4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 15.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Klimakatastrophe

EU-Klimaziel mit zwei Haken

Brüssel will Ausstoß von Treibhausgasen bis 2040 um 90 Prozent gegenüber 1990 verringern. Das klingt radikal, ist aber unzureichend
Von Wolfgang Pomrehn
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Klimaikone Polarbär: Schmilzt alles Eis in Grönland, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter

Die EU-Kommission hat Vorschläge für konkretisierte Klimaziele vorgelegt, die in den nächsten Monaten im Strasbourger Parlament und unter den Regierungen diskutiert und nach der EU-Wahl im Juni in eine Verordnung gegossen werden sollen. Das Verfahren ist im Europäischen Klimagesetz vorgesehen, und Zeit wäre es allemal. Der Klimawandel steht längst vor der Tür, verursacht schon jetzt erhebliche Schäden (siehe rechte Spalte) und lässt für die Zukunft allerlei unerfreuliche Szenarien erwarten (siehe Keller).

Nach dem Vorschlag soll der Ausstoß der Treibhausgase bis 2040 um 90 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 verringert werden. 1990 betrugen die Emissionen nach Angaben der EU-Umweltagentur in Kopenhagen 4,7 Milliarden Tonnen jährlich, 31 Jahre später waren es noch immer 3,2 Milliarden Tonnen. Der Rückgang ist vor allem das Ergebnis des Ausstiegs aus der Kohle, der in vielen EU-Mitgliedsländern bereits weiter vorangekommen ist als in Deutschland. Andere Sektoren, zum Beispiel der Straßenverkehr, emittieren zum Teil noch auf dem gleichen Niveau wie 1990. Hierzulande wird damit inzwischen von der Bundesregierung das deutsche Klimaschutzgesetz verletzt, wie im Herbst ein Berliner Gericht festgestellt hat.

Angesichts dessen hört sich der Vorschlag der Kommission geradezu radikal an und dürfte daher viel Gegenwind bekommen. Allerdings hat er diverse Haken. Zum einen ist die Reduktion unzureichend. Soll die globale Erwärmung noch in einem halbwegs verträglichen Rahmen gehalten und das Umkippen verschiedener Komponenten des Klimasystems wie etwa des Golfstroms (siehe Keller) verhindert werden, müssten die Emissionen bis 2035 oder früher auf null reduziert werden und nicht erst 2050, wie es das Klimagesetz vorsieht. Und die Reduktion müsste sofort in großen jährlichen Schritten beginnen, denn letztlich kommt es auf die Gesamtmenge der Emissionen an. Das mit großem Abstand wichtigste Treibhausgas Kohlendioxid reichert sich nämlich in der Atmosphäre an und verbleibt dort für mehrere tausend Jahre.

Doch im Augenblick sieht es noch nicht einmal danach aus, dass die Union ihr Ziel für 2030 erreichen wird. Bis dahin soll der jährliche Treibhausgasausstoß um 55 Prozent auf 2,15 Milliarden Tonnen gesenkt werden. Aber zwischen 2011 und 2021 haben die Emissionen nach den Daten der Kopenhagener Umweltagentur nur um 0,48 Milliarden Tonnen abgenommen. Setzt sich dieser Trend fort, werden 2030 noch immer 2,8 Milliarden Tonnen jährlich in die Luft geblasen. (Alle Mengen sind in sogenannten CO2-Äquivalenten angegeben, da die anderen Treibhausgase wie etwa Methan entsprechend ihrer Klimawirksamkeit in CO2, das heißt in Kohlendioxid, umgerechnet werden.)

Ein weiterer Haken des Kommissionsvorschlags: Es ist von Nettoemissionen die Rede. Dahinter steckt die Vorstellung, dass ein Teil der Treibhausgasemissionen durch andere Maßnahmen kompensiert werden könnte. Konkret geht das Brüsseler Papier davon aus, dass 2040 noch bis zu 850 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente jährlich emittiert werden. Davon sollen 400 Millionen Tonnen CO2 durch Aufforstung und sogenanntes CCS (Carbon Capture and Storage, CO2-Abscheidung und Einlagerung) gebunden werden. Diese Technologie ist aber bisher nirgendwo über das Stadium von Pilotanlagen hinausgekommen. Sie würde bedeuten, dass das CO2 in den Kraftwerken mit erheblichem Energieaufwand eingefangen und verflüssigt wird. Etwa zehn Prozent des im jeweiligen Kraftwerk erzeugten Stroms wäre dafür notwendig. Sodann müsste sich dafür ein langfristig sicherer Speicher finden lassen. Diskutiert wird vor allem, das flüssige CO2 in tiefere Erdschichten zu pressen. Ob es dort aber wirklich sicher verbleibt, ist bisher offen. Unter anderem wirkt das Gas als Säure, könnte also giftige Stoffe aus dem felsigen Untergrund lösen und mit diesen Grundwasser führende Schichten bedrohen. Entsprechend regt sich unter anderem in Schleswig-Holstein und in Sachsen-Anhalt in der Bevölkerung Widerstand gegen entsprechende Pläne.

Kommentar: Die Einschläge kommen näher

Am gestrigen Mittwoch gab es schon wieder diverse Hochwasserwarnungen für verschiedene Bundesländer, aber vor allem für Niedersachsen. Erst eine Jahrhundertsturmflut an der Ostsee im Oktober, die in Deutschland Schäden in Höhe von mindestens 250 Millionen Euro anrichtete. Dann nie da gewesene Niederschläge zum Jahresende in Norddeutschland, die Flüsse über die Ufer treten ließen und für tagelange schwere Überschwemmungen sorgten. Und nun schon wieder, zum Teil an den gleichen Flüssen, an denen die Deiche noch aufgeweicht sind. Die Schäden sind enorm, nicht nur hierzulande. Der für die Ostseesturmflut verantwortliche Sturm zog zum Beispiel auch über die britischen Inseln. Die Plattform Insurance Insider schätzt, dass er in Nordeuropa für einen Versicherungsschaden von 509 Millionen Euro sorgte, davon 386 Millionen Euro allein in Großbritannien. Hinzu kommen natürlich noch allerlei nicht versicherte Schäden.

Zeitgleich zog übrigens weiter südlich noch ein Sturm über Südeuropa und richtete dort ebenfalls erhebliche Verwüstungen an. Italien wurde schon in den Monaten zuvor von heftigen Unwettern gebeutelt, so dass die Nachrichtenagentur Bloomberg Anfang November den dortigen versicherten Schaden auf über drei Milliarden Euro schätzte. Wie gesagt: nur für die ersten zehn Monate 2023. Noch schlimmer hat es im vergangenen Jahr Slowenien getroffen, das Anfang August von extremen Niederschlägen und nachfolgendem Hochwasser heimgesucht wurde. Nach Angaben der Regierung in Ljubljana entstanden Schäden in Höhe von 9,9 Milliarden Euro, was immerhin rund 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ergibt. Und das ist erste der Anfang. Die Klimakrise hat gerade erst begonnen. (wop)

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