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Aus: Ausgabe vom 03.04.2024, Seite 4 / Inland
Erinnerungspolitik

Nicht mehr zumutbar

Geschichtspolitik nach sächsischer Art: Vertretung der Opfer der faschistischen Militärjustiz beendet Zusammenarbeit mit Gedenkstättenstiftung
Von Nico Popp
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Der 2018 verstorbene Ludwig Baumann mit dem 1942 gegen ihn verhängten Todesurteil (7.3.2007)

Die 1990 von dem Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann und einigen Mitstreitern gegründete Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz ist aus dem Beirat der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ausgetreten. Das teilte die Vereinigung, die in dem Beirat mitarbeitete, weil das sächsische Torgau bis 1945 das Zentrum der faschistischen Militärjustiz war, am Dienstag mit.

Die Zusammenarbeit sei von Anfang an von Konflikten geprägt gewesen, heißt es zusammenfassend in der Mitteilung, in der vor allem auf die langjährigen Auseinandersetzungen um die Gedenkstätten in Torgau verwiesen wird. Die dortige (inzwischen teilweise überarbeitete) Dauerausstellung habe absprachewidrig keinen Schwerpunkt auf die Verfolgung der über 20.000 Opfer der Militärjustiz gelegt, sondern sei in drei gleichgroße, »ineinander übergehende« Bereiche aufgeteilt worden. »Die lapidare Begründung hierfür war, dass es in Torgau drei Verfolgungsperioden gegeben habe: die Zeit der NS-Militärjustiz bis 1945 und die sowjetischen Speziallager bis 1949 sowie den anschließenden DDR-Strafvollzug.« Dabei handele es sich um »eine Nivellierung unterschiedlicher Formen von Unrecht«.

Das Problem sei in der Gedenkanlage vor dem ehemaligen Militärgefängnis Fort Zinna wieder aufgetreten. Das zuständige Dokumentations- und Informationszentrum Torgau habe sich geweigert, auf den Tafeln deutlich zu machen, dass unter den nach 1945 Inhaftierten auch Personen waren, »die vor 1945 auf unterschiedliche Weise Kriegsdienstverweigerer und Deserteure verfolgt und geschunden hatten«. Auch diese Anlage sei so konzipiert, »dass die beiden Erinnerungsschwerpunkte ineinander übergehen und das Erinnern und Gedenken an sie damit konzeptionell verbunden ist«. Das sei für die Opfer der Militärjustiz »unzumutbar«.

Um die Arbeit der 1994 gegründeten Stiftung Sächsische Gedenkstätten gibt es seit Jahrzehnten Kontroversen. Richtschnur der sächsischen Gedenkstättenpolitik ist eine an der Totalitarismustheorie orientierte, mehr oder weniger subtile Gleichsetzung von Naziregime und DDR, von »Nationalsozialismus« und »Realsozialismus« bzw. den »zwei deutschen Diktaturen« von »1933 bis 1989«. Wobei man sich in Sachsen lange vor allem an der DDR abarbeitete: 2004 etwa setzte neben anderen Organisationen auch der Zentralrat der Juden die Zusammenarbeit mit der Stiftung mit Verweis auf diesen Umstand aus.

Wer sich das verantwortliche Personal ansah, den konnte diese Fokussierung kaum überraschen. In Sachsen hatten im Zuge der langen Alleinherrschaft der CDU Akteure das Kommando in der Geschichts- und Gedenkstättenpolitik übernommen, die andernorts auf das Feld der »Aufarbeitung der SED-Diktatur« beschränkt blieben: rechte und liberale Antikommunisten – oft ehemalige »Bürgerrechtler« –, die nun auch für die Tatorte der faschistischen Diktatur zuständig waren.

