Referenten aus sieben Ländern, Kunstausstellung und viel Musik: Afrika war der Schwerpunkt der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2018 im Mercure-Hotel MOA in Berlin.
Die Förderung marxistischer Literatur wird fortgeführt. Wie bereits auf der XXII. Rosa-Luxemburg-Konferenz angekündigt, wird eine weitere Grundlagenschrift Lenins neu herausgegeben. Die Historiker Volker Külow und Wladislaw Hedeler haben ihre kritische Neuauflage von »Staat und Revolution« des russischen Revolutionärs vorgestellt. Der Band enthält zudem Texte, die in früheren Lenin-Ausgaben nicht enthalten waren sowie Essays des Historikers Wolfgang Küttler und des Juristen Hermann Klenner.
Die beiden Herausgeber knüpfen unmittelbar an ihren erfolgreichen ersten Band, Lenins »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, an. Die erste Auflage ist bereits ausverkauft, eine zweite erschienen.
Über die Zukunft weiterer Neuausgaben sagte Wladislaw Hedeler: »Das Vorhaben, die komplette Lenin-Ausgabe neu zu edieren, wäre ein Lebenswerk. Wir sind zu zweit bzw. zu dritt mit Manfred Neuhaus, der neu dazugekommen ist.« Das Anliegen hinter »Staat und Revolution«, welches mit Hilfe der Zeitung junge Welt im Verlag 8. Mai erscheint, ist es laut Hedeler, »Lenins Laboratorium« nachvollziehen zu können.
Der Imperialismus scheut nicht die Entfesselung von Kriegen oder Bürgerkriegen. Das musste auch Clotilde Ohouochi am eigenen Leib erfahren. Von 2000 bis 2011 war sie Sozialministerin von Côte d’Ivoire. Doch durch einen Bürgerkrieg kam der vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy unterstützte Präsident Alassane Ouattara an die Macht, um die Interessen des Nordens durchzusetzen. Ohouochi musste flüchten. Sie ist Mitglied der linken Front Populaire Ivoirien.
In ihrem Referat ging sie auf die Auswirkungen des Imperialismus auf Afrika im Allgemeinen und auf Côte d’Ivoire im Speziellen ein. Sie erinnerte an die Berliner Konferenz von 1880, bei der die europäischen Mächte Afrika unter sich aufteilten. »Die Aufteilung der Welt in Einflussbereiche bleibt trotz Globalisierung eine brennende Realität«, stellte sie am Ende fest.
Am Beispiel von Côte d’Ivoire zeige sich das neoliberale Konzept des »Françafrique«: Französische Unternehmen erhalten in ehemaligen französischen Kolonien Privilegien und Zuschläge für Aufträge ohne Ausschreibung. Von den fast zweistelligen Raten des Wirtschaftswachstums in der Côte d’Ivoire merken viele Bewohner nichts. An der Armut im Land ändere der Aufschwung wenig. Für Ohouochi ist klar, wie man der Misere ein Ende bereiten kann: »Wir richten uns gegen die Auswüchse des ungezügelten Kapitalismus, gegen die Ausbeutung von Ressourcen gegen die Unterstützung von Diktatoren!«
Ein Gedenken für Daniel Viglietti, den bekannten linken Liedermacher aus Uruguay, der im Oktober 2017 gestorben ist, mit dem Schauspieler Rolf Becker, den Liedermachern Tobias Thiele und Nicolás Miquea. Becker und Vigletti waren alte Freunde. Im Februar 2017 hatten sie einen gemeinsamen Auftritt bei der Gala zum 70. Geburtstag der jungen Welt in Berlin.
Viglietti sang »menschliche Lieder«, sagt Becker, »Lieder, die wir gemeinsam schreiben und singen müssen«. Der Sänger des Canto Popular hatte mit den Tupamaros zusammengearbeitet und war deshalb 1972 verhaftet worden. 1973 kam er durch eine internationale Solidaritätskampagne frei – wenige Tage vor dem Militärputsch im Juni. Er ging ins französische Exil und sang seine Lieder, auch im Namen derer, die von den Militärs verfolgt, gefoltert und ermordet wurden. »Eine Stimme, die singt, hinter meiner«, hob Tobias Thiele auf der Bühne an und Becker ergänzte: »Diese Stimme kommt aus begrabenen Mündern, eine Stimme, die sagt, dass sie jetzt leben, in deinen Worten, in deinem Blick. Sie sind ein Weg, der beginnt.«.
Und dann hörte man dieses Lied von Daniel Viglietti selbst, eine Filmaufnahme vom Auftritt für die junge Welt wurde hinter Thiele, Miquea und Becker eingeblendet. Das war anrührend, sozialistisch und psychedelisch. Das Publikum im Saal des MOA klatschte, das Publikum im Film klatscht und Daniel Viglietti klatscht mit. Danach sang Miquea auf spanisch ein Lied über das »Entzäunen«, ein Wort, das es im Deutschen nicht gibt. Es fragt die Mächtigen: »Habt ihr je daran gedacht, dass dieses Land uns gehört und nicht denjenigen, die mehr haben?« Es folgte ein expressives Gitarrensolo.
»Wahlen 2018 ohne Lula sind Betrug«: An einem Informationsstand informieren auf der Konferenz in Deutschland lebende Brasilianer über die Situation in ihrem Land nach dem parlamentarischen Putsch und die politisch-motivierte Verfolgung des früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) durch die Justiz. Die Initiative »SOS Lula Berlin« unterstützt damit die internationale Kampagne, die in der von den rechten Eliten betriebenen Ausschaltung des populären Politikers, der nach Umfragen bei der Präsidentschaftswahl in diesem Jahr den Sieg davontragen würde, einen weiteren schweren Anschlag auf Demokratie und Rechtsstaat in Brasilien sieht. Sie möchte die Öffentlichkeit aufklären und zur Solidarität mobilisieren.
Der Publizist, jW-Autor und Sozialwissenschaftler Jörg Kronauer referierte über den deutschen Imperialismus seit 1871. »Die deutschen Truppen haben den ersten Genozid im 20. Jahrhundert begangen«, erinnerte er. Bis heute habe die Bundesregierung den Nachkommen der Opfer der Herero und Nama keine Entschädigung gezahlt. Die frühere Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) habe 2004 anlässlich des Gedenkens an den Völkermord hundert Jahre zuvor im heutigen Namibia lediglich »im Sinne des gemeinsamen Vater Unsers um Vergebung unserer Schuld« gebeten, damit keine juristischen Ansprüche der Opfer geltend gemacht werden könnten.
Die kolonialen Verhältnisse in Afrika seien im ökonomischen Sinne heute noch vorhanden: Deutschland habe Interesse an den Rohstoffen und an dem Kontinent als Absatzmarkt. Doch der Handelsanteil mit afrikanischen Ländern sinke, während vor allem Chinas Einfluss wachse.
Die im Rahmen der deutschen G-20-Präsidentschaft entwickelte Strategie »Compact with Africa« definiere den Kampf zwischen Deutschland und Frankreich um die Vormacht. Die deutsche Industrie wolle einen stärkeren Einfluss in Côte d’Ivoire, dem traditionellen Einflussgebiet von Paris, geltend machen. Der Bundeswehr-Einsatz in Mali werde nicht aus humanitären Gründen geführt. Vielmehr sollten Flüchtlinge, die nach Europa wollen, schon in der Sahel-Zone gestoppt werden.
Internationales Kapital zerstört und tötet. Der natürliche Reichtum der Nationen wird rücksichtslos ausgebeutet – auf Kosten der Bevölkerung. Einer der das selbst erfahren hat und sich mit diesen Zuständen nicht abfinden will, ist der Nigerianer Nnimmo Bassey. Der Architekt, Dichter, Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises des Jahres 2010 kämpft seit nunmehr gut drei Jahrzehnten gegen die Abhängigkeit seines Landes von Öl und Gas und die extreme Ungleichverteilung von Reichtum.
In seinem die Konferenz eröffnenden Referat sprach Bassey über die vielfältigen Weisen, wie die Jagd nach Profit Menschen und Natur in Afrika ruiniert.
Deutlich wurde dabei, dass die Bevölkerung der afrikanischen Staaten ganz und gar entmündigt ist, andererseits die Aktivitäten transnationaler Konzerne als Segen und humanistische Tat gepriesen werden. »Die Afrikaner sollen nicht mitreden, welche Nahrung sie zu sich nehmen«, sagte Bassey. Das diktieren die Lebensmittelkonzerne wie Monsanto. »Sie untergraben unsere Weise der Nahrungsmittelproduktion. Die Afrikaner haben keine Lebensmittelsouveränität. Es handelt sich nicht mehr bloß um Landraub, sondern um den Raub eines ganzen Kontinents.«
Katastrophal seien auch die Auswirkungen der Ausbeutung von Rohstoffen. Denn die meisten Konflikte in Afrika seien solche, die um Mineralien, Metalle etc. geführt werden. Dabei hätten entsprechende Unternehmen keine Rechenschaftspflicht gegenüber den lokalen Communities, so Bassey. Ein Mineralölkonzern wie Shell betreibe im Nigerdelta Ausbeutung ohne den Hauch von Verantwortung und schaffe sich mit den korrupten Regierungen ein stabiles Umfeld für seine Interessen und Geschäfte. »Shell verschmutzt den Boden und verseucht das Grundwasser«. Aber der Widerstand gegen die Ölkonzerne werde stärker. Bassey erzählte, er kooperiere mit Fischern in mehreren afrikanischen Ländern, denn die Fischgründe werden aufgrund der Verschmutzungen durch die Offshore-Bohrungen immer kleiner.
»Notwendig ist«, und damit schloss Bassey, »eine internationale Solidarität gegen die Konzerne. Sie müssen nicht nur zahlen, sondern auch den Dreck aufräumen, den sie hinterlassen haben.«
Kein Internationalismus ohne Antiimperialismus: Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz wurde erneut die Notwendigkeit hervorgehoben, sich gegen weitere Aufrüstung einzusetzen. Der Friedensaktivist Walter Listl, rief die Anwesenden dazu auf, im nächsten Monat wieder auf die Straße zu gehen. Am 17. Februar werde erneut die sogenannte Münchner Sicherheitskonferenz zusammentreten. »Die ist nichts anderes als eine Zusammenrottung von Waffenhändlern, Kriegsstrategen und ihren politischen Helfershelfern«, so Listl. Deren Treffen müsse gestört werden, denn die Kriegsgefahr nehme derzeit zu.
