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Aus: Ausgabe vom 20.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Unwürdige des Tages: Russen in Estland

Von Reinhard Lauterbach
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Haben nicht so gewählt, wie der estnische Staat es sich wünschte: Russen vor der Botschaft ihres Landes in Tallinn (17.3.2024)

Die in Estland lebenden Russen haben bei der Wahl am Sonntag zu 75 Prozent für Wladimir Putin gestimmt. Das ist, verglichen mit dem offiziellen Gesamtergebnis von 87 Prozent, unterdurchschnittlich. So könnte man die Zahlen interpretieren und den Gedanken fortführen in die Richtung, dass, wenn in einem Land, dessen Öffentlichkeit reichlich »alternative Sichtweisen« auf Putin und sein System anbietet, 75 Prozent sich davon nicht haben beeindrucken lassen, dann das innerrussische Ergebnis vielleicht auch ohne allzu großen Fälschungsaufwand zustande gekommen sein könnte.

Aber nein, so soll man nicht denken. Die estnische Zeitung Postimees überlegte angesichts dieser Zahlen statt dessen, ob man die in Estland lebenden Russen unter diesen Bedingungen noch an den Kommunalwahlen teilnehmen lassen dürfe: »Diese Bürger können an den Kommunalwahlen teilnehmen und so die estnische Politik beeinflussen. Putinisten sind eine Sicherheitsbedrohung in Estland, egal aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.« (So zitiert in der Presseschau der Bundeszentrale für politische Bildung vom Dienstag.)

Überhaupt sind die Russen undankbar, auch die oppositionell eingestellten. Da haben sie sich vor dem Krieg ins Ausland aus dem Staub gemacht, statt dem Vorbild Alexej Nawalnys zu folgen, und stehen damit, wie die FAZ am Montag beklagte, nicht mehr als Personal für die innerrussische Opposition zur Verfügung. Die Konsequenz aus Frankfurt am Main: erst recht »massiv« die Ukraine unterstützen. Wenn Putin nicht aus dem Inland gestürzt werden könne, dann eben von außen. Und dann wundert sich die Kommentatorenschaft, dass Putin dieses Milieu zu ausländischen Agenten und zur fünften Kolonne des Wesens erklärt.

