4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Gegründet 1947 Sa. / So., 04. / 5. Mai 2024, Nr. 104
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten 4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Währungshüter

Gift für den Euro-Raum

Europäische Notenbank schiebt Zinssenkung auf und vertieft damit in Deutschland die Rezession
Von Lucas Zeise
9.JPG
»Falsche Strategie«: EZB-Präsidentin Christine Lagard am Donnerstag in Frankfurt am Main

Mit ganz ähnlichen Worten haben die Notenbankchefs der USA und der Euro-Zone am Ende dieser Woche eine Begründung versucht, warum sie noch nicht jetzt, aber vielleicht oder wahrscheinlich im Juni ihre Leitzinsen senken werden. Der Präsident der US-Zentralbank, Jerome Powell, sprach am Donnerstag (Ortszeit) vor einem Senatsausschuss; die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, auf der Pressekonferenz im Anschluss an die turnusmäßige Sitzung des Zentralbankrates der EZB. Der hatte den Beschluss gefasst, trotz der in EU-Europa herrschenden Stagnation (in Deutschland Rezession) die Zinsen unverändert zu lassen.

Beide Zentralbanker gaben sich damit zufrieden, dass die Inflation seit ihrem Höhepunkt im Herbst 2022 deutlich gesunken ist, in Euro-Land von mehr als zehn Prozent auf im Februar »nur« noch 2,6 Prozent. Die EZB-Führung sei sich noch nicht sicher, dass die Inflation wirklich »gezähmt« sei, meinte Lagarde. Man hoffe, im Juni mehr Belege zu haben. Im Jahresdurchschnitt rechnen die EZB-Volkswirte mit einer Inflationsrate von nur noch 2,3 Prozent, also nur noch 0,3 Punkte über dem selbstgesteckten Ziel von zwei Prozent. Die Prognose für das Wirtschaftswachstum des laufenden Jahres in der Euro-Zone senkte die Notenbank weiter von 0,8 auf nur noch 0,6 Prozent.

Ökonomisches Wachstum hängt in erster Linie von den Investitionen der Kapitalisten ab. Deren Kalkül, ob sich Investitionen lohnen, wird wesentlich bestimmt von der Höhe der Zinsen, zu der sie ihre Investitionen tätigen. Das Zinsniveau wiederum soll sich der Theorie zufolge am »freien« Kapitalmarkt ergeben, wird aber in der Praxis stark von der Zentralbank mitbestimmt. So sind ab 2021, als sich die Inflation in den großen Industrieländern – vor allem wegen der steigenden Energiepreise – kräftig erhöhte, die Zinsen entsprechend angestiegen. Die EZB begann erst im Sommer 2022 zusätzlich ihre »Leitzinsen« heraufzusetzen – von damals null Prozent auf den jetzt immer noch gültigen Satz von 4,5 Prozent. Steigende Preise haben ohnehin unvermeidlich eine Bremswirkung auf die konjunkturelle Entwicklung. Die Verbraucher haben real weniger Geld im Portemonnaie. Sie kaufen weniger. Die Unternehmer müssen mit gestiegenen Kosten für Rohstoffe, Energie und Zinsen sowie der Kaufzurückhaltung der Verbraucher kalkulieren und fahren deshalb die Investitionen zurück.

Dass ab Oktober 2022 die Inflationsrate ihren Höhepunkt von über zehn Prozent erreicht hatte und von da an auf das aktuelle Niveau von zwei bis drei Prozent zurückging, hat nichts oder fast nichts mit den seit Sommer 2022 steigenden Leitzinsen zu tun. Es war unsinnig, den plötzlichen durch politische Sanktionsmaßnahmen hereinschwappenden Preisauftrieb bei Energie und Rohstoffen durch eine Dämpfung der Kreditnachfrage und höhere Leitzinsen bekämpfen zu wollen. Andererseits schadete der neue Kurs der Notenbanken zunächst auch nichts. Jedenfalls solange der Leitzins unter der Inflationsrate (also der Geldentwertung) blieb. Das änderte sich im vergangenen Jahr. Der Realzins ist positiv. Das Zinsniveau liegt mittlerweile deutlich über der Inflationsrate. Zur Bremswirkung durch die Inflation kommt seit spätestens der zweiten Jahreshälfte 2023 die Bremswirkung hoher Zinsen dazu.

Für eine boomende Volkswirtschaft mag das angemessen sein. Für den Euro-Raum sind die zu hohen Zinsen Gift. Die Notenbanker rechtfertigen ihr Zögern, die Zinsen zu senken, mit den Zweit- und Drittrundeneffekten der Inflation. Gemeint ist die Tatsache, dass die abhängig Beschäftigten versuchen, ihr von der Inflation geschmälertes Realeinkommen zu sichern oder wiederherzustellen. Eine solche Strategie ist falsch. Schon der erste Inflationsschub hat ausgereicht, um die Endnachfrage zu dämpfen. Die Rezession wurde verlängert und vertieft. Es ist unsinnig, die Euro-Länder noch tiefer in die Krise zu stürzen, nur um die Inflation zu zähmen und um drei Zehntelpunkte zu drücken.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (10. März 2024 um 06:28 Uhr)
    Die über hohe Energiepreise importierte Inflation ist zunächst eine Enteignung der Verbrauchenden, die Preisbildung an den Börsen ist bereits vor der Sprengung der Röhren auf steil nach oben gestellt worden. Der Wohlstandstransfer geht sowohl zu den großen Vermögen als auch über den Teich. Die Pandemie war Beschleuniger für Umverteilung nach oben, jetzt soll es der Krieg sein. Nicht alle können die Verluste über Arbeitskampf reinholen. Die Zeiten werden aggressiver und robuster im Umgang miteinander werden.

Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:

Ähnliche:

  • Repräsentieren Wind- und Sonnenkraftanlagen den Übergang zu eine...
    12.10.2023

    Im Umbruch

    Zur Einordnung des aktuellen Zustands und der mittelfristigen Perspektiven der BRD-Ökonomie

Mehr aus: Kapital & Arbeit