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Aus: Ausgabe vom 16.04.2024, Seite 2 / Inland
Obdachlosigkeit im Winter

»Die Kältehilfe ist eine reine Notversorgung«

Die Berliner Kältehilfe bot auch in diesem Winter Obdachlosen eine vorübergehende Unterkunft. Ein Gespräch mit Jens Aldag
Interview: Kristian Stemmler
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Vor Witterung kaum geschützt: Zelte von obdachlosen Menschen in Berlin unter der U-Bahn-Brücke nahe der Station Eberswalder Straße (16.12.2023)

Der Winter ist vorbei. Die Berliner Kältehilfe sorgte wieder dafür, dass obdachlose Menschen nicht auf der Straße übernachten mussten. Wie ist Ihre Bilanz für die Kältehilfe-Saison 2023/24? Wie war die Auslastung der Notunterkünfte?

Wir hatten einen relativ milden Winter und sind schließlich mit fast 1.200 Übernachtungsplätzen und einer Auslastung von knapp 90 Prozent relativ gut durch die Kältehilfe-Periode gekommen. Ende November war die Lage aber problematisch, da wir noch nicht alle Angebote am Start hatten und die Auslastung bei 97 Prozent lag. Die Situation konnte aber durch die Öffnung zweier weiterer Notübernachtungen entspannt werden.

Auch jetzt kann es auf der Straße noch recht kalt sein, vor allem nachts. Gibt es noch Angebote der Kältehilfe im April?

Im April haben wir glücklicherweise weiterhin eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Plätzen. Aktuell verfügen wir noch immer über 1.108 Plätze, die sich Mitte April auf 960 Plätze reduzieren.

Sie haben vor einigen Tagen darauf hingewiesen, dass sich in Berlin immer weniger geeignete Immobilien für Notunterkünfte finden. Wie dramatisch ist die Lage und woran liegt es konkret, dass die Suche so schwierig ist?

In der Kältehilfe sind wir seit Jahren auch auf Immobilien angewiesen, die im Rahmen von Zwischennutzungen nur für eine begrenzte Zahl an Jahren genutzt werden können. Oft sind es Leerstandsimmobilien, für die eine umfassende Sanierung oder auch der Abriss geplant sind. Diese Zwischennutzungen sind effektiv, weil sie sinnlosen Leerstand vermeiden. Aber hierdurch fallen immer wieder Objekte weg, die durch neue ersetzt werden müssen. Aufgrund der generell schwierigen Immobiliensituation und der Tatsache, dass die Kältehilfe nur eine temporäre Nutzung über sieben Monate im Jahr abdeckt, wird es Jahr für Jahr schwieriger, geeignete Immobilien zu finden. Wir freuen uns, wenn sich Immobilienbesitzer oder Privatanbieter an uns wenden, sobald sie sanierungsbedingt über freistehende Immobilien verfügen.

Kritisiert wird auch, dass die sogenannte Gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung, GStU, nicht funktioniere. Sehen Sie das auch so?

Die GStU hat mit den Immobilien der Kältehilfe nichts zu tun. Wir würden es sehr begrüßen, wenn es gelänge, mehr Menschen, die die Notunterkünfte der Kältehilfe nutzen, ordnungsrechtlich unterzubringen. Das würde die Kältehilfe entlasten und böte den Betroffenen eine sicherere Unterbringung, die sie rund um die Uhr nutzen könnten.

Die »Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin« fordert mehr reguläre Plätze sowie die Schaffung dauerhafter 24/7-Einrichtungen. Schließen Sie sich dieser Forderung an?

Die Kältehilfe ist eine reine Notversorgung. Um den Menschen dauerhaft helfen zu können und einen Ausweg aus der Obdachlosigkeit zu ebnen, bedarf es ganzjähriger Angebote mit qualifiziertem Personal. Die 24/7-Einrichtungen sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Insbesondere für langjährig Obdachlose, die ein großes Gepäck an zahlreichen Problemen mit sich tragen, bedarf es intensiver Begleitung und Unterstützung.

Die Zahl der obdachlosen Menschen in Berlin ist zuletzt offenbar weiter gestiegen. Von welcher Zahl muss man ausgehen? Und ist das Ziel des Senats, Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Stadt bis 2030 zu überwinden, nicht sehr ambitioniert?

Wir vermeiden Schätzungen, gehen aber aufgrund der informellen Rückmeldungen der Tagesangebote ebenfalls von einer gestiegenen Zahl an Obdachlosen aus. Auf jeden Fall ist Obdachlosigkeit extrem sichtbar geworden. Das Ziel des Senats, das so auch von der EU und dem Bund formuliert wird, ist zweifellos sehr ambitioniert. Aber sich dieses ambitionierte Ziel zu setzen, ist auch wichtig und gut. Obdachlosigkeit ist die extremste Form der Armut und Ausgrenzung. Daher ist diese Willensbekundung wichtig. Wichtiger ist aber die gemeinsame große Kraftanstrengung aller Beteiligten und Verantwortlichen. Wir würden uns freuen, wenn 2030 keine Kältehilfe mehr erforderlich wäre, weil die Menschen besser und menschenwürdiger versorgt sind.

Jens Aldag ist Leiter der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe

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