Wahlen sind nämlich nur echt, wenn der Richtige gewinnt. Wenn nicht, waren sie keine.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (21. März 2024 um 11:43 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel: Lettland, ein vergleichsweise junger Staat, hat erst seit etwa hundert Jahren seine eigene Hochsprache. Zuvor wurde Lettisch in dem von deutscher Besiedlung geprägten Land als ein bäuerlicher baltischer Dialekt betrachtet. Die Unabhängigkeit von Russland erkämpfte sich Lettland erst im Jahr 1918, jedoch währte diese Freiheit nicht lange. Der Zweite Weltkrieg bedeutete das Ende für den jungen Staat, der daraufhin von der Sowjetunion annektiert wurde und zur Sowjetrepublik wurde. Es folgte eine Einwanderung von Russen, die den Anteil der ethnischen Russen in der Bevölkerung in den folgenden Jahrzehnten von knapp neun Prozent auf mehr als ein Drittel erhöhte und das Russische zur zweiten Amtssprache erklärte. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 blieb das alte Misstrauen gegenüber den russischsprachigen Bewohnern. Die russische Sprache, einst selbstverständlich, geriet in den Verdacht, unpatriotisch zu sein. Die russischsprachigen Bewohner, die zuvor privilegiert waren, gerieten an den Rand der Gesellschaft. Bei einem Volksentscheid im Jahr 2012 lehnten drei Viertel der Wähler Russisch als zweite Amtssprache ab. Dieses klare Ergebnis ist auch darauf zurückzuführen, dass die Russischsprachigen inzwischen nicht mehr als Staatsbürger anerkannt wurden, sondern als »Nichtbürger« galten. Obwohl sie ähnliche Rechte wie ethnische Letten besaßen, waren sie beispielsweise von Wahlen ausgeschlossen und wurden als Bürger zweiter Klasse betrachtet. Die Mehrheit der Letten wirft ihnen vor, dass sie trotz Jahrzehnten im Land immer noch nicht Lettisch sprechen können. Die russischsprachigen Bewohner wiederum werfen dem lettischen Staat eine Politik der Ausgrenzung vor, was in einem EU-Staat nicht würdig und haltbar ist.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (21. März 2024 um 13:07 Uhr)
      Sehr geehrter Herer Hidy, Lettland erkämpfte 1918 nicht seine Freiheit. Es gehörte zu Russland und kämpfte im Weltkrieg auf russischer Seite. Im Raubfrieden von Brest-Litowsk setzte der deutsche, kaiserliche Generalstab (keine Letten) Sowjetrussland, also Lenin und dem Verhandlungsführer Trotzki (beide keine Letten), die Pistole auf die Brust: Entweder ihr gebt die Ukraine, das Baltikum, Polen sowie Finnland ab – oder wir marschieren durch. Die Bolschewiki waren zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage, den Deutschen (nicht den Letten) etwas entgegenzusetzen. Lettland und die Ukraine waren also eine Abspaltung, vorgenommen von Deutschland, die Ukraine dann sofort deutsches Protektorat. Das Baltikum wurde nach Versailles von deutschen Freikorpstruppen besetzt. Die Letten haben sich da wenig bzw. gar nichts erkämpft. Es war ein Geschenk des deutschen Aggressors des Ersten Weltkrieges. Beim Zweiten Weltkrieg klafft in Ihrem Überblick über den Freiheitskampf der Letten eine bemerkenswerte Lücke. Ja, das Baltikum wurde von der UdSSR okkupiert, sonst wären die Deutschen noch früher in Leningrad gewesen. Das wird von den Balten oder auch von Ihnen stets in den Vordergrund gerückt. Anschließend vergessen Sie alle urplötzlich zu erwähnen, dass es dann von Deutschland okkupiert wurde, die dort KZ errichteten, alle greifbaren Juden, Kommissare, Mitglieder der KPDSU und des Komsomol ermordeten, wobei ihnen freiwillige lettische SS-Verbände halfen. Die lettischen SS-Veteranen erhalten von Deutschland eine Rente, die man den Blockadeopfern Leningrads verweigert. Sie halten heute, in einem EU-Land, jährlich in der Öffentlichkeit ihre Demonstrationen und Traditionstreffen ab. Warum schweigen Sie dazu? War die lettische SS und Hitlerkollaboration harmloser als Stalin? Die »Nichtbürger« dürfen nicht nur nicht wählen, sondern haben in einer langen Liste von Berufen (Armee, Polizei, Justiz, Bildungswesen u. a.) Berufsverbot. Lettland ist ein EU-Apartheidstaat. Schande!
      • Leserbrief von Franz Döring (21. März 2024 um 14:13 Uhr)
        Lenin und die russische Regierung hat im Frieden von Riga die Unabhängigkeit Lettlands in den festgelegten Grenzen für alle Zeit garantiert!
        • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (21. März 2024 um 15:59 Uhr)
          Deutschland spaltete 1918 die Ukraine und Lettland sowie weitere Staaten im »Frieden« von Brest-Litowsk von Russland ab, die zwar ihre Unabhängigkeit erklärten, aber de facto von Deutschland abhängig waren. Damit tat Deutschland genau das, was es (und Sie Herr Döhring) Russland in der Ukraine jetzt vorwerfen. Allerdings gab es da keine Volksabstimmung. Anschließend wurden aus der »unabhängigen Ukraine« auf Teufel komm raus Nahrungsmittel an die immer noch kämpfende deutsche Westfront abtransportiert und die »unabhängige« Ukraine unter deutschem Protektorat dem Hunger ausgesetzt. Das war der »Holodomor« Berliner Art. Also, wenn Sie solche Art von Unabhängigkeit feiern, dann erwarte ich aber auch, dass sie der Krim und den Volksrepubliken Donezk und Lugansk zur Unabhängigkeit für alle Zeit wärmstens gratulieren. Gleiches Recht für alle.
        • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (21. März 2024 um 15:09 Uhr)
          Der Frieden von Riga wurde zwischen Sowjetrussland und Polen 1920 geschlossen. Der Aggressor Polen okkupierte weite Teile der Ukraine und Weißrusslands. Die Unabhängigkeit Lettlands erfolgte 1918 nach Brest-Litowsk, befohlen vom Aggressor des Ersten Weltkriegs, Deutschland.
          • Leserbrief von Franz Döring (21. März 2024 um 15:53 Uhr)
            11. August 1920 Frieden von Riga zwischen Lettland und der Sowjetunion. Auch haben Sie noch vergessen zu erwähnen, dass Hitler und die Nazis der Sowjetunion Lettland auf verbrecherischer Weise auslieferten. Auch haben Sie die Deportationen der lettischen Bevölkerung durch die sowjetische Geheimpolizei und die unwillkommene Einwanderung von Nichtletten, die heute Probleme bereitet, nicht erwähnt!
            • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (21. März 2024 um 16:25 Uhr)
              Der Frieden von Riga heißt deshalb so, weil er in Riga abgeschlossen wurde, allerdings zwischen Polen und Sowjetrussland, nicht mit Lettland. Wie wäre es mit einem Geschichtsbuch, bevor Sie hier schreiben? Die UdSSR tat mit der Okkupation des Baltikums das militärisch Notwendige, da ansonsten die Wehrmacht ab 1941 gleich bis an die russische Grenze vorgerückt wäre, was Ihnen offensichtlich lieber gewesen wäre, wenn sie diese leider notwendige Maßnahme als verbrecherisch betrachten. (…)
              Mit der Okkupation des Baltikums wurde der spätere Vormarsch der Wehrmacht vor dem Winter verzögert, was mit kriegsentscheidend war. Es hat sicher wie überall in der UdSSR auch im Baltikum Deportationen gegeben, aber nicht pauschal »der Bevölkerung«. Beispielsweise wurde der Großvater der heutigen Ministerpräsidentin von Estland deportiert. Er war zuvor Polizeichef und Mitglied der faschistischen Bewegung gewesen. Sicher waren wie immer unter Stalin da auch viele Unschuldige mit dabei. Doch ein Staat, der mit der Wehrmacht kollaborierte, Juden sammelte und umbrachte und gegen die UdSSR SS-Verbände stellte, hat anschließend als Verbrecherstaat nicht das Recht, dem Sieger irgendwelche Einwanderungsquoten vorzuschreiben. Stellen Sie sich vor, die SS des »Unschuldslamms Lettland« war zuvor auch sehr unwillkommen.

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