Dadurch ergab sich zwangsläufig eine latente Konfrontation mit Organisationen und Opferverbänden, die mit einer den Faschismus relativierenden Gleichsetzung der Naziverbrechen mit dem »DDR-Unrecht« wenig oder gar nichts anfangen konnten. 2003/04 eskalierte die Auseinandersetzung um das auf Gleichsetzung der »Diktaturen« abgestellte Gedenkstättenstiftungsgesetz. Eine Beruhigung trat erst ein, als die Landesregierung zusagte, das Gesetz zu überarbeiten, was 2012 geschah. Die Vereinigung der Opfer der Militärjustiz resümierte am Dienstag dennoch, dass »weder über die grundsätzliche Bewertung der NS-Militärjustiz« noch »über das Täterverständnis der Stiftung, wie es weiterhin vor Fort Zinna zum Ausdruck kommt«, eine Einigung habe erzielt werden können – und zwar »mangels Gesprächsbereitschaft« der Stiftung.

Die Bundesvereinigung sieht darin »eine fortgesetzte Geringschätzung der Verfolgungsgeschichte der von ihr vertretenen Opfer«. »Während Bestrebungen zur Erlangung von ›Kriegstüchtigkeit‹ immer stärker« würden, »gibt es für die Verweigerer von Hitlers Vernichtungskrieg am zentralen Ort ihrer Verfolgung immer noch keine angemessene Darstellung dieses Verbrechens«. Und das sei »nicht hinnehmbar«. Bislang liege keine Reaktion der Stiftung auf die vor drei Wochen übermittelte Austrittserklärung vor, sagte Günter Knebel, Vereinsvorstand der Bundesvereinigung, am Dienstag gegenüber jW.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (3. April 2024 um 03:07 Uhr)
    »Die lapidare Begründung hierfür war, dass es in Torgau drei Verfolgungsperioden gegeben habe: die Zeit der NS-Militärjustiz bis 1945 und die sowjetischen Speziallager bis 1949 sowie den anschließenden DDR-Strafvollzug.« Auf diese Weise werden nicht nur Dinge gleichgesetzt, die man nicht gleichsetzen darf. Bereits auf den ersten Blick, und darauf kommt es wie bei den Schlagzeilen der Zeitungen an, erfährt der Betrachter der Ausstellung, dass nur ein Drittel der Schuld beim NS-Staat lag, aber zwei Drittel bei den Kommunisten. Und im übrigen (aber das darf man vorerst nicht so laut sagen) gelten Deserteure in jedem Land als Verräter. Die Hinrichtungen in Torgau waren also gerechtfertigt. Siehe die Äußerungen Filbingers: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Verbleibt also Schuld nur bei den übrigen zwei Dritteln, denn der NS-Staat handelte laut Filbinger und Konsorten formaljuristisch korrekt. Und da es die DDR nicht mehr gibt, können wir uns in Ruhe am allein (!) übrig gebliebenen Schuldigen für solche Gefängnisse und Lager abarbeiten, an der UdSSR bzw. Russland. Eine ähnliche Umfunktionierung gibt es im Museum der Kapitulation in Berlin-Karlshorst. Da wurde nicht etwa unter unendlichen Opfern von der UdSSR und bei einem Bruchteil der Opfer der Westalliierten eine faschistische Bestie niedergerungen, worüber wir uns auch jetzt noch ungeteilt freuen sollten. Nein, es kämpften zwei Diktaturen, zwei Bestien gegeneinander. Komisch, die demokratischen Westalliierten, die mit der zweiten »Bestie« verbündet waren, werden dann vom Festredner in diesem Augenblick mit keinem Wort erwähnt, obwohl sie ja angeblich die Sieger waren und sie es waren, die Deutschland befreiten. In einer Rede zum 8. Mai 2023 in Karlshorst fielen die Termini USA oder GB nicht ein einziges Mal, weil dies in dem Moment die Argumentation störte. Den gesamten Redetext über, ging es ausschließlich um Gleichsetzung UdSSR–Nazideutschland. Und warum das alles?
