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Aus: Ausgabe vom 19.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kunst

Böse Augen

Pinsel und Schere: Das Kleine Grosz-Museum Berlin zeigt in einer vierten Sonderausstellung »Die Collagen« von George Grosz
Von Sabine Lueken
10_College Girl(1950).jpg
Georg Grosz: »College Girl« (1958)

Der große George Grosz hat auch kleine Sachen gemacht, z. B. spöttisch-liebevoll collagierte Postkarten, die er an seine Freunde und Verwandten schickte. »ME BRUMMT ZE HEAD«, schrieb er 1957 selbstkritisch an seinen Schwager, im selben Jahr deutlicher: »ICH BIN STINKBESOFFEN.« Aus diesem Jahr stammt auch sein letztes, traurig-sarkastisches Selbstporträt als »Clown von New York«.

Im Kleinen Grosz-Museum in Berlin zeigt man, erstmals gemeinsam mit der Akademie der Künste Berlin, diese Arbeiten zusammen mit rund 100 anderen, entstanden in den Jahren 1917 bis 1958.

Ob Grosz wirklich gemeinsam mit seinem Freund John Heartfield 1916 in seinem Südender-Atelier »an einem Maientage frühmorgens um 5 Uhr die Photomontage« erfunden hat, sei dahingestellt. Jedenfalls seien sie, so Grosz, »auf eine Goldader gestoßen, ohne es zu wissen«. Die Fotomontage erwies sich als perfekt geeignet, politische und gesellschaftskritische Botschaften zu verbreiten. Grosz arbeitete eng mit Heartfield zusammen, auch mit dessen Bruder Wieland Herzfelde und dessen Malik-Verlag. Die Ausstellung zeigt die Mappe »Mit Pinsel und Schere: 7 Materialisationen« und das Faltblatt zur Dada-Messe 1920, sie macht deutlich, dass Grosz neben Alltagsmaterial oft auch eigene Arbeiten einmontierte. Aus seinem – heute verschollenen – Gemälde »Deutschland – ein Wintermärchen« verwendete er die »Stützen der Gesellschaft« auf der Rückseite der Zeitschrift Pleite, jetzt mit der Schlagzeile: »Wir schieben vereint! Wir prassen vereint! Wir haben alle nur einen Feind: Rußland!«

Am 12. Januar 1933 übersiedelte Grosz mit seiner Frau Eva gerade noch rechtzeitig in die USA, Sehnsuchtsland seit seiner Kindheit. Er wünschte sich, »ein amerikanischer Illustrator« für »das große Publikum« zu werden. Dafür wollte er sich anpassen, alles schön finden, alles aufsaugen wie »ein gutes Löschblatt«. Während er in den 20er Jahren in Berlin mit seiner Kunst »das Gesicht der herrschenden Klasse« zur Kenntlichkeit entstellt und die Mächtigen provoziert hatte, wollte er in den USA keine Feinde erkennen.

Grosz streifte durch New York, füllte unzählige Skizzenhefte und fertigte Aquarelle, wandte sich wieder der Ölmalerei zu. Und er legte einen Bild- und Motivfundus seiner neuen Umgebung an, mittels Ausschnitten aus Zeitschriften. Zugleich fasziniert und abgestoßen von diesen »großen, reichbebilderten … Märchen- und Bilderbücher(n)« wusste er zwar, dass sie »Wunschträume eigentlich hässlicher Erdenbewohner mit schlechter Verdauung, Herzfehlern, Leberkrebs, unheilbarer Trunksucht, zerrütteten Ehen und heimlichen Aborten« abbildeten, aber »die Lüge (war ihm) sympathischer als die Wahrheit«.

»Textures – The Musterbook«(1941–1957) ist das umfangreichste Collagewerk des Künstlers und kann in der Ausstellung digital durchgeblättert werden. Darin findet sich, wie in einem Kaufhauskatalog, der ganze schöne Schein der Warenwelt der Wohlhabenden mit »Class in Everything«: edle Schuhe, Krawatten, Zigarren, Jagdbedarf, diverse Whiskys und andere Alkoholika für die Herren, Hüftgürtel, fließende Stoffe, elegante Lederhandschuhe und Pelze für die Damen, und immer wieder Schinken, Würste und Braten. Die aus diesen Fleischwaren – »The ham has Eyes« – schauenden weiblichen Augen machen dem Betrachter »schöne Augen«, es lächeln ihn Lippen geschlossen oder mit makellosen Zähnen an. Grosz demontierte diese Verlockungen mit versteckten, hässlichen Homunculi, bösen Augen und der Kombination von Männerköpfen mit Frauenkörpern.

Der Fülle des Materials versuchte er durch Themenmappen Herr zu werden: »Hands«, »Birds«, »Woman«, »Women Accessories, Shoes, Corsets, Bras, slips, panties«, »Ruins«, »Rats«, »Medical Drawings« und natürlich »Eyes, Gebisse, etc.« – die Mappendeckel sind in der Ausstellung zu sehen. Die ganze Sammlung nannte er »Morgue« und fand: Sie »sind aus apokalyptischem Stoff gemacht und geben Kunde vom Dualismus der Welt und von ihrer anderen Seite, nicht der des Blühens, nein, von Mord, Brand, Grauen und Tod«.

So in der Collage »Purgatory« (Fegefeuer), Grosz’ Version von Hieronymus Bosch, die fast nur aus »Fleisch« besteht. Die Ölbilder »The Pit« (Der Schlund, 1946) und »The Funeral« von 1917/18, Grosz’ Visionen der Verwüstungen zweier Weltkriege, bilden den Hintergrund für eine Figur wie aus rohem Fleisch, ein gekreuzigtes Brathähnchen mit Frauenkopf und einen höllischen Kessel mit Körperteilen, die von einer Schöpfkelle in einen Fleischwolf geschaufelt werden. Positiver sind da die phallisch aufragenden Mettwürste am Eingang zum Schlaraffenland (The Valley of Sausages, 1958).

Mitte Juni 1958 schrieb Grosz an seine Frau, die sich zu der Zeit in Deutschland aufhielt, freudig von »zirka 40 Montagen«, die er »gemacht« habe, »(wie der alte Matisse) … macht mir aber sehr Spass (…) hatte mal früher vor 60 Jahren sowas gemacht. OK«. Einige von diesen letzten, von ihm »Klebebilder« genannten Montagen des Trivialen, sind in der Ausstellung zu sehen. Pop Art ist das nicht. Zehn Jahre nach dem Selbstbildnis als »Painter of the Hole«, dem nichts mehr zu malen bleibt als das Nichts, suchte Grosz wieder nach einer ihm gemäßen Ausdrucksform für die Darstellung des – deformierten – Menschen.

»George Grosz – A Piece of my World in a World without Peace. Die Collagen«, Das kleine Grosz-Museum, Berlin, bis 3. Juni 2024

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