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Aus: Ausgabe vom 20.02.2024, Seite 1 / Titel
London

USA kontra Pressefreiheit

Britisches Gericht entscheidet über Schicksal von Wikileaks-Gründer Julian Assange. Zukunft des investigativen Journalismus steht auf dem Spiel
Von Philip Tassev
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Seit beinahe fünf Jahren sitzt Julian Assange nun im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bei London, dem »britischen Guantanamo«, in Isolationshaft. Dem australischen Journalisten und Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks soll in den USA der Prozess gemacht werden. Im Falle einer Verurteilung drohen ihm 175 Jahre Haft, was einem »Tod auf Raten« gleichkommt. An diesem Dienstag und Mittwoch tagt der High Court, um über den letzten möglichen Berufungsantrag von Assanges Anwälten zu entscheiden. Im Juni 2022 hatte die damalige britische Innenministerin Priti Patel das von den USA angestrengte Auslieferungsersuchen unterzeichnet, im vergangenen Sommer lehnte es das Gericht ab, dass der politisch Verfolgte dagegen Berufung einlegen kann.

Sollte das Gericht den Antrag ablehnen, wäre der Rechtsweg in Großbritannien ausgeschöpft und Assange könnte – zumindest theoretisch – anschließend sofort in die USA ausgeliefert werden. Seinen Anwälten bliebe zwar noch die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg anzurufen, dann könnte es allerdings für Assange zu spät sein: Sitzt er erst einmal in einem US-Hochsicherheitsgefängnis, hätte auch eine Entscheidung des EGMR in seinem Sinne keine praktische Bedeutung mehr, da sich die USA natürlich keinem Urteil aus Strasbourg beugen werden.

Als den »wichtigsten Fall für die Pressefreiheit im 21. Jahrhundert« hatte die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdalen (BSW) den Fall Assange kürzlich bezeichnet, und tatsächlich hat er Präzedenzcharakter. Die US-Regierung wirft dem Journalisten vor, gegen den Espionage Act verstoßen zu haben, ein Gesetz, das 1917 nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg verabschiedet wurde und auf dessen Grundlage zum Beispiel die Kommunisten Ethel und Julius Rosenberg 1953 hingerichtet wurden. Konkret geht es vor allem um die Veröffentlichung von Kriegsverbrechen, die US-Streitkräfte im Irak und Afghanistan begangen haben (Video »Collateral Murder«).

Eine Verurteilung als »Spion« wäre eine Bedrohung des investigativen Journalismus insgesamt. »Ich bin davon überzeugt, dass eine Verurteilung von Julian Assange zu ähnlichen Anklagen gegen Journalisten von Zeitungen wie der Times führen würde, wenn sie Geheimnisse aufdecken, die Beamte bloßstellen«, meint etwa James Goodale, ehemaliger Vizepräsident der New York Times, einer der Unterzeichner eines offenen Briefs vom 14. Februar, in dem mehr als 35 Rechtsprofessoren US-Generalstaatsanwalt Merrick Garland auffordern, die Anklage gegen Assange fallenzulassen.

Die deutsche Regierung hält sich derweil bedeckt. Hatten sich führende Politiker der Ampelkoalition vor der letzten Bundestagswahl 2021 noch vollmundig für die Freilassung Assanges ausgesprochen, heißt es inzwischen, die Bundesregierung habe »keinen Zweifel daran, dass die britische Justiz rechtsstaatliche Prinzipien anwendet und die Menschenrechte achtet«, wie das Auswärtige Amt auf eine Anfrage von Dagdelen mitteilte. Das scheint das Oberlandesgericht Karlsruhe anders zu sehen: Am 10. März 2023 erklärte es in einem Fall eine Auslieferung nach Großbritannien für unzulässig – mit dem Verweis auf die dortigen Haftbedingungen.

Die junge Welt wird an den beiden Tagen der Anhörung in London vor Ort sein und sowohl online als auch im Print von den Entwicklungen berichten. In der jW-Maigalerie in Berlin-Mitte wird am Donnerstag abend die Veranstaltung »Free Assange« mit einem Gespräch zum Auslieferungsverfahren stattfinden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (19. Februar 2024 um 21:13 Uhr)
    Im Zuge eines verstärkten Autoritarismus in den sogenannten demokratischen Staaten, kommt eine Verschärfung des Meinungsrechts auch diesen Regierungen zugute. Bereits heute werden in Spanien, Ungarn, Polen JournalistInnen und kritische KünstlerInnen willkürlich verhaftet. In Polen sitzt der spanische Journalist Pablo González ohne Anklage seit zwei Jahren im Knast. Der spanische Staat, der selbst repressiv gegen Medienschaffende vorgeht, hat sich bisher nicht für ihn eingesetzt. In Deutschland wird die jW aus politischen Gründen »beobachtet«. In Österreich und Dänemark wird auch gegen kritische Medienschaffende vorgegangen. Bei Berichten über Polizeiübergriffen auf Demonstrationen greifen die Bullen vermehrt die Presse an, auch als Einschüchterung. Der nächste Schritt wird sein, dass LeserInnen von kritischer Berichterstattung verfolgt werden. Eine Übertreibung? In den USA wurde StudentInnen und Regierungsangehörigen das Lesen von Wikileaks-Texten verboten; wer erwischt wurde, hatte mit einem Rausschmiss zu rechnen. Leider haben im Fall Julian Assange viele Personen, Organisationen und Medien zu spät und zögerlich reagiert. Dies hängt auch damit zusammen, dass gegen ihn erfolgreich eine perfide Kampagne als »Vergewaltiger« medienwirksam geführt wurde. Selbst progressistische Medien und Personen sind darauf reingefallen und haben diese Abscheulichkeit nicht durchschaut. Es gab nie eine Anklage von Frauen, mit denen Julian Sex hatte. In Schweden haben sich die beiden sogenannten Opfer davon klar distanziert. Die schwedische Staatsanwältin hat jedoch den Fall immer wieder aufrechterhalten. Die Veranstaltung der jW vom 22. Februar kommt leider auch zu spät, denn da könnte er bereits ausgeliefert werden.

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