    Die zweite Bestie (Diktatur), also Russland gibt es leider immer noch und muss nun niedergerungen werden, bevor wir wirklich aufatmen können. Ich wende mich entschieden dagegen, es automatisch als Unrecht zu bezeichnen, wenn jemand in einem Gefängnis oder Lager der sowjetischen Besatzungszone saß. Zwar saßen dort auch Insassen wegen Bagatelldelikten oder Unschuldige, wie überall zu Stalins Zeiten, aber doch nicht nur. Wohin waren denn die NS Täter in der SBZ auf einmal verschwunden? Täter waren doch nicht nur Hitler oder Goebbels. Nicht alle gingen nach Westdeutschland rüber. In der SBZ bekam eben nicht fast jeder einen »Persilschein« wie im Westen. Wir wissen doch, wie es dann selbst beim Auschwitzprozess lief. Der Fehler war nicht, dass es in der SBZ Gefängnisse und Lager für diesen Personenkreis gab, sondern dass dies bei den Westalliierten entweder gar nicht oder in weit geringerem Ausmaß der Fall war. Da wurden die Reststrafen großzügig erlassen, nachdem das Strafmaß ohnehin zu gering gewesen war oder meist Freisprüche durch die ehemaligen Nazirichter erfolgten. Wer sagte das, Napoleon? »Geschichte ist die Summe der Lügen, auf die man sich geeinigt hat«. Das trifft auch auf Gefängnisse und Lager in der SBZ zu. Wenn die von Russen geleitet wurden, konnte es sich ja nur um Unrecht handeln im Gegensatz zur Weißwaschung der Täter im Westen.
  • Leserbrief von Ronald Prang aus Berlin (2. April 2024 um 21:30 Uhr)
    Wer wundert sich noch darüber, wie heute mit der deutschen Geschichte umgegangen wird? Wenn sich man heute mit der Vergangenheit beschäftigt, gewinnt man den Eindruck, das einzige Verbrechen der deutschen Faschisten war die Shoa/Holocaust. Rassismus wird auf den Antisemitismus reduziert, die Verbrechen an Sinti und Roma werden kaum erwähnt. Selbst das von den Betroffenen in mehreren Jahrzehnten erkämpfte Denkmal steht heute wieder zur Disposition. Die Kriegsverbrechen in Osteuropa, die Verfolgung von Kommunisten in ganz Europa, die Euthanasie in Deutschland, all das wird kaum noch erwähnt. Deutsche Politiker schrecken auf internationalen Veranstaltungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht einmal davor zurück zu verschweigen, dass die Sowjetunion an der Befreiung Europas vom Faschismus beteiligt war. Bis in die 1970ziger wurden selbst die Widerständler um Stauffenberg noch als Verräter verunglimpft. Man schreckte nicht davor zurück, die KPD in der BRD zu verbieten, soweit mir bekannt, wurde dieses Verbot nie aufgehoben. Die KZ-Wächter wurden in der BRD mit höheren Renten »beschenkt« als die überlebenden Insassen. Opfer des deutschen Faschismus in Griechenland und Italien kämpfen heute noch um ihre Anerkennung. Die Verfolgung von Antifaschisten und AfD-Gegnern durch die deutsche Polizei ist heute wieder an der Tagesordnung. Dass Antifaschisten und Demokraten die ersten Opfer der NS-Herrschaft in Deutschland waren, wird kaum noch erwähnt. Dass die Meisten von ihnen Kommunisten waren, wird gänzlich verschwiegen. Der Antikommunismus hat in Deutschland mehr als 100 Jahre Tradition und lebt unbeschadet weiter. Wenn man sich von 1933 bis 45 im Widerstand gegen Hitler befand, steht auch heute wieder unter Kommunismusverdacht. Wer, zur gleichen Zeit, von der Ausbeutung der Zwangsarbeit profitierte, steht wieder an der Spitze der Gesellschaft und muss sich nicht entschuldigen, ein kleiner Betrag an die Opfer wäscht sie weiß. Aber wer vor dem Krieg desertierte, genießt keine Anerkennung.

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