Doch nicht nur die traditionelle Friedensbewegung engagiert sich gegen die weitere Militarisierung der Bundesrepublik. Unter dem Titel »Abrüsten statt Aufrüsten« sammelt eine Initiative Unterschriften gegen die Erhöhung der Rüstungsausgaben. Barbara Majd-Amin von der Friedenskoordination Berlin führte aus, was die 2014 von den NATO-Staaten beschlossene Aufstockung der Armeebudgets auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die BRD bedeuten würde: Statt derzeit 37 Milliarden Euro für Armee und Rüstung würden dann 75 Milliarden Euro ausgegeben werden.
Besonders an dieser Kampagne ist die Beteiligung vieler Gewerkschafter, darunter auch bedeutender Funktionäre wie Malis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Demonstration gegen die Münchner »Sicherheitskonferenz«: 17. Februar, 13 Uhr, am Stachus, München. Kampagne »Abrüsten statt Aufrüsten«: www.abruesten.jetzt
Nicht wenige Besucher der Rosa-Luxemburg-Konferenz kommen schon seit vielen Jahren am zweiten Januarwochenende nach Berlin. Junge Menschen, ältere Menschen. Aus allen Teilen der Bundesrepublik und aus dem Ausland. Das Publikum ist bunt gemischt. Manche nehmen für ihre Teilnahme eine weite Anreise in Kauf. Die eine aus Stuttgart, ein anderer aus München. Für viele ist es ein Pflichttermin und eine gute Gelegenheit Freunde, alte Bekannte oder auch Genossen zu treffen.
Rhythmisch fängt die XXIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin an: Die Mitglieder der Gruppe Ingoma sind in den Hauptsaal eingezogen. Die Burundi-Trommler sind Vertreter der Kultur ihres Landes, ihr Ritualtanz ist einzigartig in der Welt und zwingt zu Bewegung. Was könnte besser zur RLK passen?
In ihre Eröffnungsansprachen machten die Moderatoren Dr. Seltsam und Gina Pietsch auf die Bedeutung von Traditionen für den Befreiungskampf aufmerksam. Das diesjährige Motto der Konferenz, Amandla! Awethu! (in etwa: Alle Macht dem Volk!) sei schon vom südafrikanischen ANC, der gegen die Apartheid kämpfte, benutzt worden.
Wenige Stunden vor Beginn der XIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz sind in Berlin Referenten und Gäste zusammengekommen, um sich kennenzulernen und auf den morgigen Tag einzustimmen. jW-Chefredakteur Stefan Huth stellte die Arbeit der jungen Welt und des Verlags 8. Mai den Gästen aus Afrika, Lateinamerika, Asien und Europa vor.
Geschäftsführer Dietmar Koschmieder informierte die Anwesenden über die Geschichte der Konferenz und zitierte Gegner, die von der Rosa-Luxemburg-Konferenz als dem wichtigsten Treffen der radikalen Linken sprechen. Zudem verwies er auf die nahezu hundertjährige Geschichte der LL-Demonstration zur Erinnerung an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, eine Tradition, die auch durch Schikanen und Verbote nicht abgebrochen werden konnte.
Der Abend klang bei einem Glas Wein oder einem Schluck Bier aus. Die Gäste aus Kamerun, Nigeria, Côte d’Ivoire, Kuba, Venezuela, Österreich, Dänemark, China und anderen Ländern hätten so die Gelegenheit, sich kennenzulernen. Die Zeichen stehen vor der Konferenz am Sonnabend auf Erfolg.
Das Deutsche Reich war die viertgrößte Kolonialmacht der Welt. Vor allem in Afrika gingen Soldaten und Siedler mit brutaler Gewalt gegen die Einheimischen vor
Ulrich van der Heyden
Die Eroberung der überseeischen Welt durch Europäer ging von Anfang an mit mannigfachen Formen der Gewalt einher. Betrug, Drohungen und brutale Gewaltexzesse begleiteten den Kolonisierungsprozess. Seit Kolumbus 1492 Amerika entdeckt hatte, floss Blut, wurden Menschen versklavt, zur Zwangsarbeit und zu Abgaben verpflichtet, gedemütigt, getötet, vertrieben und übervorteilt. Alle europäischen Mächte, die sich mit Schwert und Feuer in Amerika, Asien, Australien, Afrika und in Ozeanien ihre Kolonialreiche, in der Regel abgesegnet durch die großen staatstragenden Kirchen, zusammenraubten, errichteten eine Zwangsherrschaft, die in Afrika erst ab 1960, dem »Afrikanischen Jahr«, beendet werden konnte. Allerdings war damit noch nicht die volle nationale Selbstbestimmung erreicht. Die Gewalt zur Aufrechterhaltung der sozialen Ungleichheit hält, wenn auch oftmals in modifizierter Form, nicht zuletzt befeuert durch den Kalten Krieg und neokoloniale Ausbeutungsmethoden, in einigen Gebieten der Erde bis heute an.
Gewalt war auch das Markenzeichen der Deutschen, die sich nach der sogenannten Berliner Kongokonferenz von 1884/85 an der Aufteilung des afrikanischen Kontinents beteiligten. Hier errichteten sie in Deutsch-Ostafrika (heute vornehmlich die Staatsgebiete von Tansania, Burundi und Ruanda), in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), in Kamerun und Togo ihre Herrschaft.
Kritik im Deutschen Reich
Über das spezifische Ausmaß sowie zum Vergleich der Gewaltmethoden in den deutschen Kolonialgebieten gibt es bisher nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Dies ist eine seit Jahren erhobene Kritik an der Historiographie. Mit einer komparatistischen Analyse der Methoden und Formen der überseeischen Herrschaftsausübung der europäischen Kolonialmächte war man ebenfalls zurückhaltend. Das trifft auch auf Forschungen zur Kolonialkritik in den europäischen »Muttergesellschaften« zu.
Dabei ging eine Welle der Empörung durch das Deutschland der Kaiserzeit, als die Gräuel im Kongo, die systematische Ausplünderung des Kongo-Freistaates, der sich quasi im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. befand, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt wurden. Menschen mit abgehackten Händen waren wohl das typischste Symbol dieser Gewaltexzesse. Als diese durch die sich verbreitende Fotografie hierzulande bekannt wurden, verstärkte sich die Kritik am Kolonialismus bis hin zu dessen kategorischer Ablehnung. Aber nur die wenigsten sahen, dass diese Gräuel einem System entstammten, nach welchem auch die Deutschen ihre Kolonien verwalteten und das dort jeder auftretende Widerstand mit Gewalt unterdrückt wurde. Jedoch gab es schon damals Proteste gegen die Kolonialpolitik, was heute viel zu wenig wahrgenommen wird.
Drei unterschiedliche politische Gruppierungen traten gegen den Kolonialismus auf: erstens die Kritiker innerhalb der christlichen Missionsgesellschaften, die sich als »Anwalt der Eingeborenen« verstanden; zweitens liberale Politiker, die aus humanitären Gründen die Kolonialpolitik oder wesentliche Bestandteile davon in Frage stellten; und drittens Teile der Arbeiterbewegung, die sich unter dem politischen Dach der Sozialdemokratie organisierten.
Haltung der Sozialisten
Im Prinzip gab es schon bald nach dem Erwerb von Kolonialgebieten durch das Deutsche Reich Kritik aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an einzelnen Erscheinungen der deutschen Kolonialpolitik. Am 26. Januar 1889 beispielsweise griff August Bebel den Kolonialabenteurer Carl Peters, der wegen seiner Grausamkeiten in Ostafrika als »Hänge-Peters« bekannt wurde, und dessen Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft im Deutschen Reichstag scharf an. Am 17. Februar jenes Jahres setzte er sich dort auch mit den kolonialbegeisterten Vertretern der Regierungsparteien auseinander und wies deren Argumentation zurück, dass Deutschland den überseeischen Kulturen die Zivilisation bringen müsse: »Meine Herren, was bedeutet denn aber in Wahrheit Ihre christliche Zivilisation in Afrika? Äußerlich Christenthum, innerlich und in Wahrheit Prügelstrafe, Weibermisshandlung, Schnapspest, Niedermetzelung mit Feuer und Schwert, mit Säbel und Flinte. Das ist Ihre Kultur. Es handelt sich um ganz gemeine materielle Interessen, ums Geschäftemachen und um nichts weiter!«
Bebel lehnte den Kolonialismus jedoch nicht grundsätzlich ab. Das zeigte sich in seiner Rede während der sogenannten Kolonialdebatte vom 1. Dezember 1906: »Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik betrieben wird. (…) Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften, wie es z. B. die europäischen Nationen und die nordamerikanische sind, zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind.«¹
Die weitgehende Zurücknahme vorheriger Äußerungen sozialdemokratischer Politiker zum Kolonialismus hatte seine Ursache in der seit den 1880er Jahren verstärkt geführten Diskussionen um eine »sozialistische Kolonialpolitik«, einem Bestandteil des Revisionismus um den einflussreichen SPD-Politiker Eduard Bernstein. Die Befürworter des Kolonialismus innerhalb der Arbeiterbewegung machten sich einen damals allgemein diskutierten Grundsatz zu eigen, der davon ausging, dass es das »Recht der höheren Kultur« sei, den »unterentwickelten Kulturen« ihre vermeintlichen Errungenschaften zu bringen. Dies sei geradezu notwendig – auch unter Anwendung von Gewalt. Am konsequentesten widersprach Karl Kautsky solchen Auffassungen.
Zu den wenigen generellen Kritikerinnen des Kolonialismus in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gehörte Rosa Luxemburg. Sie betrachtete ihn als einen immanenten Bestandteil des Imperialismus. Und August Bebel etwa kritisierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vehement den Krieg gegen die Herero und Nama in der deutschen Kolonie Südwestafrika.
