junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 06.03.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Fachkräftemangel

Von Daniel Bratanovic
14_rotlicht.jpg
Tickende Bombe Fachkräftemangel? Fachkraft am Stromkasten kennt den richtigen Draht

Die mittlerweile täglich beklagte ökonomische Misere dieses Landes, die nicht vergehen will, hat ausweislich aller, wirklich aller Medien drei handfeste Gründe: hohe Energiepreise, hohe bürokratische Hürden und – einen eklatanten Fachkräftemangel. Dieser beschäftigt auch die Regierung. Der zuständige Minister jettet um den ganzen Planeten in der Absicht, anderen Ländern ausgebildete Arbeitskräfte abzuwerben, richtet, wie in der vergangenen Woche, einen Fachkräftekongress mit Vertretern aus Wirtschaft, Verbänden und Ausbildungseinrichtungen aus und verkündet, im Lande lebende Ukrainerinnen und Ukrainer sollten per »Jobturbo« in den Arbeitsmarkt integriert werden. Er tut all dies, weil solcher Mangel nach seinem Dafürhalten zur »zentralen Wachstumsbremse« der deutschen Wirtschaft zu werden drohe, deren Wohlergehen schließlich den Reichtum des Staates begründet.

Als hervorragende Ursache des – im übrigen in regelmäßigen Abständen – beklagten Fachkräftemangels (vor allem in der Pflege, in sozialen und einigen technischen Berufen) wird allerorten der demographische Wandel genannt: Die Bevölkerung altert, das Verhältnis von Erwerbstätigen und Ruheständlern verschiebt sich, Arbeitskräfte werden knapp. Von Gewerkschaften lässt sich hie und da noch vernehmen, das Problem bestehe in schlechten Arbeitsbedingungen und miserabler Entlohnung, mitursächlich sei außerdem die sogenannte Bildungslücke: Zwischen erworbenen Fähigkeiten und den angesichts komplexer werdender Tätigkeitsfelder im Zuge der Produktivkraftentwicklung gewachsenen »Anforderungen des Arbeitsmarktes« besteht eine Diskrepanz, zu hoch der Anteil »Geringqualifizierter« – ein Fünftel der Erwerbstätigen hat keinen beruflichen oder akademischen Bildungsabschluss. Solche Zustände wiederum dürften in erheblichem Maße auf eine allseits konstatierte Schulmisere zurückzuführen sein, die insbesondere Kinder aus migrantischen und generell ärmeren Bevölkerungsteilen zurücklässt und ihre Gründe nicht zuletzt in einem Mangel an Lehrkräften hat. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Nicht dass all diese genannten Ursachen des Fachkräftemangels reine Erfindungen wären, fällt doch auf, über welchen grundlegenden Vorgang – kaum verwunderlich – nicht gesprochen wird: Eine dynamische Akkumulationsbewegung des Kapitals zieht Arbeitskräfte an (Attraktion). Wird die Nachfrage nach Arbeitern größer als das Angebot, gerät der Profit unter Druck, die Akkumulation schwächt sich ab, Arbeiter werden entlassen (Repulsion). Sinkender Profit aufgrund (zu) hoher Arbeitskosten sorgt zudem für eine Ersetzung lebendiger Arbeitskraft durch Maschinen, die sogenannte Überschussbevölkerung wächst. Können dadurch die Lohnkosten insgesamt verringert werden, kommt die Akkumulationsdynamik wieder in Gang, Arbeitskräfte werden erneut angezogen.

