 Talern, 76 Groschen und 12 Pfennigen. Er kaufte ein eigenes Haus in Königsberg, damals eine Stadt von 6.000 Häusern. Dort lebte er fortan mit einer kleinen Bibliothek von 500 Bänden, bescheiden möbliert – als einziger Bildschmuck hing in seinem Arbeitszimmer ein ihm geschenktes Porträt Rousseaus –, und lehrte. 1786 und 1788 amtierte er als Rektor der Universität. Später wurde er zum Mitglied der Berliner, schließlich auch Ehrenmitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften berufen. Auf persönliches Betreiben des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. wurde der 70jährige Kant durch eine spezielle Kabinettsorder verwarnt, da er durch seine veröffentlichte Schrift über »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« gegen »Unsere landesväterlichen Absichten« gehandelt habe.

Kant beendete 1796 seine mehr als vierzig Jahre währende Vorlesungszeit an der Universität, während der er 54mal Logik, 49mal Metaphysik, 28mal Moralphilosophie, einmal Natürliche Theologie, elfmal Enzyklopädie, viermal Pädagogik, 24mal Anthropologie, 46mal Physische Geographie, 20mal Theoretische Physik, 16mal Mathematik, zweimal Mechanische Wissenschaften, einmal Mineralogie und zwölfmal (vor wenig mehr als je 20 Hörern!) auch Naturrecht vorgetragen hat.

Im 75. Lebensjahr, »obgleich bei noch nicht völlig eingetretener Hinfälligkeit« – so des Philosophen eigene Worte –, veröffentlichte er nach einer Auseinandersetzung mit den Zensurbehörden im Herbst 1798 »Der Streit der Fakultäten«. In dieser Publikation vereinigte er drei zu verschiedener Zeit und in verschiedener Absicht geschriebene Abhandlungen zu einem Ganzen, und von ihr waren noch 35 Jahre danach mehr als tausend Exemplare nicht verkauft worden. Auch in dieser Abhandlung bekennt Kant sich zur Französischen Revolution, die »in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung dem Wunsche nach finde, die nahe an Enthusiasmus grenzt«.²

Um 1800 klagte Kant über seine allmählich auftretende Hinfälligkeit: »Meine Gesundheit ist nicht die eines Studierenden, sondern Vegetierenden.« 1802 unterzeichnete er dann einen von fremder Hand geschriebenen Brief, in dem es heißt: »Mein Kräfte schwinden, und ob ich gleich keine eigentliche Krankheit jemals gehabt habe und auch jetzt keine befürchte, so bin ich doch bis jetzt seit zwei Jahren nicht aus meinem Haus gewesen.« 1803 im Oktober ereilte ihn ein Schlaganfall. Im Dezember leistete er als »letzten Federstrich« seine Unterschrift unter eine Generalvollmacht für seinen Vertrauten Ehregott Wasianski. In der Todesanzeige von 1804 hieß es: »Am 12. Februar, mittags um elf Uhr erfolgte das Absterben des Herrn Professor Immanuel Kant in einem Alter von 79 Jahren und zehn Monaten.« Seinem Sarg folgte am 28. Februar um 14 Uhr unter dem Geläute aller Glocken der ganzen Stadt Königsberg eine unabsehbare Menschenmenge, gemäß des Verblichenen Intention: »ohne irgend eine Rangbeobachtung«.

»Eines endlosen Irrtums Ende«

Kant hinterließ ein vielbändiges und vielseitiges Werk, dessen Kommentierungen ganze Bibliotheken füllen und von niemandem mehr vollständig erfasst, geschweige denn verarbeitet werden können. Bereits bei seinem Tod betrug die Sekundärliteratur zu seiner Philosophie mehr als zweitausend Bände. Er gehört auch in der Gegenwart zu den meistzitierten Autoren der Weltphilosophie.