»Heia Safari«
In der Afrika- und Kolonialgeschichtsschreibung wurde die Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung nicht durchweg kolonialbegeistert gewesen ist, bislang wenig beachtet.² Seltsamerweise spielten diese Themen, sieht man von einigen Arbeiten zur antikolonialen Haltung der deutschen Sozialdemokratie ab, bisher kaum eine Rolle. Wer sich mit der Geschichte der deutschen Kolonialismusforschung beschäftigt, wird feststellen, dass zuerst die DDR-Forscher an den Ende der 1950er Jahren von der Sowjetunion zurückgegebenen einschlägigen Archivbeständen arbeiteten. Damit wurde die »kolonialkritische Kolonialismusforschung« von Helmuth Stoecker, Walter Markov und anderen begründet. Als Standardwerke gelten bis heute der von Stoecker 1977 herausgegebene Sammelband »Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges«, das nach wie vor aktuelle Werk von Peter Sebald über »Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen ›Musterkolonie‹ auf der Grundlage amtlicher Quellen« (1988) und das mehrfach neuaufgelegte und auf Initiative der Vereinten Nationen in verschiedene Sprachen übersetzte Buch von Horst Drechsler »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« (1966). Letzterer hatte als erster Historiker den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord bezeichnet.
Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann man sich auch in der BRD mit der deutschen Kolonialgeschichte kritisch auseinanderzusetzen. Den öffentlichen Anlass hierfür bot eine vom WDR produzierte und von Ralph Giordano erarbeitete TV-Dokumentation mit dem Titel »Heia Safari«, die bei den Kolonialverteidigern zu ablehnenden Reaktionen bis hin zu Randalen im Fernsehstudio führte. In den 1970er und 1980er Jahren beschäftigten sich nur wenige Historiker der damaligen Bundesrepublik mit der kolonialen Vergangenheit, in der DDR waren es vornehmlich Wissenschaftler an den Universitäten in Leipzig und Berlin sowie an der Akademie der Wissenschaften. Wenn auch weitgehend getrennt, konnten einige Kolonialverbrechen aufgearbeitet oder doch zumindest in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden. International anerkannte Ergebnisse wurden vorgelegt. Das hinderte jedoch später die aus dem Westen des dann vereinten Deutschlands kommenden Evaluatoren nicht, ihre Kollegen von den nunmehr neu ausgeschriebenen Stellen an den ostdeutschen Lehr- und Forschungsinstitutionen zu verdrängen.
Ein Jahrzehnt später begann dann geradezu ein Forschungsboom. Ausgehend von den USA wurden auch in Deutschland die postkolonialen Studien begründet.³ Seither ist eine kaum zu überblickende Anzahl von einschlägigen Forschungsarbeiten erschienen.
Krieg gegen die Herero und Nama
Die Ursachen des Krieges der deutschen Kolonialsoldateska gegen die Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 sahen einige führende Sozialdemokraten in der Existenz des kolonialen Ausbeutungssystems. Die meisten SPD-Politiker schienen nunmehr den verbrecherischen Charakter der mit Gewalt ausgeübten Kolonialherrschaft erkannt zu haben: »Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz.«4 Die Kritik August Bebels gipfelte in dem Vorwurf, dass die Methoden der Kolonialpolitik auch bald die Innenpolitik bestimmen könnten: »Das ist die Politik, mit der Sie Tag für Tag noch einen großen Teil Ihrer eigenen Landesangehörigen behandeln.«
Was war geschehen? Die durch die Kolonialherrschaft hervorgerufenen Existenzängste der afrikanischen Bevölkerung hatten zu einem Aufstand geführt, der im Januar 1904 mit dem Angriff der Ovaherero unter Samuel Maharero auf deutsche Einrichtungen und Farmen begann. Da die »Schutztruppe« damit nicht gerechnet hatte, entsandte die Reichsregierung umgehend Verstärkung. Die von Generalleutnant Lothar von Trotha befehligte, 15.000 Mann umfassende Truppe, schlug den Aufstand der Herero bis zum August 1904 blutig nieder. Ein großer Teil der Herero floh daraufhin in die Omaheke-Wüste, in der es kaum Wasser gab. Von Trotha ließ den Landstrich abriegeln und Flüchtlinge von den wenigen Wasserstellen verjagen. Tausende Herero mitsamt ihren Familien und Rinderherden verdursteten.
Der grausame Krieg zur Unterwerfung der Herero trieb auch die Nama unter ihren Führern Hendrik Witbooi und Jakob Morenga zur Rebellion. Sie begannen einen Guerillakrieg. Hendrik Witbooi, das Oberhaupt der Nama, hatte sich über die deutsche Kolonialverwaltung in einem Brief beschwert: »Der Deutsche (…) führt Gesetze ein, (…) (die) völlig unmöglich sind, unhaltbar, unerträglich, undankbar und grausam. (…) Er züchtigt Menschen auf schändliche und grausame Weise. Wir, die er für dumm und unintelligent hält, haben niemals menschliche Wesen auf so erbarmungslose und unangebrachte Art behandelt wie er, der Menschen auf den Rücken legt und ihnen auf den Bauch und zwischen die Beine prügelt, Männer wie Frauen, von denen (…) keiner solch eine Strafe überleben kann.«
Im März 1908 mussten die Nama aufgeben. Zu überlegen waren die militärtechnischen Möglichkeiten der Kolonialtruppe. Auch die Herero hatten sich unterworfen. Von der geschätzt 60.000 bis 80.000 Personen zählenden Ethnie lebten 1911 nur noch 20.000. Nach Abschluss der Kampfhandlungen wurden die Herero und Nama in von den Briten abgeschaute Konzentrationslager gesperrt, in denen annähernd jeder zweite Insasse an Krankheiten und Hunger verstarb. Es wird geschätzt, dass beim Völkermord in Deutsch-Südwestafrika etwa 40.000 bis 60.000 Herero sowie rund 10.000 Nama ums Leben kamen.
Infolge des langwierigen und kostenaufwendigen Kolonialkrieges kam es im politischen System des Deutschen Reichs zu einer Krise. Im Reichstag sollte deshalb ein Nachtragshaushalt die rücksichtslose Kriegführung finanzieren. Die SPD und Teile der Zentrumspartei weigerten sich. Die Änderung am Budget wurde abgelehnt, der Reichstag daraufhin aufgelöst, und Neuwahlen wurden angesetzt. In einem bisher kaum gekannten Ausmaß an nationalistischer Propaganda versuchten die Vertreter der großbürgerlichen und junkerlichen Parteien, sekundiert und angespornt von prokolonialistischen Organisationen, für ein »hartes Durchgreifen« im Krieg gegen die aufständischen Afrikaner Stimmung zu machen. Ein Teil der deutschen Bevölkerung geriet in einen Taumel der Kriegsbegeisterung und des Chauvinismus. Mit den sogenannten Hottentottenwahlen am Beginn des Jahres 1907 hoffte Reichskanzler Bernhard von Bülow, eine ihm genehmere Zusammensetzung des Reichstags zu erreichen. Sein Ziel war, SPD und Zentrum in einer groß angelegten Kampagne als kolonialfeindlich, antinational und somit als Vaterlandsverräter abzustempeln und gleichzeitig einen zuverlässigen regierungsfreundlichen Block aus konservativen, nationalliberalen und liberalen Abgeordneten zu schaffen. Trotz intensiver gegen sie gerichteter Hetze gewann die SPD die Wahl zwar in absoluten Zahlen. Aber eine undemokratische Wahlkreiseinteilung sowie der Zusammenschluss konservativer Parteien zu einem Wahlbündnis im Falle von Stichwahlen verringerte die Anzahl der Abgeordneten der SPD im Reichstag dramatisch von 81 auf 43. Das Zentrum blieb stabil.
Den Misserfolg bei den Wahlen von 1907 konnten viele sozialdemokratische Abgeordnete nicht vergessen. Er sollte nicht unerhebliche Bedeutung für deren Verhalten im August 1914 haben: Um nicht erneut des Vaterlandsverrats geziehen zu werden, stimmten sie nunmehr fast geschlossen für die Kriegskredite.
Der Völkermord an den Herero- und Nama war nicht das einzige Kolonialverbrechen des deutschen Kaiserreichs. In allen vier deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent setzten die aus dem Reich in die Tropen gereisten neuen Herren, die in ihrer Heimat oft genug gescheiterte Existenzen waren, ihre vermeintlichen Ansprüche mit Gewaltmaßnahmen durch. In Erinnerung ist dort bis heute der Ausspruch: »Und noch einer für den Kaiser!« Damit wurde bei den Prügelstrafen ein zusätzlicher Peitschenhieb zu »Ehren des Kaisers« angekündigt. Ziel aller Gewaltmittel war letztendlich der Raub des Landes der Einheimischen. Mit der Ausbeutung der dort lebenden Menschen sollten die für die koloniale Verwaltung notwendigen Finanzmittel durch Steuern und Zwangsarbeit erbracht werden. Nach dem Motto »Teile und herrsche« wurden die Streitigkeiten unter den indigenen Herrschern ausgenutzt und Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppierungen geschürt.
Maji-Maji-Aufstand
Neben dem Krieg gegen die Herero und Nama stand damals auch der Maji-Maji-Krieg im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Arbeitszwang und Willkür waren die Hauptursachen für dessen Ausbruch. Eine Allianz von Angehörigen afrikanischer Ethnien erhob sich von 1905 bis 1907 im Süden der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Der bewaffnete Widerstand, einer der größten Kolonialkonflikte in der Phase der Eroberung Afrikas, endete mit einer verheerenden Niederlage. Die Mehrheit der Getöteten starb allerdings nicht durch Gewehrkugeln, sondern verhungerte, weil die deutsche »Schutztruppe« Felder und Dörfer niederbrannte. Ganze Landstriche wurden so entvölkert. Schätzungen zufolge starben bis zu 300.000 Menschen. Obwohl in der DDR die ersten diesbezüglichen Forschungen schon Anfang der 1960er Jahre veröffentlicht wurden, ist dieser Krieg noch immer nicht wirklich Teil der deutschen »Erinnerungskultur«.
