junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 28.02.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Haager Landkriegsordnung

Von Jörg Kronauer
14_rotlicht Kopie.jpg
Soll sich Hermann der Cherusker allen Ernstes an Spielregeln im Krieg halten? Karikatur aus dem Jahr 1907

Die Haager Landkriegsordnung verdankt ihre Existenz – zumindest in der Form, in der man sie heute kennt – ausgerechnet dem russischen Zaren Nikolaus II. Der gab 1898 den Anstoß zu einer Friedenskonferenz, zu der dann im Jahr 1899 offiziell die niederländische Königin Wilhelmina nach Den Haag einlud. Über Nikolaus’ Motive wird immer noch spekuliert; vermutlich war eines davon, dass Russland sich am Ende des 19. Jahrhunderts nicht wirklich in einer Phase der Stärke befand, und wenn man schwach ist, dann scheint es klug, zumindest verbal zu deeskalieren. Wie auch immer: Vertreter von insgesamt 26 Staaten fanden sich am 18. Mai 1899 in Den Haag ein, und als sie am 29. Juli 1899 ihre Zusammenkunft beendeten, präsentierten sie eine Reihe von Konventionen, die in der einen oder anderen Form die furchtbare Gewalt in Kriegen zumindest ein Stück weit durch Regeln einzuhegen suchten. Der Anhang zur zweiten Haager Konvention von 1899 behandelte das Verhalten in Landkriegen; er wurde als Haager Landkriegsordnung bekannt.

Versuche, der Kriegführung schriftlich fixierte Regeln aufzuerlegen, hatte es bis dahin schon seit einigen Jahrzehnten gegeben. Ein wichtiger Impuls ging von dem Genfer Geschäftsmann Henry Dunant aus, der – zutiefst schockiert vom Anblick des Schlachtfelds nach der Schlacht von Solferino im Jahr 1859 – den Anstoß zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Jahr 1863 in Genf gegeben hatte. Auf Initiative des Komitees lud die Schweizer Regierung 1864 zu einer Konferenz, auf der die erste Genfer Konvention beschlossen wurde, die dem Umgang mit verwundeten Soldaten gewidmet war. Eine weitere Konferenz, die im Sommer 1874 in Brüssel abgehalten wurde, brachte keine gültigen Regeln hervor. Das gelang dann aber auf der Haager Friedenskonferenz von 1899. Die Haager Landkriegsordnung regelt den Umgang mit Kriegsgefangenen, definiert Kombattanten, verbietet es, Soldaten umzubringen, die sich ergeben haben, und vieles mehr. Nicht zuletzt legt sie Aufgaben und Pflichten einer Besatzungsmacht fest.

Die Entwicklung des ius in bello, des Rechtes im Kriege, ist 1899 nicht stehengeblieben. Bereits 1907 fand die zweite Haager Friedenskonferenz statt, auf der die Landkriegsordnung, leicht modifiziert, bestätigt wurde. Weitere Schritte folgten. Ein paar Beispiele: 1925 wurde das Genfer Protokoll verabschiedet, das den Einsatz biologischer und chemischer Waffen untersagt. In den vier Genfer Abkommen aus dem Jahr 1949 kamen neue Regeln zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegen hinzu. Im Jahr 1954 folgte dann die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut in bewaffneten Konflikten. Die Liste ließe sich verlängern. Die Haager Landkriegsordnung ist dabei bis heute als eine bedeutende Grundlage gültig. Zwar haben beileibe nicht alle Staaten sie in aller Form unterzeichnet; doch wird sie mittlerweile offiziell zum Völkergewohnheitsrecht gezählt – und das bindet alle.

Nun – fast alle. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags kamen im September 2016 zu dem Schluss, dass die Haager Landkriegsordnung für die Soldaten des Deutschen Reichs, als sie 1904 den Genozid an den Herero und Nama begingen, nicht galt. Denn zum einen könne das Abschlachten von Aufständischen in einer Kolonie nicht als zwischenstaatlicher Krieg im Sinne von Artikel zwei der Landkriegsordnung gewertet werden, räsonierten die Bundestagswissenschaftler. Zum anderen seien weder die Herero noch die Nama den Haager Konventionen beigetreten. »Hinzu kommt«, hieß es schließlich, »dass das damalige Rechtsverständnis dahin ging, dass indigenen Völkern die Staateneigenschaft – und damit die Völkerrechtssubjektivität – versagt wurde.« Klar, eines weiß man in Deutschland seit Hans Filbinger ja: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.« Auch nicht das Rechtsverständnis von Kolonialherren, die gerade einen Völkermord begehen, zum Recht im Krieg.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Mehr aus: Feuilleton