Die Bundesrepublik war zeit ihres Bestehens das kontinentaleuropäische Akkumulationszentrum, das fortwährend Arbeitskräfte anzog. Anfangs die »Vertriebenen« aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, bis zum Bau der Mauer 1961 etliche Zehntausende Staatsbürger der DDR, ab 1955 die »Gastarbeiter« vor allem aus dem Mezzogiorno und aus Anatolien. Nun herrscht wieder, heißt es, Arbeitskräftebedarf. Im vergangenen Jahr waren in Deutschland trotz Konjunkturflaute im Durchschnitt etwa 45,9 Millionen Menschen erwerbstätig, so viele wie nie zuvor. Das Verhältnis zwischen gemeldeten offenen Stellen (706.000) und registrierten Erwerbslosen (3,38 Millionen) liegt derzeit bei etwa eins zu fünf. Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen – Stichwort demographischer Wandel – fest mit einem Schrumpfen des Potentials an Erwerbstätigen in naher Zukunft.

Auf seiten des Kapitals besteht demnach Handlungsbedarf. Unternehmen streben stets ein Überangebot an Arbeitskräften an, da sie sich die dann zu günstigen Löhnen aussuchen können. Umgekehrt profitieren Beschäftigte von einer Verknappung der Arbeitskräfte. Sie können zwischen verschiedenen Arbeitsangeboten auswählen und höhere Löhne wie bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Davon zeugt die gegenwärtige Streikbewegung im Lande. Die laufende »Debatte« um den Fachkräftemangel ist angesichts dieser Umstände vor allem eines: interessengeleitet im Sinne des Kapitals.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (6. März 2024 um 12:22 Uhr)
    Das Kapital hat zur Ware Arbeitskraft stets ein sehr zwiespältiges Verhältnis. Einerseits ist ihm bewusst, dass Profite nur fließen können, wenn gearbeitet wird. Andererseits ist ihm dieselbe Arbeitskraft außerordentlich lästig, weil sie nach ihrem Gebrauch ständig reproduziert werden muss. »Die Kosten, diese Kosten!« stöhnt es dann dauernd und versucht sie zu drücken, wo irgend ihm das möglich ist. Zum Beispiel, indem es die für die betrieblichen Bildungsanforderungen erforderlichen Aufwendungen der Allgemeinheit überhilft. Es betrachtet aber gleichzeitig den Topf, aus dem das bezahlt werden müsste, die Steuern also, als seinen Todfeind. Es versucht deshalb, ständig mehr an Bildung einkaufen zu wollen, als es zu finanzieren bereit ist. Den entwickelten Ländern gelingt das auch deshalb oft mittels Braindrain: Man lässt die armen Länder dieser Welt die Ausbildung bezahlen und kauft ihnen dann die Ausgebildeten billig vor der Nase weg. Nur hat eben alles seine Grenzen. Zum Beispiel dann, wenn diese Fachkräfte eben nicht bereit sind, aus Indien oder Brasilien, aus Vietnam oder von den Philippinen nach Deutschland zu kommen. Und dann wird eben gejammert: »Der Fachkräftemangel, der Fachkräftemangel!« Dass da nur die Suppe auszulöffeln ist, die das Kapital aus »Ersparnisgründen« selbst eingerührt hat, muss man ja nicht dazusagen. Übrigens sind der DDR durch das erwähnte Braindrain deutlich mehr als die genannten »zehntausenden Arbeitskräfte« abhandengekommen. Die Zahlen lagen im Bereich zwischen einer und zwei Millionen. Übrigens, auch ein wichtiger Grund dafür, dass der goldene Westen immer so golden strahlen konnte.

Ähnliche:

  • Deutsche Autobauer zieht es in den Osten: BMW-Autohaus in Wrocła...
    05.07.2023

    Zinspolitik in der Sackgasse

    Bundesbank fordert weitere Zinserhöhungen in der Euro-Zone. Zur Inflationsbekämpfung trägt das jedoch kaum bei
  • Von Chargen der Politik kommen Aussagen wie diese: »Es gibt Täti...
    09.02.2023

    Bedingt verwertbar

    Zur Lage von Menschen mit Behinderung unter den Umständen kapitalistischer Produktionsweise
  • 29.11.2022

    Druck auf Löhne

    Der DGB findet das Bürgergeld weiterhin gut. Erwerbslosenvertretung betont das fortbestehende Verarmungssystem

Mehr aus: Feuilleton