Noch weniger bekannt ist, wie die Deutschen in Kamerun ihre Macht durchsetzten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass zuweilen bis in die jüngste Zeit die Errichtung und Durchsetzung der dortigen Kolonialherrschaft beschönigt wird. Weil seit etwa 1907 eine Korrektur der Herrschaftsmethoden erfolgte, ist gar von einer »humanen Kolonialpolitik« die Rede. Nicht mehr blinde Gewalt sollte im Mittelpunkt der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Herrschaft stehen, sondern effektive Ausbeutung. Der Nestor der deutschen Kolonialhistoriographie, Helmuth Stoecker, erklärte dies mit der Tatsache, dass nunmehr die Aufteilung der Erde unter den imperialistischen Großmächten abgeschlossen gewesen sei und »eine intensive Ausbeutung des Kolonialbesitzes« einsetzte.
Doch die Ausbeutung der Kameruner Bevölkerung auf den Plantagen, beim Straßen- und Eisenbahnbau war eine räuberische Praxis. Außerökonomischer Zwang spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die zukünftigen Arbeitskräfte wurden durch Alkohol gefügig gemacht, die Häuptlinge bestochen. Die Landräuber gingen mit rücksichtsloser Gewalt vor, die Sterblichkeit unter den Arbeitern nahm riesenhafte Ausmaße an. Die jährliche Todesrate lag 1913 unter den Eisenbahnarbeitern bei 13, ein Jahr später bei 16 Prozent. Bereits die Strapazen des Marsches zu den Baustellen überlebten viele der oftmals aneinander gefesselten Arbeiter nicht. In einer der ersten kolonialkritischen Untersuchungen, die in der DDR erschienen, heißt es hierzu: »Hungerlöhne, übermäßig lange Arbeitstage, ungenügende Ernährung, mangelhafte Unterkünfte, Frauen- und Kinderarbeit, ein zerrüttetes Familienleben, ein früher Tod, Prügel- und Kettenstrafen – das war das Los der Arbeiter in Kamerun.«5 Solche Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verbunden mit Methoden der Vertreibung großer Teile der afrikanischen Bevölkerung von Grund und Boden führten zu passivem und auch aktivem Widerstand. Die Kolonialregierung reagierte: Zwischen 1906 und 1914 erhöhte sich die Anzahl der Strafurteile von jährlich 3.150 auf 11.229; die Zahl der Gefängnisstrafen stieg von 3.516 auf 5.452 und die der Prügelstrafen von 924 auf 4.800 im Jahr 1909.
Zur Wahrheit gehört auch der Hinweis, dass die deutschen Kolonialsoldaten nicht besonders zahlreich waren, im Jahre 1900 waren nur 15 deutsche Offiziere und 23 Unteroffiziere in Kamerun stationiert. Die Majorität der Kolonialtruppe machten sogenannte Askaris, einheimische paramilitärische Polizeikräfte, und zum Teil in anderen europäischen Kolonien angeheuerte afrikanische Truppen aus. Sie standen, während des Ersten Weltkrieges auf fast 10.000 Mann aufgestockt, alle unter deutschem Befehl.
»Musterkolonie« Togo
Die flächenmäßig kleinste afrikanische Kolonie des deutschen Kaiserreichs war Togo. Das Land galt als »Musterkolonie«, weil man es so stark ausbeuten konnte, dass die dort niedergelassenen Händler, Farmer, Beamten und sonstigen Deutschen kein Verlustgeschäft machten und der Staatshaushalt nicht belastetet wurde. Als wenn ein Kapitalist je einen Pfennig investiert hätte, der nicht Gewinn versprach! Die finanziellen »Verluste« in den anderen deutschen Kolonien trugen die Steuerzahler zu Hause im Reich, also vor allem die Arbeiter.
Trotz Gewaltanwendung bei der militärischen Unterwerfung und bei der Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft erhob sich die einheimische Bevölkerung in Togo nicht. Der Historiker Peter Sebald schreibt: »Es ist festzustellen, dass das Kolonialregime auf allen Gebieten scharfe Konflikte mit der Bevölkerung verursachte. Wenn es nicht (…) zu größeren Aufständen kam, dann besonders, weil die fortgeschrittenere gesellschaftliche Entwicklung der afrikanischen Bevölkerung (…) den deutschen Kolonialismus zur Anwendung differenzierterer Methoden veranlasste.«6 Die deutsche Kolonialverwaltung arbeitete deshalb eher mittels Repressionsmaßnahmen, die von der Justiz abgesichert wurden. Die Zahl der Strafurteile stieg von 1.072 im Jahre 1901/02 auf 6.009 im Jahre 1911/12, die der offiziell verhängten Prügelstrafen von 162 auf 733 im gleichen Zeitraum. Nicht zu unterschätzen ist der andauernde passive Widerstand: Einzelne Personen, zuweilen auch ganze Dörfer, wanderten in die Nachbarkolonien ab.
Ob subtil oder direkt, spontan oder systematisch: Gewalt wandte die deutsche Kolonialadministration in allen von ihr unterworfenen Gebieten an, denn nach dem wie auch immer vonstatten gegangenen Landerwerb ging es darum, die Bevölkerung, die bislang von der Subsistenz- und Naturalwirtschaft gelebt hatte, nun aber zur Produktion von Mehrwert angehalten werden sollte, zur Arbeit zu zwingen. Die Deutschen führten deshalb Kopf- und Hüttensteuern ein. Wer diese nicht entrichten konnte oder wollte, wurde zur Zwangsarbeit verurteilt. Große Teile der indigenen Bevölkerungen gerieten so in Unfreiheit. Auf Widerstand, sei er aktiv oder passiv gewesen, reagierte die deutsche Kolonialadministration ausnahmslos mit Gewalt. Wer da von »humaner Kolonialpolitik« spricht, will in die Irre führen.
Anmerkungen:
1 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 5 (Sitzung am 13.12.1906), Berlin 1906, S. 4057
2 Vgl. Ulrich van der Heyden: Antikolonialismus und Kolonialismuskritik in Deutschland. In: Joachim Zeller/Marianne Bechhaus-Gerst (Hg.): Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2018 (im Druck)
3 Vgl. Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002
4 Zit. n. Axel Kuhn (Hg.): Deutsche Parlamentsdebatten, Bd. 1: 1871 bis 1918, Frankfurt am Main 1970, S. 170
5 Hella Winkler: Das Kameruner Proletariat 1906–1914. In: Helmuth Stoecker (Hg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Berlin 1960, S. 280
6 Peter Sebald: Togo 1900–1914. In: Helmuth Stoecker (Hg.): Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1977, S. 124
Wiederveröffentlicht: Aimé Césaires große Polemik »Über den Kolonialismus« von 1950 ist heute noch lehrreich
Kai Köhler
Vieles, was heute gedacht wird, wurde bereits früher einmal gedacht, und manchmal sogar besser. Darum sind neue Ausgaben von Texten wie Aimé Césaires »Über den Kolonialismus« willkommen. Die 1950 geschriebene, 1955 erweitert vorgelegte Polemik hat an Aktualität nichts verloren.
Césaire, 1913 auf Martinique geboren, war einer der wenigen schwarzen Jugendlichen, denen die französische Kolonialmacht eine gute Ausbildung zugestand. Er nutzte die Kenntnisse, die er so erwarb, um sich gegen die Unterdrücker zu wenden. Von der Brillanz seines Französisch vermittelt der Übersetzer Heribert Becker mehr als nur eine Ahnung: Der mal ironische, mal aggressive Gestus der Sprache ist in den deutschen Wendungen gut erkennbar.
Tatsächlich ist es eine üble Bande, die Césaire den Stoff für sein Buch liefert. Die Großen der französischen Kulturgeschichte wie auch zeitgenössische Parlamentsabgeordnete bevölkern ein Panoptikum, in dem alle Formen des Rassismus ihren Platz finden: von der weißen Herrenmenschenphantasie über vermeintlich zivilisierende Fürsorge bis hin zu der exotistischen Verharmlosung der »Negerkultur« als besonders spirituell – auf dass die Kolonialisierten bloß nicht auf die Idee kommen, materielle Interessen einzufordern.
Sicherlich formulieren heute die Ideologen des Neokolonialismus vorsichtiger. Zwar findet sich immer noch das vermeintliche Lob für die »Primitiven«, die man vorsichtshalber nicht mehr so nennt: Sie seien näher an der Natur und damit glücklicher als der westlich zivilisierte Bürger. Aber die politischen Phrasen kommen heute technokratisch daher. Liest man indessen Césaire, so ist es gar nicht mehr schwierig, die aktuellen Phrasen von »Marktöffnung« und »good governance« zu durchschauen. Man kann das Pamphlet auch ohne den ausführlichen Stellenkommentar gut lesen.
Über die Einzelkritik hinaus treibt Césaire seine Kritik des Kolonialismus ins Grundsätzliche. Die Kolonialherrschaft wirke auch zurück auf den, der sie ausübe. Europa sei »geistig und sittlich unhaltbar« geworden. Er schreibt, was 1950, fünf Jahre nach dem Sieg über den Faschismus, in einem der Siegerländer eine kaum überbietbare Provokation gewesen sein muss: Hitler habe in Europa und an Europäern verübt, was zuvor außerhalb Europas Praxis gewesen sei. Jedem »ach so humanistischen, ach so christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts« gelte es begreiflich zu machen, »dass er selbst einen Hitler in sich trägt« und es Hitler nur nicht verzeihe, seine Verbrechen gegen weiße Menschen gerichtet zu haben.
Hier ließe sich einwenden, dass der Kolonialismus ohne Rücksicht auf den möglichen Tod seiner Opfer Kriege führt und ausbeutet, anders aber als der deutsche Faschismus nicht auf die Ausrottung einer zum Feind erklärten Rasse zielt. Das Gemeinsame jedenfalls, auf das es Césaire ankommt, ist der Kapitalismus. Hitler gilt ihm, in einer schönen Metapher, als das »Vergrößerungsglas«, durch das der Zustand des »nach seinem Überleben trachtenden Kapitalismus« gesehen werden kann. Und so nennt Césaire als die einzige Klasse, »die noch eine universale Aufgabe hat«, nämlich die »engstirnige Tyrannei einer entmenschlichten Bourgeoisie« zu beseitigen, das Proletariat.