Kants fundamentalstes Werk ist die von ihm 1781 gegen ein Bogenhonorar von vier Talern in Riga veröffentlichte »Critik der reinen Vernunft«, mit der er nach eigener Einschätzung eine »Revolution der Denkart« einleitete und der Philosophie den »Rang von Wissenschaft« eroberte. In der Vorrede beansprucht er Francis Bacons Einschätzung für sich: keine bloße Meinung zu bieten, sondern »eines endlosen Irrtums Ende«³. Vierfaches Ziel dieses Werkes, heißt es in der Erstauflage, ist eine Kritik »des Vernunftvermögens überhaupt« hinsichtlich aller Erkenntnisse, zu denen die Vernunft »unabhängig von aller Erfahrung streben mag«; außerdem die Bestimmung der Grenzen reiner Vernunfterkenntnis; ferner die Erörterung der »Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt«; und schließlich die Begründung möglicher Erkenntnis a priori. Es gab und gibt immer nur eine kleine Minderheit von Professionellen, die diese Anforderungen Kants an seine »Critik der reinen Vernunft« – und damit diese selbst – verstehen. Schon damals kommentierte ein professoraler Amtskollege Kants, dass die »Critik der reinen Vernunft« aus lauter Hieroglyphen bestünde, und Moses Mendelssohn, ein guter Freund Kants, legte das »nervensaftverzehrende Werk« ungelesen beiseite. Überliefert ist aber auch eine Bemerkung Lichtenbergs, einer Autorität, die Kant zu würdigen wusste, dass andere meinen, »Herr Kant habe (deshalb) recht, weil sie ihn verstehen«.⁴

Politisch eindeutig ist jedenfalls Kants Anspruch, mit seiner Vernunftkritik zum »Zeitalter der Kritik« beizutragen, deren Ziel es sei, dass sich alles der Kritik unterwerfen müsse, auch Religion und Gesetzgebung, die sich beide gemeiniglich wegen ihrer heiligen bzw. ihrer staatlichen Herkunft der Kritik zu entziehen versuchen. Dass Kant mit seiner Vernunftkritik alle nur möglichen Gottesbeweise widerlegt hat, trug gewiss dazu bei, dass – wie Werke von Bacon, Galilei, Hobbes, Rousseau, Voltaire und Heinrich Heine (nicht hingegen Adolf Hitlers »Mein Kampf«!) – natürlich auch seine »Critik der reinen Vernunft« (seit 1827) auf dem Index der von Roms Kirche verbotenen Bücher landete.

Kant war auch ein politischer Denker. Nach heutigen Begriffen ist seine »Rechtslehre der reinen Vernunft«, wie er sie nannte, »links« einzuordnen. Bereits in seiner »Critik der reinen Vernunft« zielte er auf eine »Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann«. Der sogar in der neueren Zeit vorgebrachten Infamie, Kants politische Theorie sei auf den Staat Friedrichs II., des sogenannten Großen, zugeschnitten, und die preußisch-deutschen Zustände seien das Modell für sein politisches Denken gewesen, widersprechen auf das Fundamentalste Kants eigenen Anforderungen: Verwerflich sei es, Gesetze über das, was getan werden solle, aus demjenigen abzuleiten, was getan wird; nicht vom Empirischen, sondern vom Vernünftigen müsse man ausgehen, denn eine empirische Rechtslehre sei ein Kopf ohne Gehirn.⁵ Auf Preußens Friedrich wie auf jedes anderen Staates sich aufgeklärt gebenden Absolutismus gemünzt, schreibt Kant in einer Nachlassbemerkung: »Der Fürst hält sein Volk wie das liebe Vieh, er schiert ihm die Wolle knapp ab, lässt sie nicht nach ihrem, sondern nach seinem Willen weiden (…) und lässt ihnen keinen Verstand als zum Gehorchen.«⁶

