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Aus: Ausgabe vom 02.04.2024, Seite 8 / Inland
Union und AfD

»Ich fand das Bild von der ›Brandmauer‹ immer falsch«

Sachsen: CDU stimmt im Dresdner Stadtrat für AfD-Antrag zur Bezahlkarte für Geflüchtete. Ein Gespräch mit Jens Matthis
Interview: Steve Hollasky, Dresden
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Schikanen gegen Asylsuchende: In Dresden soll es bald eine »Bezahlkarte« geben

Im Dresdner Stadtrat haben FDP, CDU und Freie Wähler für einen Antrag der AfD zur Einführung einer »Bezahlkarte« für Geflüchtete gestimmt. Was würde deren Einführung bedeuten?

Betrachtet man es durch die rosarote Brille, stellt eine Bezahlkarte einen Fortschritt dar: Ein Verwaltungsvorgang wird digitalisiert, für die Behörden wird der Aufwand reduziert, und auch die Leistungsempfänger müssen nicht wie Anno dazumal aufs Amt, um sich Bargeld abzuholen, sondern können das an jedem Geldautomaten tun oder eben wie jeder von uns gleich im Geschäft mit Karte bezahlen. Setzt man die rosarote Brille ab, weiß man, dass es bei der Planung einer bundesweiten Bezahlkarte und erst recht beim AfD-Vorstoß in Dresden nicht um Digitalisierung geht, sondern um Schikanen gegen Asylsuchende.

Aber im Grunde genommen können Geflüchtete sich weiterhin versorgen, oder?

Die Möglichkeit, Bargeld abzuheben, soll auf eine geringe Menge pro Monat reduziert werden, zugleich kann man über eine solche Karte auch Einschränkungen dafür festlegen, wo die Karte genutzt werden kann und für welche Ausgaben. Man kann das Geld auch nicht überweisen. Neben den bewussten Schikanen und Kontrollen gegenüber den Karteninhabern ergeben sich Einschränkungen möglicherweise auch daraus, dass man aus Kostengründen auf technische Systeme zurückgreift, die vielleicht nur bei ausgewählten Anbietern laufen. Im schlimmsten Fall ist es die digital verbrämte Rückkehr zum Sachleistungsprinzip. Es dürfte für Asylsuchender dann fast unmöglich werden, kostengünstig auf Wochen- und Flohmärkten, in Secondhandläden oder von Privatleuten zu kaufen, die gebrauchte Möbel für Schnäppchenpreise abgeben. Aber wer wenig hat, ist auf solche Möglichkeiten angewiesen.

Das Ganze wird besonders absurd dadurch, dass die bundesweite Bezahlkarte für 2025 ohnehin avisiert ist. Auf AfD-Wunsch soll Dresden jetzt viel Geld in die Entwicklung einer eigenen Karte stecken, die, wenn sie nach Konzipierung, Ausschreibung und Herstellung frühestens irgendwann Ende 2024 zur Verfügung steht, nach sehr kurzer Zeit durch die bundesweite Karte abgelöst wird. Es ist also die perfekte Symbiose aus Menschenfeindlichkeit und Schildbürgerei.

Freie Wähler, FDP und CDU stimmen für einen Antrag der AfD: Da scheint die oft beschworene »Brandmauer« gehörig löchrig. Sind die Abgrenzungsschwüre der CDU ernst zu nehmen?

Ich fand das Bild von der »Brandmauer« immer falsch. Eine solche soll im seltenen Brandfall vor einem Übergreifen der Flammen schützen. Von seltenen Fällen kann keine Rede sein. Die Dresdner CDU kalkuliert bei ihren polarisierenden Anträgen meist mit der Zustimmung der AfD. Hin und wieder hat sie auch in der Vergangenheit schon AfD-Änderungsanträgen zugestimmt. Die neue Qualität bestand darin, im Stadtratsplenum diesem völlig unsinnigen AfD-Antrag zuzustimmen, den sie im Ausschuss noch abgelehnt hat. In der Dresdner CDU hat ja nie jemand ernsthaft Abgrenzungsschwüre geleistet. Vielleicht medial bedeutsame Erklärungen aus der Berliner Parteizentrale sind vor Ort ohnehin nicht handlungsleitend. Das gleiche gilt übrigens für die FDP.

Angenommen, die Anträge der AfD passieren künftig häufiger den Stadtrat. Wie würde das die sächsische Landeshauptstadt verändern?

Die AfD im Dresdner Stadtrat macht eine konsequent neoliberale Politik. Das hiesige politische Personal der Partei ist entweder nicht willens oder nicht in der Lage, dies durch den auf anderen Ebenen betriebenen Sozialpopulismus zu kaschieren. Es ist nahezu Milton Friedman pur. Insofern ist bei einem wachsenden Einfluss der AfD praktisch jede soziale Leistung in Dresden in Gefahr, vom Dresden-Pass und dem Sozialticket über die Förderung der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zu allen, ohnehin viel zu schwachen Maßnahmen, Wohnen für alle bezahlbar zu machen.

Jens Matthis (Die Linke) ist Stadtvorsitzender und Mitglied des Stadtrats in Dresden

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  • Leserbrief von Bodo Müller aus Ludwigsburg (3. April 2024 um 13:01 Uhr)
    Leider zu kurz gedacht. Die Bezahlkarte für Flüchtlinge ist nur der Einstieg in den digitalen Euro! Hier wird die Akzeptanz in der Bevölkerung getestet. Das geht bei Flüchtlingen/Migranten besonders einfach, weil die Widerstände in der Bevölkerung hier besonders hoch sind. Vor allem durch die selbstherrliche Entscheidung zur Grenzöffnung in 2015 unter bewusster Negierung der damit verbundenen Probleme. Die nächste Stufe ist schon im Gespräch: Bezahlkarte auch für Bürgergeldempfänger! Die letzte Stufe ist dann die Bezahlkarte für alle. Das wäre dann die Totalüberwachung bzgl. Kaufverhalten, persönliche Mobilität, Spenden, Negativzinsen etc. Falls dieses Verhalten vom offiziellen Narrativ abweicht, wird die Karte gesperrt. Kämpferische Grüße Bodo Müller

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