Césaire bezieht sich hier auf eine Universalgeschichte, auf eine Entwicklung der Menschheit als Ganze. Dem steht nur bedingt entgegen, dass er die »um ihre Identität gebrachten Gesellschaften«, die »niedergetrampelten Kulturen« beklagt: denn dieser Satz endet in der Trauer um die »vereitelten großen Möglichkeiten«, »Möglichkeiten« sogar kursiv hervorgehoben. Es geht ihm nicht um das jeweils besondere Volk, das unbedingt sein Eigenes zu bewahren habe, sondern um Chancen der Entwicklung, um Beiträge für die Menschheitsgeschichte, die der Kolonialismus gerade verhindert habe.
Ein Problem bleibt. Fragwürdig ist das Lob der vorkolonialen Welt: »Es waren demokratische Gesellschaften – immer«, oder gar: »genossenschaftliche, brüderliche Gesellschaften«. Das ist antikolonialer Trotz. Es lassen sich Beispiele genug nennen, wo wenige Kolonialisten siegten, weil irgendeine unterdrückte Gruppe die Illusion hatte, mit deren Hilfe sich zu befreien. Der Kolonialismus konnte seine neuen Schrecken oft auch deshalb verbreiten, weil er zuerst als Alternative zu alten Schrecken erschien und weil er stets Kollaborateure fand und findet.
Fragwürdig ist auch die Kritik der europäischen Zivilisation als krank und verrottet. Dies stimmt, insofern ihr Humanismus der Rechtfertigung kolonialer Verbrechen diente. Gleichzeitig stimmt es nicht, denn die antikapitalistische Kritik, auf die sich Césaire stützt, ist eben die materialistische Konsequenz des universalistischen europäischen Humanismus. Die Kritik richtet sich damit gegen ihre eigene Grundlage.
Auch in solchen Widersprüchen erweist sich Césaires Kolonialismuskritik als aktuell – schließen doch die dümmeren Vertreter des Postkolonialismus mit ihrem undurchdachten Lob der Vielfalt an die fragwürdigsten Passagen dieses Werks an. Auch in diesem Fall liest man besser das Original. Stärker als Césaires Lob der vorkolonialen Gesellschaften, das zu einer exotistischen Begeisterung fürs Fremde verführen kann, ist sein Argument, dass gerade der Kolonialismus den Prozess der Zivilisierung verhindert. Die koloniale Heuchelei behauptet zwar das Gegenteil – doch kann sich über Heuchelei nur derjenige so beredt wie Césaire empören, der die nur vorgeschobenen Werte im Ernst verteidigt. Es waren glücklichere Zeiten, in denen die Hoffnung bestand, die sozialistische Zivilisierung der Welt zu erleben.
Die Anreise hat begonnen: Zahlreiche Teilnehmer der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz befinden sich bereits in Berlin. Auch die meisten Referentinnen und Referenten sind bereits angekommen. So konnte am Freitag vormittag Prof. Achille Mbembe am Flughafen Tegel begrüßt werden.
Ebenfalls eingetroffen ist die Delegation aus Venezuela mit insgesamt neun Mitgliedern. Leider mussten wir erfahren, dass der bekannte Historiker Vladmir Acosta nicht mitkommen konnte, da er erkrankt ist. Wir wünschen ihm gute Besserung! Doch Vizeaußenminister William Castillo, der Essayist Luis Britto García und Carolus Wimmer, internationaler Sekretär der KP Venezuelas, sind darauf vorbereitet, im Rahmen der Konferenz über die aktuelle Lage in ihrem Land zu berichten.
Lenin lesen: Wer vom Imperialismus spricht, sollte das Monopolkapital nicht vergessen. Gespräch mit Lena Kreymann
Johannes Supe
Bevor am Wochenende der Revolutionäre Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wladimir Lenin gedacht wird, wollen wir über die Aktualität von deren Werk sprechen. In Ihrer Organisation, der SDAJ, wird zum Beispiel noch heute Lenins 1917 erschienene Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« studiert. Warum?
Das Werk hat mindestens zwei, vermutlich aber mehr ganz große Stärken. Die grundlegende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse stimmt nach wie vor. Man kann aus der Schrift aber auch viel darüber lernen, wie man an politische Arbeit herangehen sollte. Denn was tut Lenin? 1916, der erste Weltkrieg tobt, und die Lage spitzt sich in allen Ländern unglaublich zu, schreibt er dieses Buch – und wälzt dafür Statistiken. Er nimmt sich eine Unmenge an Daten vor. Das tut er nicht, weil er sich von der politischen Praxis entfernt hätte. Im Gegenteil: Er betrachtet die Situation genau, macht langfristige Entwicklungstendenzen aus und schlussfolgert, wie die revolutionäre Arbeit aussehen muss. Auch wir müssen so an die Überwindung des Kapitalismus herangehen.
Lenin verweist darauf, dass die Grundlage des Imperialismus die Existenz gewaltiger Monopolkonzerne ist. Er wendet sich gegen ein Verständnis, nach dem Imperialismus nur eine besonders aggressive Politik sei. Heute wird der Begriff meist genau so verwendet.
Die falschen Auffassungen, die er kritisiert, verleiten zur Schlussfolgerung, man müsse einfach die Politikerriege austauschen. Zumal die bürgerliche Geschichtsschreibung auch vom Imperialismus spricht, damit aber nur eine bestimmte, schon beendete Epoche meint. Lenins Imperialismusbegriff ist dagegen sicher nicht vorherrschend. Die Analyse des Monopols, also riesiger marktbeherrschender Unternehmen, ist einer der zentralen Aspekte des Buchs. Lenin leitet aus seiner Untersuchung ab, dass sich die kommunistische Politik vor allem gegen die Herrschaft des Monopolkapitals wenden muss. Die Richtigkeit unserer Analyse müssen wir selbst beweisen und zwar nicht auf rein theoretischem Weg, sondern in den täglichen Auseinandersetzungen um bessere Löhne und Bildung oder gegen Krieg. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte: Etwa wenn wir aufzeigen, dass Auslandseinsätze, also Kriege, im Interesse großer Konzerne stattfinden – und zwar selbst dann, wenn wie in Deutschland die große Mehrheit der Bevölkerung gegen sie ist.
Gerade das ist doch nicht so leicht. Welcher deutsche Konzern profitiert etwa von der Besatzung Afghanistans?
Diese Frage ist mit Sicherheit eine Herausforderung, denn oft stehen längerfristige Interessen dahinter, etwa geostrategische. Die Aufgabe besteht beispielsweise darin, zu schauen, welche Unternehmen die Aufträge erhalten, wenn zynischerweise vom »Wiederaufbau Afghanistans« gesprochen wird. Es dürften in der Regel keine afghanischen, sondern westliche Unternehmen sein. Das genauer aufzuzeigen, wäre notwendig – und unter anderem auch Aufgabe der jungen Welt.
Touché. Ist es nicht deprimierend, heute noch dieses Werk von Lenin lesen zu müssen? Den Imperialismus beschrieb er vor 100 Jahren als »Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbenden Kapitalismus«.
Der Kapitalismus hat seinen vorwärtstreibenden Charakter verloren, den Marx und Engels im Manifest noch ausmachten. Mit der Herausbildung der Monopole werden bereits die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Wirtschaft grundsätzlich anders zu gestalten und gesamtgesellschaftlich zu planen. Der Bourgeois als »gerissener Unternehmer« macht sich zunehmend selbst überflüssig, denn die Verwaltung der Konzerne mit ihren immer größeren Produktionseinheiten wird bereits von Angestellten geleistet. Das brachte Lenin dazu, vom Vorabend des Sozialismus zu sprechen. Doch wie lange dieses Sterben genau dauern wird, kann niemand sagen. Es ist auch kein Automatismus, denn den Kampf um die Abschaffung des Kapitalismus müssen wir selber führen.
Wird nicht vor allem die Entwicklung von schädlichem Unsinn vorangetrieben? Handscanner etwa, die Amazon einsetzt, um die Belegschaft völlig zu überwachen, wird man künftig hoffentlich nicht mehr nutzen.
Das stimmt zum Teil, denn entwickelt wird nach Maßgabe des Profits, nicht der menschlichen Bedürfnisse. Das reicht von Druckern, die zu schnell kaputtgehen, bis hin zur Entwicklung immer neuer Schnellfeuerwaffen. Doch die wesentliche Frage bleibt, in wessen Hand die Technik liegt und wie sie dann gebraucht wird. Dem Kapital muss sie jedenfalls entrissen werden.
Migrantinnen und Migranten bringen Kampferfahrungen mit. Die hiesige Linke muss die Multiethnizität der Arbeiterklasse anerkennen und deren rassistische Spaltung zurückweisen
Selma Schacht
Im Herbst 2015 schien es, als habe sich das offizielle Österreich für kurze Zeit in ein humaneres Mäntelchen gekleidet. Zehntausende Flüchtlinge erreichten österreichischen Boden, wurden an der Grenze und in den Bahnhöfen der großen Städte von etablierten wie auch spontan gegründeten Hilfsorganisationen und Tausenden freiwilligen Helferinnen und Helfern in Empfang genommen. Innerhalb weniger Wochen wurden eine, für hiesige Verhältnisse riesige, Großdemonstration mit über 70.000 Menschen unter dem Motto »Flüchtlinge willkommen – für eine menschliche Asylpolitik« und ein Solidaritätskonzert »Voices for Refugees« am geschichtsträchtigen Heldenplatz mit über 150.000 Menschen auf die Beine gestellt.