Kein Revolutionär

Der in Fortführung der Gedanken von Spinoza und Rousseau von Kant erhobene »Rechtsanspruch der Menschenvernunft auf Freiheit des Willens«⁷ musste mit den bestehenden deutschen Zuständen kollidieren, und Kant machte daraus keinen Hehl. Wo immer er auf feudalen Despotismus und feudalen Plunder zu sprechen kam⁸, attackierte er: den Adel, den er samt Fideikommiss und Majorat als »Anomalie«, als »temporäre Zunftgenossenschaft«, als überfällig also, markiert; die Leibeigenschaft, die er unverblümt als Verbrechen bezeichnet; die absolute Monarchie, denn nur die reine Republik sei eine rechtmäßige Verfassung; die Kriegs-, Rüstungs- und Eroberungspolitik (es gereicht ihm zur besonderen Ehre, gegen die Teilung Polens ebenso offen aufgetreten zu sein wie gegen die militärische Intervention in Frankreichs Revolution und den Söldnerverkauf an fremde Staaten); den Kolonialismus und den Sklavenhandel durch diejenigen, die von der »Frömmigkeit viel Werks machen und Unrecht wie Wasser trinken«; die »furchtbare Gewalt« des Klerus und die Kirche, die er vom Staat zu trennen vorschlägt und deren Güter enteignet zu werden verdienen.

Wohlgemerkt, es handelt sich bei diesen Attacken Kants nicht um Randbemerkungen oder Entgleisungen. Schließlich hat Kant selbst in unverwechselbarem Gleichlaut mit »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, jenen Losungen, unter denen das Volk von Paris die Bastillen des französischen Feudalismus stürmte, »Freiheit, Gleichheit und weltbürgerliche Einheit (Verbrüderung)« zu den dynamischen Kategorien jener Politik erklärt, die kraft Vernunft der Staatsverfassung zugrunde liegen.⁹ Kant hielt der Französischen Revolution, der er mit »Enthusiasmus«, »Zujauchzen«, »heißer Begierde« gedenkt, bis zu ihrem und seinem eignen Ende die Treue.

Freilich, auch das muss gesagt werden: Kant war – politisch (anders: erkenntnistheoretisch!) gesehen – kein Revolutionär. Den Übergang vom Staat seiner Zeit zum Staat seiner Vernunft wünschte er sich »nicht revolutionsmäßig, durch einen Sprung, d. i. durch gewaltsame Umstürzung«, sondern durch »allmähliche Reform nach festen Grundsätzen, in kontinuierlicher Annäherung«. So endet jedenfalls seine Rechtslehre.¹⁰ Auch schränkte Kant seinen Demokratiebegriff bis hart an die Grenze seiner Rücknahme ein, indem er – wie übrigens Frankreichs revolutionäre Nationalversammlung auch – Tagelöhnern, Handwerksgesellen, Bediensteten, Hauslehrern und Frauen kein Wahlrecht zubilligte. Die Mehrheit des Volkes war damit von dem Recht, »Bürger zu sein«, ausgeschlossen.¹¹

Kriegsgegner

Zwischen seinem 60. und seinem 75. Lebensjahr hat Kant sich zu keinem Problem häufiger geäußert als zu der Frage, wodurch das nach seiner Meinung größte Übel der Völker, der »kontinuierliche Krieg« zwischen ihnen, in einen »immerwährenden Frieden« überführt werden könne.¹² Schließlich sei der Friede das Meisterwerk der Vernunft. Zu diesem – damals wie erst recht heute! – Fundamentalproblem der Menschheit hat er sich in mindestens acht verschiedenen seiner Schriften geäußert¹³ sowie 1795 in einem in zunächst zweitausend Exemplaren verbreiteten selbständigen Traktat von 104 Seiten: »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf« (Reprint: Berlin 1985).¹⁴ Ausgelöst wurde Kants Friedensprojekt durch den im April 1795 abgeschlossenen Friedensvertrag zwischen der revolutionären Republik Frankreich und der konterrevolutionären Monarchie Preußen. Kant hatte zuvor schon gegen die Einmischung des Landes, dessen Bürger er war, in das Experiment der Französischen Revolution Stellung bezogen, an der er, wie er es selbst formulierte, »dem Wunsche nach, der nahe an Enthusiasmus grenzt«, wenigstens meinungsmäßig teilnahm.

