»GAU für den Rechtsstaat«
Von Anselm LenzDas Treffen der Staats- und Regierungschefs der »G 20« hat nach Einschätzung von Juristen die Bundesrepublik in eine Verfassungskrise gebracht. Während Regierungsvertreter nach den Unruhen in Hamburg härteste Verfolgungen Verdächtiger verkündeten, sehen unabhängige Juristen den Rechtsstaat in grundsätzlicher Gefahr oder als teilweise nicht mehr gegeben an.
Peer Stolle, Vorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, sieht die Bundesrepublik nach dem G-20-Gipfel in der Verfassungskrise, zentrale Grund- und Freiheitsrechte seien massiv verletzt worden. »Wenn Olaf Scholz (SPD, Regierungschef in Hamburg) sich jetzt hinstellt und sagt, die Polizei habe alles richtig gemacht, ist das schon eine Missachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien«, erklärte Stolle gegenüber jW. Das verfassungsmäßige Gewaltenteilungsprinzip sei bereits beim Angriff der Polizei auf das Zeltlager in Entenwerder am 2. Juli gebrochen worden. Stolle bearbeitet derzeit die willkürliche Inhaftierung von Demonstranten und Anwälten im eigens eingerichteten Gefangenenlager (»Gesa«) in Hamburg-Harburg.
Auch Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin vom Anwaltlichen Notdienst G 20, sieht das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ernsthaft in der Krise. Insbesondere die anlässlich des G-20-Gipfels erdrückende Polizeipräsenz stelle das Demonstrationsrecht als Freiheitsrecht grundsätzlich in Frage. Im Zusammenhang mit dem Zeltlager in Entenwerder habe die Polizei »vorsätzlich und rechtswidrig einen entgegenstehenden Beschluss des Verwaltungsgerichts unterlaufen«, erklärte sie dieser Zeitung. Sie »vermisse den Respekt der Verantwortlichen der Polizei vor den Grundrechtsgarantien«. Für die Ausrichtung des Gipfels hätte es zudem zuvor ein Plebiszit geben müssen.
Der Richter am Bundesgerichtshof a. D. Wolfgang Neskovic verwies gegenüber jW insbesondere auf eine Einschätzung des Juristen und Lehrbeauftragten an der Universität Düsseldorf Udo Vetter, der er sich voll und ganz anschließe. Der Verfassungsbruch durch die Polizei und die politisch Verantwortlichen habe bereits mit der Instrumentalisierung des sogenannten Vermummungsverbotes für massive Angriffe auf den Demonstrationszug und Passanten am vergangenen Donnerstag begonnen, wie Vetter der Tageszeitung Taz darlegte. Die Demonstration unter dem Motto »Welcome to Hell« war auf der St.-Pauli-Hafenstraße angehalten und angegriffen worden.
Die Vermummung durch Mundtuch, Sonnenbrille und Mütze sei ein »Bagatelldelikt«, und komme etwa auch in Fußballstadien vor, die deshalb trotzdem nicht polizeilich gestürmt würden. Auch stelle sich die Frage, wie viele Menschen überhaupt ein Gesichtstuch getragen hätten. Es habe zudem angesichts der massiven Ausweitung der Erfassung durch Kameras und Dateisysteme auch Gründe dafür gegeben, sich unkenntlich zu machen. Die bislang noch nicht bewiesene Anwesenheit verdeckter Ermittler der Polizei im »schwarzen Block« – die laut Vetter eine aktive Rolle bei den Ausschreitungen gespielt haben könnten – »wäre ein absoluter GAU für unseren Rechtsstaat«. Diese Form der Infiltrierung habe in Hamburg bereits eine »schmerzliche Geschichte«. Neskovic erklärte, dass er sich all diesen Einschätzungen vollständig anschließe.
Der Linke-Politiker Gregor Gysi hatte sich bereits 2015 dementsprechend geäußert: »Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber ich habe immer den Eindruck, dass bestimmte V-Leute geradezu zur Gewalt animieren, um das politische Anliegen totzumachen«, hatte er damals der Deutschen Presseagentur gesagt. »Denn dann diskutieren wir hinterher bloß noch über die Gewalt – und nicht mehr über das eigentliche Anliegen.« Zuletzt war die Hamburger LKA-Beamtin Iris Plate enttarnt worden, die unter dem Namen Iris Schneider sechs Jahre lang einen unabhängigen Radiosender und das Kulturzentrum Rote Flora aktiv unterwandert hatte.
Auch beim G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm soll es verkleidete Polizisten im sogenannten schwarzen Block gegeben haben, die als taktische Provokateure aufgetreten sind, um einen Anlass zur Räumung zu fingieren.
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