Doch kehrte die Alpenrepublik nach der Einführung der Grenzkontrollen durch Deutschland und dem damit verbundenen Ende des einfachen »Durchwinkens« der Flüchtlinge wieder zur repressiven »Normalität« zurück. Die sozialdemokratisch angeführten großen Koalitionen hatten in den Jahren zuvor das Asyl- und Fremdenrecht fast im Halbjahresrhythmus massiv verschärft. Die Balkanroute wurde geschlossen, am Grenzübergang Spielfeld zum Nachbarland Slowenien bereits zuvor ein Zaun erbaut, das Bundesheer zum Assistenzeinsatz an die Ost- und Südgrenzen abkommandiert. »Obergrenzen« wurden beschlossen, ein »Asyl auf Zeit« eingeführt und die Familienzusammenführung erschwert. Die inhumane Rechtsprechung gipfelte im Beschluss einer »Notverordnung«, die argumentierte, dass die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit Österreichs durch die hohe Zahl an Flüchtlingen gefährdet sei, weshalb es erlaubt sei, Asylanträge direkt an der Grenze abzulehnen.
Die rechte Haltung und menschenfeindliche Politik der Kanzlerpartei SPÖ hat auch dazu geführt, dass keinerlei progressiven Aspekte des Flüchtlingsthemas zur Debatte standen, sondern öffentlich die demagogischen Positionen der erzreaktionären bis rechtsextremen Parteien und Medien dominierten. Die logische Folge war ein Erstarken der Rechten und nun eine ebensolche schwarz-blaue Regierung aus ÖVP und FPÖ. Diese sieht in ihrem Programm drastische Verschärfungen der ohnehin schon unmenschlichen restriktiven Asylbestimmungen sowie eine ganze Palette an zusätzlichen Einschränkungen, Schikanen und Entwürdigungen gegen Schutzsuchende vor, gepaart mit einem tief gestaffelten System der Abschottung und einer forcierten Militarisierung der Außengrenzen. Die Themen Asyl, Migration und Sicherheit werden zudem absichtlich in einen Topf geworfen und unter Vorbeten des Mantras von »Law and Order« zu einem xenophoben und repressiven Brei verrührt.
Ursachen benennen
Parallel dazu sprechen zwar fast alle politischen Akteure von der Notwendigkeit, die Fluchtursachen zu bekämpfen, ohne aber den systemimmanenten Zusammenhang und die sich gegenseitig und hochschaukelnden Ursachen von Kriegen, bewaffneten Konflikten, Wirtschaftskrise, neokolonialen Handelsbeziehungen, struktureller Gewalt, Armut und sich verschärfenden Klimakatastrophen zu benennen. In Europa werden die Menschen, die vor Elend und Hungertod, vor Krankheiten und Umweltzerstörung fliehen, als »Wirtschaftsflüchtlinge« delegitimiert. Doch es sind der Entzug der Lebensgrundlage, die Ausbeutung und der Ruin ihrer Länder durch das europäische Kapital und die imperialistischen Zentren, die die Menschen zur Flucht veranlassen. Auch mit dieser Verantwortung ist umzugehen, selbst wenn keine klassischen Asylgründe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (welche also zu erweitern wäre) vorliegen.
Es sind dieselben kapitalistischen Metropolen, die Krieg, Elend und Hunger in der Welt verbreiten, die den Menschen die Flucht verwehren, die sich abschotten – auch um den Preis Tausender Toter an den EU-Außengrenzen bzw. im Mittelmeer (und von wesentlich mehr in den betroffenen Ländern). Will man die Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen und nachhaltig beseitigen, muss man das kapitalistische Globalsystem mit seinen ihm eingeschriebenen Aggressions- und Ausbeutungsverhältnissen sowie Verheerungsprozessen überwinden. Bis dahin stehen die westlichen Metropolen als hauptsächlicher Verursacher auch in der Pflicht, sichere Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, möglichst viele Flüchtlinge aufzunehmen, diese menschenwürdig unterzubringen und ihnen Perspektiven zu eröffnen.
In der österreichischen Linken finden sich mannigfache Positionen zu den Themen Migration und Asyl, von der oft undifferenzierenden Forderung nach »offenen Grenzen für alle« über den Einsatz für liberale Asylregelungen und eine fortschrittliche Regulierung des Arbeitsmarkts bis hin zu Phantasien von Abschottung aufgrund von »Überlastung« und »Schutz heimischer Arbeitsplätze«. Während zivilgesellschaftliche Initiativen – mit dabei auch viele engagierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – tagtäglich das Versagen öffentlicher Stellen auszubügeln versuchten, indem sie sich um Unterkunft, Essen, Sprachunterricht und überhaupt ein Mindestmaß an menschlichem Umgang kümmerten und politische Bündnisse im Wochen- und Monatstakt Proteste und Aktionen gegen Gesetzesverschärfungen und Abschiebungen organisierten, leistete sich beispielsweise der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) in sozialpartnerschaftlicher Manier und voller Regierungshörigkeit eine Stellungnahme zur Asylrechtsänderung, die sich gewaschen hatte: »Allerdings ist darauf zu achten, dass die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge mit den wirtschaftlichen, infrastrukturellen und sozialen Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen ist (…), dass die relevanten Systeme (…) gesichert und vor Überlastung geschützt werden (…) Vor diesem Hintergrund verstehen ÖGB und BAK (Bundesarbeitskammer, d. Red.) die Bemühungen der Bundesregierung, auf nationaler Ebene für eine Entlastung zu sorgen.« Wenn Asylrecht und Migration vermischt und vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen »Nutzens« für »den Standort« bewertet werden, dann ordnen sich sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften wieder einmal dem neoliberalen Mainstream unter. Statt den Gegensatz zwischen Arm und Reich, oben und unten zu thematisieren, wird der Unterschied von hier und dort, von »autochthon« und »fremd« hochgespielt.
Doch Lohndumping, Ausgliederungen, Privatisierungen, Subunternehmertum, Prekarisierung usw. gab es auch schon vor den großen Fluchtbewegungen. Und es sind auch nicht die neu gekommenen Kolleginnen und Kollegen, sondern die »alten« hiesigen Unternehmer und das Kapital und sein politisches Personal, welche die Behandlung von Asylbewerberinnen und -bewerbern als Experimentierfeld für die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Menschen im Land ansehen und Migrantinnen und Migranten als Billiglöhner missbrauchen.
Eine Regulierung des Arbeitsmarktes statt neoliberaler Marktöffnung heißt eben nicht, Grenzzäune hochzuziehen, sondern gegen jegliche diskriminierende Regelungen aufzutreten. Beispiel: Entsenderichtlinie. Gleiches Entgelt und gleiche Rechte für alle muss die Devise sein!
In der hiesigen Linken stellt die jeweilige Position zur Europäischen Union eine der schärfsten Trennlinien dar. Von der SPÖ und den Gewerkschaften über die Grünen bis zur KPÖ wird an der Mär der Möglichkeit einer »sozialen und ökologischen EU« als »Friedensunion« festgehalten. Eine kritische, ablehnende bis systemüberwindende Sichtweise wird beständig als nationalistisch diskreditiert und solche Positionen in die rechte Ecke gestellt. Doch die Orientierung am Europa der Konzerne, der Banken und des Militärs verhindert gerade eine internationalistische und revolutionäre Perspektive – ausgehend von Klassenkämpfen einer geeinten Arbeiterklasse unabhängig von Pass, Sprache und Aufenthaltsstatus; beginnend mit Kämpfen im nationalen Rahmen für eine progressive Wende im Sozialen, im Gesundheitsbereich, im Bildungswesen, gegen den Militarismus und im Fall von Österreich für die Verteidigung bzw. Wiedererlangung der Neutralität.
Keine armen Hascherln
Die Arbeiterklasse, das gilt es endlich zu begreifen, ist objektiv multiethnisch. Logische Folge ist also, dass auch Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten, egal ob »legal« oder »illegal«, anhand ihrer Stellung in den gesellschaftlichen Verhältnissen überwiegend auch Teil der Arbeiterklasse sind – und es insofern auch kein »Wir« und »Die« geben kann und darf. Insofern haben auch alle Organisationen, welche die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ansehen, so angelegt zu sein und danach zu streben, diese Gleichstellung und Gleichbehandlung auch in der Realität – bei ihrer Themensetzung, hinsichtlich ihrer Funktionärinnen und Funktionäre, ihrer Kampffelder, Publikationen usw. umzusetzen.
Migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter sind keine armen Hascherln, sondern bringen – auch wenn es natürlich widersprüchliche Tendenzen gibt – oft viel Kampferfahrungen, (gewerkschaftlichen) Aktivismus, linke Ideen bzw. eine migrationsbedingte Widerstandskraft mit. Die Kolleginnen und Kollegen dürfen mitnichten bloß als defiziente Empfänger unserer Solidarität, sondern müssen als aktiv handelnde politische Subjekte wahr- und ernst genommen werden. Inklusion ist die gleichberechtigte (politische, soziale, bildungsmäßige) Partizipation. Das bedeutet auch, gleichberechtigt auf Augenhöhe zu kämpfen!
Eine Einbindung und Aktivierung migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter setzt den Kampf gegen sozialpartnerschaftliche Vertretungsformen und gewerkschaftliche Hierarchien (»wir für euch«) voraus. Entscheidend ist also auch unsere gemeinsame Fähigkeit, am eigenen Arbeitsplatz, in den Gewerkschaften und über die Branchen hinweg kollektiv Widerstand zu organisieren und die Kämpfe Schulter an Schulter zu führen!
Vor dem Hintergrund des rechten Vormarsches werden Geflüchtete häufig nur als Problem gesehen. Linke Positionen müssen wieder deutlicher wahrnehmbar werden
Canan Bayram
Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen seit 1990 Millionen Tote und machten Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die Migranten aber kommen in Gesellschaften, in denen verschärfte Konkurrenz unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf von oben geworden sind. Der Aufstieg rassistischer und neofaschistischer Organisationen, die demagogisch die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen, begleitet diese Entwicklung wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken um internationalistische und solidarische Positionen gerungen. Die längst wieder akute soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt von Debatten. Rückt der Kampf gegen die westlichen Kriege, die eine Hauptursache der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund? Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Deren Positionen werden hier vorgestellt. In der gestrigen Ausgabe erschienen Beiträge von Günter Pohl und Lorenz Gösta Beutin, heute folgen die von Canan Bayram und Selma Schacht. (jW)
Es sind nicht Staaten wie Deutschland oder andere europäische Länder, die solidarisch mit Geflüchteten sind, vielmehr sind es die Zivilgesellschaften insbesondere in vielen Ländern in Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Staaten wie Pakistan, Jordanien oder auch der Libanon haben die Geflüchteten aus den Nachbarländern aufgenommen. Die Zahl der Binnenvertriebenen ist besonders auf dem afrikanischen Kontinent enorm hoch. Berichte von der Flucht von Nigerianerinnen und Nigerianern vor Boko Haram oder der von Kongolesinnen und Kongolesen vor den mordenden Rebellentruppen haben uns auch hierzulande erreicht. Weniger bekannt sind die Fluchtgeschichten von Menschen, die bereits durch viele afrikanische oder asiatische Länder migrieren mussten, um nach Europa zu gelangen.