Für Kant war die durch die Vernunft a priori gebotene friedliche Gemeinschaft aller Völker auf Erden kein bloß moralisches, sondern ein geschichtlich gebotenes Rechtsprinzip. Das kriegerische Morden der Menschen durch ihresgleichen hielt er weder für ein durch deren angeborene Triebausstattung bedingtes Verhaltensmuster noch für eine göttliche Mission zur Bestrafung sündiger Gemeinschaften, sondern charakteristisch nur für vorübergehende Phasen der Menschheitsentwicklung, und zwar während ihrer barbarischen Zeiten. Von Natur aus seien die Völker zu einer fortschreitenden Koalition in einer weltbürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Nicht auf den Edelsinn der Völker setzte Kant, sondern auf deren Einsicht in ihren Eigennutz.

Sodann hat Kant die Kriegsentstehung wie die Kriegführung aus den Interessen der Obrigkeiten erklärt, womit er das Interesse am Frieden dem Volk zuordnete. Mit der Staatenpflicht zum Frieden korrespondiert bei ihm das Menschenrecht auf Frieden. Daraus lässt sich ein pazifistischer Imperativ erschließen: Jeder Staat solle in seinem Inneren so organisiert sein, dass nicht die Staatsoberhäupter, sondern das Volk die entscheidende Stimme hat, ob Krieg sein solle oder nicht.

Damit hat Kant, neben dem Wechselverhältnis zwischen inner- und zwischenstaatlicher Gewaltherrschaft, eben auch das Wechselverhältnis zwischen inner- und zwischenstaatlicher Freiheitsverwirklichung thematisiert. Seine Idee einer mit dem natürlichen Recht jedes Menschen übereinstimmenden Verfassung, dass nämlich die dem Gesetz Gehorchenden zugleich die das Gesetz Gebenden sein sollen, sei die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und für den ewigen Frieden.

Und schließlich zeigt sich in der Option Kants für eine »Föderation nach einem gemeinschaftlichen Völkerrecht«, dass er seinen allseits bekannten kategorischen Imperativ »Handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden«¹⁵ vom Gegenstandsbereich des zwischenmenschlichen auf den der zwischenstaatlichen Beziehungen transferiert hat, eine Übertragung, die wenig beachtet, wenn überhaupt bisher erkannt worden ist.

Im Einklang mit dem Völkerrecht

Und, um auch das noch zu sagen: Diese auf die Gemeinsamkeit der Völker und ihrer Interessen orientierende Konzeption Kants steht im Einklang mit dem Völkerrecht der Gegenwart; sie steht aber in vollständigem Gegensatz zu dem seit Beendigung des Zweiten Weltkriegs als berechtigt ausgegebenen Dominanzanspruch der USA gegenüber dem Rest der Welt, ebenso wie zur Bereitwilligkeit der EU und der NATO, sich diesem Anspruch unterzuordnen. Die gegenwärtige BRD-Regierung verwendet ihre ökonomischen, militärischen, ­diplomatischen und ideologischen Mittel nicht, um gezielt zur Friedensherstellung in völkerrechtswidrig sowohl begonnenen wie geführten Kriegen anderer Staaten beizutragen. Durch Geldüberweisungen und Waffenlieferungen beteiligt sie sich – zwar nicht unter juristischen Gesichtspunkten, wohl aber unter soziologischen – an diesen Kriegen.

Eine hilfreiche Kant-Lektüre bei der Analyse des gegenwärtigen Weltkriegsgeschehens in Osteuropa und Palästina wird freilich niemand von den uns beherrschenden Politikern erwarten. Auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz auf Einladung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 22. April dieses Jahres den Immanuel Kant gewidmeten Jubiläumsvortrag halten wird, wäre es illusionär anzunehmen, dass er dabei die ideologische, finanzielle und militärische Kriegsbeteiligung der BRD als der Gedankenwelt Kants widersprechend be- und verurteilen wird. Als jedenfalls der promovierte Jurist Scholz im Oktober 2022 mit dem an der privaten Harvard-Universität lehrenden US-amerikanischen Philosophieprofessor Michael Sandel über das »Gemeinwohl« diskutierte, blieben die aktuellen Kriege samt deren Gründe und Hintergründe ebenso ausgespart wie das Gegenwartsverhältnis von Privateigentums- wie Kriegsinteressen und die menschenrechtswidrige Funktion des ­Chauvinismus.

