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Aus: Ausgabe vom 17.02.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Blut- und schmutztriefend

Karl Marx im »Kapital«: Die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeiter in Europa hatte die Sklaverei in den Kolonien zur Voraussetzung
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Abendessen im Arbeitshaus von Marylebone (London), um 1900

»Die Überbesteuerung ist nicht ein Zwischenfall, sondern vielmehr Prinzip. In Holland, wo dies System zuerst inauguriert, hat daher der große Patriot de Witt es in seinen Maximen gefeiert als das beste System, um den Lohnarbeiter unterwürfig, frugal, fleißig und … mit Arbeit überladen zu machen. Der zerstörende Einfluss, den es auf die Lage der Lohnarbeiter ausübt, geht uns hier jedoch weniger an als die durch es bedingte gewaltsame Expropriation des Bauern, des Handwerkers, kurz aller Bestandteile der kleinen Mittelklasse. Darüber bestehn keine zwei Meinungen, selbst nicht bei den bürgerlichen Ökonomen. Verstärkt wird seine expropriierende Wirksamkeit noch durch das Protektionssystem, das einer seiner integrierenden Teile ist.

Der große Anteil an der Kapitalisation des Reichtums und der Expropriation der Massen, der auf die öffentliche Schuld und das ihr entsprechende Fiskalitätssystem fällt, hat eine Menge Schriftsteller (…) dahin geführt, mit Unrecht hierin die Grundursache des Elends der modernen Völker zu suchen. Das Protektionssystem war ein Kunstmittel, Fabrikanten zu fabrizieren, unabhängige Arbeiter zu expropriieren, die nationalen Produktions- und Lebensmittel zu kapitalisieren, den Übergang aus der altertümlichen in die moderne Produktionsweise gewaltsam abzukürzen. Die europäischen Staaten rissen sich um das Patent dieser Erfindung, und einmal in den Dienst der Plusmacher eingetreten, brandschatzten sie zu jenem Behuf nicht nur das eigne Volk, indirekt durch Schutzzölle, direkt durch Exportprämien usw. In den abhängigen Nebenlanden wurde alle Industrie gewaltsam ausgerodet, wie z. B. die irische Wollmanufaktur durch England. (…)

Kolonialsystem, Staatsschulden, Steuerwucht, Protektion, Handelskriege usw., diese Sprösslinge der eigentlichen Manufakturperiode, schwellen riesenhaft während der Kinderperiode der großen Industrie. Die Geburt der letztren wird gefeiert durch den großen herodischen Kinderraub. Wie die königliche Flotte, rekrutieren sich die Fabriken vermittelst der Presse. So blasiert Sir F. M. Eden ist über die Greuel der Expropriation des Landvolks von Grund und Boden seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts bis zu seiner Zeit, dem Ende des 18. Jahrhunderts, so selbstgefällig er gratuliert zu diesem Prozeß, »notwendig«, um die kapitalistische Agrikultur und »das wahre Verhältnis von Ackerland und Viehweide herzustellen«, beweist er dagegen nicht dieselbe ökonomische Einsicht in die Notwendigkeit des Kinderraubs und der Kindersklaverei für die Verwandlung des Manufakturbetriebs in den Fabrikbetrieb und die Herstellung des wahren Verhältnisses von Kapital und Arbeitskraft. (…) Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion während der Manufakturperiode hatte die öffentliche Meinung von Europa den letzten Rest von Schamgefühl und Gewissen eingebüßt. Die Nationen renommierten zynisch mit jeder Infamie, die ein Mittel zu Kapitalakkumulation. Man lese z. B. die naiven Handelsannalen des Biedermanns A. Anderson. Hier wird es als Triumph englischer Staatsweisheit ausposaunt, dass England im Frieden von Utrecht den Spaniern durch den Asientovertrag das Privilegium abzwang, den Negerhandel, den es bisher nur zwischen Afrika und dem englischen Westindien betrieb, nun auch zwischen Afrika und dem spanischen Amerika betreiben zu dürfen. (…) Liverpool wuchs groß auf der Basis des Sklavenhandels. Er bildet seine Methode der ursprünglichen Akkumulation. Und bis heutzutag blieb die Liverpooler «Ehrbarkeit» Pindar des Sklavenhandels, welcher (…) »den kommerziellen Unternehmungsgeist bis zur Leidenschaft steigere, famose Seeleute bilde und enormes Geld einbringe«. Liverpool beschäftigte 1730 im Sklavenhandel 15 Schiffe, 1751: 53, 1760: 74, 1770: 96 und 1792: 132.

Während sie die Kindersklaverei in England einführte, gab die Baumwollindustrie zugleich den Anstoß zur Verwandlung der früher mehr oder minder patriarchalischen Sklavenwirtschaft der Vereinigten Staaten in ein kommerzielles Exploitationssystem. Überhaupt bedurfte die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeiter in Europa zum Piedestal die Sklaverei sans phrase in der neuen Welt.

Solcher Mühe berurfte es, die »ewigen Naturgesetze« der kapitalistischen Produktionsweise zu entbinden, den Scheidungsprozeß zwischen Arbeitern und Arbeitsbedingungen zu vollziehn, auf dem einen Pol die gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmittel in Kapital zu verwandeln, auf dem Gegenpol die Volksmasse in Lohnarbeiter, in freie »arbeitende Arme«, dies Kunstprodukt der modernen Geschichte. Wenn das Geld, nach Augier, «mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt», so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.

Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, 24. Kapitel: »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«, sechster Abschnitt: »Genesis des industriellen Kapitalisten«. Vierte Auflage, Hamburg, 1890. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), 23. Band. Dietz-Verlag, Berlin 1969, Seiten 784–788

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