Beobachtet man die Debatten der jüngsten Vergangenheit, so kommt das Gefühl auf, dass wir uns mehr und mehr von einem hilfsbereiten, empathischen und solidarischen Miteinander verabschieden. In der Bundesrepublik hat sich der mediale und politische Sprachgebrauch in den letzten Jahren verschärft. Man spricht von »Flüchtlingswelle« und »Flüchtlingskrise«, wodurch den Menschen die Individualität abgesprochen und damit auch ihr Leid relativiert werden soll. Es soll der Eindruck erweckt werden, dass von den Geflüchteten, das heißt von den sogenannten Fremden, eine Gefahr ausgehen würde, die gesetzlich abgewehrt werden müsste. Dieses Muster ist nicht neu. Schon im Ausländergesetz wurde als »Sonderpolizeirecht« das Recht von Menschen auf Bewegungsfreiheit und Familiennachzug eingeschränkt. In den 1960er Jahren konnte eine Person abgeschoben werden, wenn ihr Beischlaf mit einer Deutschen vorgeworfen wurde. Solche Gesetze und Debatten erzeugen eine Kategorie von Menschen zweiter Klasse, deren Rechte missachtet werden und für die die grundgesetzlich verbriefte Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht gelten soll.
Nationalistische und rechtsextreme Parteien erhalten in ganz Europa Zulauf. Ressentiments gegenüber Minderheiten nehmen zu. Auch auf europäischer Ebene reagiert man auf Geflüchtete immer häufiger abwehrend. Während manche EU-Mitglieder beispielsweise keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen wollen, verschärft die EU ihre Grenzkontrollen und geht mit der Türkei und anderen Ländern unmoralische und europarechtswidrige Flüchtlingsabkommen ein.
Entsolidarisierung und Spaltung
Zunehmend werden die Themen Terror und Kriminalität mit Geflüchteten in Verbindung gesetzt. Der Staat reagiert darauf mit einer fortgesetzter Einschränkung der Bürgerrechte. Der Ausbau der Vorratsdatenspeicherung und der Videoüberwachung treffen uns alle. Jeder muss sich und sein Gegenüber als potentielle Gefahr wahrnehmen, die der Staat kontrollieren können muss. Das führt zur Verletzung unserer Freiheitsrechte und Argwohn untereinander. Sobald man aber seinen Mitmenschen misstraut, befördert das eine Entsolidarisierung und Spaltung in »Wir« und »die anderen«. Hier setzen dann auch schnell die Neiddebatten ein. Die oftmals erfundenen Geschichten über Geflüchtete, die in Deutschland angeblich alles bekämen, was sie wollten, sind ein klares Zeichen dieser Spaltung innerhalb der Gesellschaft.
Neid kommt meist dann auf, wenn es Menschen gibt, die sich abgehängt oder zumindest benachteiligt fühlen. Weil sie zum Beispiel aus ihrer Wohnung ausziehen müssen, da sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Ebenso können sie oftmals gar nicht oder nur eingeschränkt am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen. Die Betroffenen befinden sich in einer Lage, aus der sie nur schwer wieder herauskommen – wenn überhaupt. Die Menschen erleben täglich, dass die soziale Gerechtigkeit abnimmt. Dieser Umstand darf jedoch nicht missbraucht werden, um Geflüchtete gegen sozial benachteiligte Menschen auszuspielen. Beide Gruppen benötigen Unterstützung, und es muss auch alles dafür getan werden, dass den Betroffenen von der Politik geholfen wird.
Es bleibt Fakt, dass die Debatten und Maßnahmen vielfach einseitig sind und lediglich auf Abschottung und Verhinderung von Migration abzielen. Dabei wird der Lösungsansatz »Bekämpfung von Fluchtursachen« meist nur als Floskel benutzt oder dient dazu, die Verantwortung von sich zu weisen. So richtig es ist, Fluchtursachen zu bekämpfen, so fragwürdig sind die angewandten Mittel. Deutschland und Europa dürfen nicht versuchen, unabhängig von der Situation der Geflüchteten nur auf die Abschottung durch Abkommen mit Staaten wie der Türkei und Libyen zu setzen. Die finanzielle Unterstützung von Ländern beispielsweise in Afrika und die Verbesserung von Lebensbedingungen vor Ort können nur gelingen, wenn das nicht ausschließlich gewinnorientiert und aus egoistischen Motiven heraus geschieht, sondern vielmehr solidarisch umgesetzt wird. Denn die Abkommen mit den einzelnen Ländern und die Gelder werden nichts Gutes bewirken, solange Europa gleichzeitig die Lebensgrundlage für viele Menschen in den betroffenen Regionen zerstört. Durch Waffenlieferungen schafft Deutschland selbst Fluchtursachen. Auch die unfairen Handelsbeziehungen zwischen der EU und afrikanischen Ländern fördern die Armut und entziehen vielen Menschen die Lebensgrundlage. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zum Beispiel in Afrika Länder existieren, in denen es reiche Eliten gibt und der überwiegende Teil der Bevölkerung in Armut leben muss. Weltweit führen die Auswirkungen des Klimawandels dazu, dass Menschen in ihrer Heimat die Lebensgrundlagen verlieren. Auch die Einhaltung der Klimaziele ist ein wichtiger Beitrag, um Fluchtursachen zu bekämpfen.
Waffenexporte stoppen
Ehrlich gemeinte Lösungsansätze müssen unter anderem eine faire Handelspolitik und den sofortigen Stopp von Waffenexporten beinhalten. Europa muss gemeinsam agieren und der zunehmenden Konzentration auf nationalstaatliche Perspektiven und Interessen entgegenwirken. Viele Menschen in Deutschland handeln aber auch solidarisch, das konnte man in den letzten Jahren beobachten. Die nach wie vor große Bereitschaft der freiwilligen und unbezahlten Helferinnen und Helfer ist beeindruckend. Sie sind es, die den Geflüchteten tatkräftig zur Seite stehen – von ehrenamtlichen Sprachkursen und der Hilfe bei Amtsgängen bis hin zur Unterbringung in privaten Wohngemeinschaften und Wohnungen. Sie unterstützen die betroffenen Personen und leben somit tagtäglich ein solidarisches Miteinander. Sie sind die andere Seite der Medaille – auch wenn Rassismus und Populismus allgegenwärtig erscheinen. Die Solidarität der Menschen ist nicht verschwunden. In Zeiten von sozialen Herausforderungen muss sie aber besser sichtbar gemacht werden, sonst droht eine Fokussierung auf die vermeintlichen »Probleme«.
Die Themensetzung und die Deutungshoheit dürfen dabei nicht den rechten Parteien überlassen werden. Linke Positionen müssen als Gegengewicht zu Rechtspopulismus und Rechtsruck wieder lauter und deutlicher werden. Solidarität und Internationalismus müssen stärker als Korrektiv innerhalb der derzeitigen Debatten fungieren. Denn die universellen Menschenrechte gelten für jede und jeden. Migration gab und gibt es solange, wie es Menschen gibt. Wir müssen einen gerechten Umgang damit finden. Ziel muss es sein, allen ein gutes Leben zu ermöglichen. In Deutschland können wir das durch gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter und sozialer Situation gewährleisten. Es stellt sich die Frage, wie Erfolge im Kampf gegen Diskriminierung und Ungleichheit in Europa und der übrigen Welt erreicht werden können. Die Kritik an der Globalisierung der Märkte hat den Kampf für die internationale Solidarität in den Hintergrund gerückt. Immer häufiger werden die Fragen der internationalen Gerechtigkeit verkürzt diskutiert. Aber gerade das Thema Flucht führt uns vor Augen, dass es vom Zufall abhängt, ob man in einem sicheren oder unsicheren Gebiet geboren wird und lebt. Diese Ungleichheit kann nur durch internationale Solidarität und weltweit gerechtere Verteilung der Ressourcen überwunden werden. Dabei ist die Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren ein wichtiger Ansatz, um über Austausch und Unterstützung an Stärke zu gewinnen.
Olivenöl und Arbeit: Die Initiative »Synergasia« auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Arnold Schölzel
Als »Arbeitsbeschaffung auf dem Familienacker« beschrieb jW-Autor Hansgeorg Hermann vor fast fünf Jahren in dieser Zeitung die Initiative »Synergasia« (»Zusammenarbeit«) in der griechischen, im Westteil der Insel Kreta gelegenen Ortschaft Vamos. Die Diktate aus Berlin und Brüssel für Athen hatten damals die Arbeitslosigkeit in Griechenland auf 30 Prozent, die unter jungen Leuten auf 60 Prozent steigen lassen. Die Idee: durch Hilfe bei der Direktvermarktung von Olivenöl aus kleinen bäuerlichen Betrieben vor allem jungen Frauen und Männern Arbeit und echte Entlohnung zu schaffen. Darüber hinaus ging es darum, einer ganzen Region wieder auf die Beine zu helfen. Die Bauern, die in das Projekt einbezogen wurden, besitzen kleinere Plantagen (zwischen 50 und 500 Bäume), die ausschließlich von Familienmitgliedern – Töchter, Söhne, Cousins – bewirtschaftet werden und das Einkommen für die Wintermonate sichern.