Anmerkungen:

1 Marx/Engels: Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 541; Lenin: Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 381; Register zu Lenins Werken, Bd II, Berlin 1964, S. 245; N. K. Krupskaja: Erinnerungen an Lenin, Berlin 1960, S. 44

2 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1988, S. 391

3 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Stuttgart 1992, S. 7; Francis Bacon: Neues Organon, hg. v. Wolfgang Krohn, Hamburg 1990, S. 10

4 Georg Christoph Lichtenberg: Werke, Berlin 1975, S. 132

5 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1966, S. 34

6 Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 19, Berlin 1971, S. 514

7 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Karl Vorländer, Leipzig 1947, S. 87

8 Belege in: Hermann Klenner: »Zur Rechtslehre der reinen Vernunft«. In: Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, hg. v. M. Buhr/T. I. Oiserman, Berlin 1976, S. 162–177

9 Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 23, Berlin 1969, S. 139 u. 143

10 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, ­Berlin 1988, S. 172

11 Ebd., S. 128 f.; Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1912, S. 295

12 Ebd., S. 120 f.

13 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 160–173, 279–338, 474–480, 508–516. Vgl. Volker Gerhardt: Immanuel Kants »Entwurf zum ewigen Frieden«, Darmstadt 1995; Hermann Klenner: Kants »Entwurf zum ewigen Frieden – Illusion oder Utopie«. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 82 (1996), S. 151–160; Klenner: »Pax Kantiana versus Pax Americana«. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 69 (2004), S. 43–54

14 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796–1800, Leipzig 1984

15 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988, S. 283, 327 u. 418

Hermann Klenner ist Jurist und Rechtsphilosoph. Er war lange Zeit am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig. Von ihm erschien an dieser Stelle zuletzt eine Reflexion über den Begriff »autoritäre Regime«.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. April 2024 um 10:38 Uhr)
    Kant: Das Bewusstsein seiner Existenz. Immanuel Kant, der den Weg der Aufklärung maßgeblich mit seiner Philosophie beeinflusste, bleibt auch heute ein faszinierender Denker, dessen Erkenntnisse von bleibender Bedeutung sind. Er hinterfragte den Anspruch der traditionellen Metaphysik und formulierte den »kategorischen Imperativ« als moralisches Prinzip. Kants Ideen haben in Bezug auf Vernunft, Ethik und Politik eine bemerkenswerte Relevanz für die moderne Welt. Sein Werk, insbesondere die »Kritik der reinen Vernunft«, revolutionierte das philosophische Denken seiner Zeit und ebnete neue Wege für die Philosophie als Wissenschaft. Kant betonte die Bedeutung der Vernunft und forderte eine kritische Überprüfung aller Erkenntnisse, unabhängig von Erfahrung. Seine Kritik der Gottesbeweise und seine Betonung der Autonomie des individuellen Denkens bilden auch heute noch die Grundlage für philosophische Diskussionen über Religion und Rationalität. Darüber hinaus war Kant ein überzeugter Verfechter des Friedens und der Freiheit. Sein Werk »Zum ewigen Frieden« ist ein eindringlicher Appell zur Schaffung einer weltweiten friedlichen Ordnung. Kant erkannte die Bedeutung internationaler Kooperation und setzte sich für ein Völkerrecht ein, das auf gegenseitigem Respekt und dem Prinzip der Freiheit basiert. In einer Zeit, in der Konflikte und Unruhen die Welt beherrschen, sind Kants Ideen zur Förderung des Friedens und zur Sicherung der Freiheit von großer Bedeutung. Seine philosophischen Erkenntnisse dienen weiterhin als Leitfaden für die Suche nach moralischer Orientierung und politischer Stabilität in einer sich ständig verändernden Welt. Kants Erbe ist nicht nur in seiner Heimatstadt Königsberg oder in den Hallen der Universitäten präsent, sondern auch in den Herzen und Köpfen derjenigen, die nach Gewissheit, Vernunft und einer besseren Welt streben. Sein Vermächtnis lebt fort, und seine Ideen werden auch weiterhin die Philosophie und das menschliche Denken inspirieren.

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