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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Plünderung, Versklavung, Raubmord und Bankokratie

Karl Marx: Der in den Kolonien erbeutete Schatz floss zurück nach Europa und verwandelte sich hier in Kapital
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Auf der Suche nach Goldschätzen: Der spanische »Entdecker« ­Ferdinand de Soto (ca. 1496–1542) und seine Gefolgsleute foltern Indigene auf dem Gebiet des heutigen Florida (zeitgenössische Darstellung)

Die Behandlung der Eingebornen war natürlich am tollsten in den nur zum Exporthandel bestimmten Pflanzungen, wie Westindien, und in den dem Raubmord preisgegebenen reichen und dichtbevölkerten Ländern, wie Mexiko und Ostindien. Jedoch auch in den eigentlichen Kolonien verleugnete sich der christliche Charakter der ursprünglichen Akkumulation nicht. Jene nüchternen Virtuosen des Protestantismus, die Puritaner Neu-Englands, setzten 1703 durch Beschlüsse ihrer Assembly eine Prämie von 40 Pfund Sterling auf jedes indianische Skalp und jede gefangne Rothaut, 1720 Prämie von 100 Pfund Sterling auf jedes Skalp, 1744 (…) für männliches Skalp, zwölf Jahre und darüber, 100 Pfund Sterling neuer Währung, für männliche Gefangne 105 Pfund Sterling, für gefangne Weiber und Kinder 50 Pfund Sterling, für Skalps von Weibern und Kindern 50 Pfund Sterling! Einige Dezennien später rächte sich das Kolonialsystem an der unterdes aufrührerisch gewordnen Nachkommenschaft der frommen pilgrim fathers. Unter englischem Antrieb und Sold wurden sie tomahawked. Das britische Parlament erklärte Bluthunde und Skalpieren für »Mittel, welche Gott und die Natur in seine Hand gegeben«.

Das Kolonialsystem reifte treibhausmäßig Handel und Schiffahrt. Die »Gesellschaften Monopolia« (Luther) waren gewaltige Hebel der Kapitalkonzentration. Den aufschießenden Manufakturen sicherte die Kolonie Absatzmarkt und eine durch das Marktmonopol potenzierte Akkumulation. Der außerhalb Europa direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital. Holland, welches das Kolonialsystem zuerst völlig entwickelte, stand schon 1648 im Brennpunkt seiner Handelsgröße. Es war »in fast ausschließlichem Besitz des ostindischen Handels und des Verkehrs zwischen dem europäischen Südwesten und Nordosten. Seine Fischereien, Seewesen, Manufakturen übertrafen die eines jeden andren Landes. Die Kapitalien der Republik waren vielleicht bedeutender als die des übrigen Europa insgesamt«¹. Gülich vergißt hinzuzusetzen: Hollands Volksmasse war schon 1648 mehr überarbeitet, verarmter und brutaler unterdrückt als die des übrigen Europas insgesamt.

Heutzutage führt industrielle Suprematie die Handelssuprematie mit sich. In der eigentlichen Manufakturperiode dagegen ist es die Handelssuprematie, die die industrielle Vorherrschaft gibt. Daher die vorwiegende Rolle, die das Kolonialsystem damals spielte. Es war »der fremde Gott«, der sich neben die alten Götzen Europas auf den Altar stellte und sie eines schönen Tages mit einem Schub und Bautz sämtlich über den Haufen warf. Es proklamierte die Plusmacherei als letzten und einzigen Zweck der Menschheit.

Das System des öffentlichen Kredits, d. h. der Staatsschulden, dessen Ursprünge wir in Genua und Venedig schon im Mittelalter entdecken, nahm Besitz von ganz Europa während der Manufakturperiode. Das Kolonialsystem mit seinem Seehandel und seinen Handelskriegen diente ihm als Treibhaus. So setzte es sich zuerst in Holland fest. Die Staatsschuld, d. h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld.² Daher ganz konsequent die moderne Doktrin, daß ein Volk um so reicher wird, je tiefer es sich verschuldet. Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.

Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. (…) Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentliche leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebensoviel Bargeld. Aber auch abgesehn von der so geschaffnen Klasse müßiger Rentner und von dem improvisierten Reichtum der zwischen Regierung und Nation die Mittler spielenden Finanziers – wie auch von dem der Steuerpächter, Kaufleute, Privatfabrikanten, denen ein gut Stück jeder Staatsanleihe den Dienst eines vom Himmel gefallenen Kapitals leistet – hat die Staatsschuld die Aktiengesellschaften, den Handel mit negoziablen Effekten aller Art, die Agiotage emporgebracht, in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie.

1 Gustav von Gülich: Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus der bedeutendsten handeltreibenden Staaten unserer Zeit. Erster Band. Jena 1830, S. 371

2 William Cobbett bemerkt, daß in England alle öffentlichen Anstalten als »königliche« bezeichnet werden, zum Ersatz dafür gab es jedoch die »National«-Schuld (national debt).

Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, 24. Kapitel: »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«, sechster Abschnitt: »Genesis des industriellen Kapitalisten«. Vierte Auflage, Hamburg 1890. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), 23. Band. Dietz-Verlag, Berlin 1969, S. 781–783

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