»Synergasia« nahm seither den Olivenbauern in Vamos 1.000 Liter pro Jahr ab – vorfinanziert durch deutsche Freunde der Initiative – und verkaufte es zum Literpreis von 15 Euro in Fünf-Liter-Kanistern. Nach Abzug der Kosten für Organisation, Verpackung und Vertrieb, so berichtete Hansgeorg Hermann ein knappes Jahr später in jW, erhielten die Olivenbauern bis zu 9,50 Euro pro Liter. Die Olivenmühlen zahlen den Bauern bis heute zwischen zwei und drei Euro.
Im Dezember 2017 trafen sich in Vamos acht deutsche Freunde von »Synergasia« mit deren Initiatoren und Organisatoren, Giorgos Xatsidakis und Hansgeorg Hermann, sowie mit Olivenbauern. Beraten wurde, wie das Vorhaben, das organisatorisch mittlerweile an Grenzen stößt, weiterentwickelt werden kann. Bei der Verwirklichung der Grundidee, so zeigte sich, ist Wichtiges erreicht worden: Einige junge Leute, die Kreta auf der Suche nach Arbeit verlassen hatten, kehrten zurück. Die Abnahmegarantie und feste Bezahlung durch »Synergasia« sicherte den betreffenden Familien ein Einkommen. Das Dorf insgesamt profitiert davon. Im Oktober begann die laufende Olivenernte, die diesmal besonders gut auszufallen verspricht. Günstige Witterung und ausreichend Regen sorgten für eine besonders gute Qualität der Oliven, gearbeitet wird buchstäblich Tag und Nacht.
Wer mehr wissen will: Am Sonnabend werden ein junges Ehepaar, Olivenbauern aus Vamos, Giorgos Xatsidakis und Hansgeorg Hermann am Stand von »Synergasia« auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz Auskunft geben und Bestellungen für den neuen Olivenöljahrgang entgegennehmen.
Ibrahim Mahama entlarvt die Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft. Der Künstler ist zu Gast auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin
Susann Witt-Stahl
Der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama interessiert sich für »stark historisch geprägte Gebrauchsgegenstände« gesellschaftlicher Arbeit. Jutesäcke sind das wichtigste Gestaltungsmaterial seiner als »künstlerische Intervention in das bestehende Produktionssystem« zu verstehenden Werke: Flexible Transportbehälter, in denen sich die Geschichte des Welthandels materialisiert, weil in ihnen Produkte wie Kakao oder Bohnen zwischen Lagerhäusern, Märkten, Städten und Kontinenten hin und her bewegt werden.
Mahama verhängt Gebäudefassaden mit riesigen Schleiern aus zusammengenähten Jutesäcken. 2016 hatten aus seinem Heimatland stammende Migranten ein solches Monstrum für die Kunsthal Charlottenborg in Kopenhagen fertiggestellt – ein Prozess kollektiver Arbeit, der rund zwei Jahre dauerte. Der Werktitel »Nyhavn’s Kpalang« setzte sich aus dem Namen des Hafens der Hauptstadt Dänemarks »Nyhavn« und dem Wort »Kpalang« zusammen, das auf Dagbani, der Sprache des Dagomba-Volkes im Norden Ghanas, sowohl »Sack« als auch »Fleisch« bedeutet und auf das Naturmoment, das Elementare jeglicher Arbeit verweist. Die Jutesäcke »erzählen uns etwas über die Hände, die sie anheben«, so Mahama. »Wer webt, verpackt, belädt und transportiert, hinterlässt auch seinen Schweiß, seinen Namen, Daten und andere Koordinaten«, erinnert Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der mehrere Projekte von Mahama kuratiert hat, an das Wesen, das nach Marx durch den Einsatz der seiner Leiblichkeit angehörenden Naturkräfte, Kopf, Arme, Hände und Beine, die Naturstoffe in die für sein Leben nötige Form bringt und sich damit selbst erschafft, aber mehr und mehr hinter dem stetig expandierenden Selbstverwertungsprozess des Kapitals verschwindet: der Mensch. Im Zentrum von Mahamas Schaffen steht der gestern wie heute Kolonialherrschaft unterworfene. Die von ihm verarbeiteten Säcke seien »Häute mit Narben«, sagt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Vor allem dienten sie Mahama als »forensische Beweismittel bei seiner Suche nach Manifestationen kapitalistischen Wirtschaftens in der Welt« und Mittel zur Sichtbarmachung »lokaler Bezüge innerhalb der internationalen Arbeiterklasse«.
Der 1987 in Tamale, der Hauptstadt der Nordregion Ghanas, geborene Künstler besuchte die renommierte Kwame-Nkrumah-Universität in Kumasi und setzte sich zunächst mit der Collagentechnik von Robert Rauschenberg auseinander, einem Wegbereiter der US-amerikanischen Pop Art. Vor rund fünf Jahren vollzog Mahama einen Wandel und begann, zunächst mit Gipsabdrücken von seinem eigenen Körper, sich historisch-materialistischen Konzepten zu nähern. 2012 breitete er über einen ständig präsenten riesigen Holzkohlestapel auf dem Mallam Atta Market in Accra zum ersten Mal einen Jutesackteppich aus.
Mittlerweile sorgt der »Christo Afrikas« (im Gegensatz zu dem berühmten Verpackungskünstler geht es Mahama allerdings nicht um eine jeglicher Erkenntnisinteressen und Normen entledigter Ästhetisierung der Lebenswelt) mit seinen Arbeiten weltweit für Aufsehen: auf der 56. Biennale in Venedig 2015; 2016 im Tel Aviv Museum of Art. Im Februar 2017 wurde in der Londoner White-Cube-Galerie seine erste große Einzelausstellung eröffnet mit Installationen aus Hunderten von Holzboxen der Schuhputzer und originalen Ledersitzen aus den Zügen in Ghana. Im Sommer war er auf der Documenta 14 in Athen und Kassel vertreten.
Mahama will mit seinen Arbeiten, wie er in einer Kolumne der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift M&R betont, »stets in Erinnerung rufen, in welchem Maße neokoloniale Kräfte die Weltpolitik bestimmen«. Indem er aus Produktionsmitteln, die als zirkulierendes konstantes Kapital in Afrika und anderen Ausbeutungszentren der Welt lebendige Arbeit einsaugen, Kunstwerke schafft, entlarvt er nicht nur die Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft und die nicht von ihr zu trennende Barbarei. Er klagt darüber hinaus eine ganz andere Produktionsweise ein, die endlich allen, auch jenen, die bis heute »durch Blut und Schmutz, durch Elend und Erniedrigung« geschleift werden, wie Marx über die Kolonisierten schrieb, das Menschenrecht garantiert.
Landesweite Massenproteste gegen Preissteigerungen und Steuererhöhungen
Sofian Philip Naceur
Die am Sonntag in Tunesien ausgebrochenen Proteste halten an und haben inzwischen mindestens ein Dutzend Städte im ganzen Land erfasst. Neben mehreren industriell geprägten Ortschaften im Süden Tunesiens sind auch die Hauptstadt Tunis und die beliebten Touristenhochburgen Hammamet und Sousse betroffen. Lokale Medien melden auch gewaltsame Zusammenstöße zwischen aufgebrachten Demonstranten und der Polizei, die in einigen der betroffenen Städte mit Tränengas gegen die Proteste vorging.
Dutzende Menschen wurden bislang bei den Ausschreitungen verletzt. Nach Angaben des tunesischen Innenministeriums ließen die Behörden in den letzten zwei Nächten mindestens 237 Protestierende wegen angeblicher Beschädigung öffentlichen und privaten Eigentums und Plünderung verhaften. 45 Polizeifahrzeuge seien beschädigt und 49 Polizisten verletzt worden, heißt es.
Auf der Insel Djerba wurde derweil ein Brandanschlag auf eine jüdische Schule verübt. Unbekannte hatten offenbar die verringerte Polizeipräsenz auf der Insel für den Angriff ausgenutzt und Molotowcocktails in das Gebäude geworfen. Proteste wurden aus Djerba bisher nicht vermeldet.
Laut Nachrichtenagentur Reuters hatten Demonstranten am Dienstag versucht, einen Supermarkt in einem Vorort von Tunis zu stürmen. In Tebourba, einer Stadt im Norden des Landes, war am Montag ein Demonstrant unter noch ungeklärten Umständen getötet worden. Offiziellen Angaben zufolge war er erstickt. Inzwischen kursieren allerdings Videoaufnahmen, die belegen sollen, dass der Mann von einem Fahrzeug der Polizei überrollt wurde. Details aus dem Obduktionsbericht des Toten wurde bislang nicht veröffentlicht.
Grund für die landesweite Erhebung frustrierter Demonstranten ist vor allem die wirtschaftlich angespannte Lage in dem nordafrikanischen Land. Die bisher vornehmlich unorganisierten Proteste richten sich insbesondere gegen die Austeritätspolitik der Regierung, die im Zuge des seit 1. Januar geltenden neuen Staatshaushalts die Steuern erhöht und Subventionen auf Treibstoffe und Grundnahrungsmittel reduziert hatte. Nach den neuerlichen Preissteigerungen eskalierte die Situation und Tausende Menschen gingen auf die Straßen.
Die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise hat die Inflationsrate auf inzwischen fast sieben Prozent getrieben, während das Lohnniveau weitgehend stagniert. Einkommensschwache Haushalte stehen daher unter massivem Druck. Die jüngsten Austeritätsmaßnahmen stehen auch in Zusammenhang mit einem Kreditabkommen, das Tunesien mit dem Internationalen Währungsfond getroffen hat.
Die oppositionelle Tunesische Volksfront, ein von Hamma Hammami geführtes linkes Parteienbündnis, stellte sich derweil wie auch der mächtige tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT hinter die Proteste und rief zu weiteren Kundgebungen auf, sollte sich die Regierung der Forderung nach einer teilweisen Rücknahme des neuen Haushalts nicht beugen.
Demonstrationen wurden unterdessen auch aus der Kleinstadt Sidi Bouzid im Zentrum des Landes gemeldet. Dort hatte sich Ende 2010 der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi aus Protest gegen das Konfiszieren seiner Waren durch die Behörden selbst angezündet und damit die Massenaufstände in Tunesien, die kurz darauf zum Sturz des langjährigen Diktators Ben Ali führten, ausgelöst.