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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Comic

Wie Muster von Tapeten

Liebe und Weisheit: Zeina Abirached adaptiert Khalil Gibrans berühmtes Büchlein »Der Prophet« als Comic
Von Marc Hieronimus
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»Sonnenblume« (2022)

Khalil Gibran ist 1883 in ­Bischarri im heutigen Libanon geboren. Sein kurzes ­Leben war für die damalige Zeit sehr unstet. Als Zwölfjähriger emigrierte er mit seiner Familie nach Boston, kehrte aber wenig später zurück und studierte Kunst, Französisch und Arabisch. Mehrfach lebte er in Paris, wo er sein Studium fortsetzte, dann wieder in Boston, ab 1912 in New York. Schon in jungen Jahren war er als Maler erfolgreich, bevor er mit seinen auf arabisch, später auch auf englisch verfassten Erzählungen Berühmtheit erlangte. Sein meistgelesenes Werk »Der Prophet« ist ein von Gibran selbst illustriertes Büchlein, das mehr als ein Dutzend Mal ins Deutsche und unzählige Male in vierzig weitere Sprachen übersetzt wurde. An ihm lässt sich einmal mehr der Eurozentrismus des Literaturkanons ablesen. Das laut Digitalausgabe des Kindler Literaturlexikons »mit Abstand meistgedruckte Werk eines arabischen Autors der Moderne« kommt in der siebenbändigen Kindler-Druckausgabe von 1965 bis 1972 noch gar nicht vor. Vielleicht, weil es unter Esoterikverdacht stand?

»Im Laufe der Jahre wurde ­Gibrans Buch von schalumhüllten Isadora-Duncan- und Madame-Blavatsky-Jüngern, Hasch-­Brownie-mampfenden Beatniks, Kräutertee-trinkenden New-Agern und offensichtlich auch von ganz normalen Menschen ekstatisch umarmt. Das Buch hat sich allein in Amerika mehr als neun Millionen Mal verkauft«, schrieb die Literaturkritikerin Liesl Schillinger 1998 in der New York Times anlässlich zweier neuer ­Gibran-Biographien. »Was für ein Buch ist ›Der Prophet‹? Niemand könnte es bescheiden nennen, niemand könnte sagen, es sei nicht von anderen inspiriert. (…) Seine Gedichte sind beschwörend und symbolträchtig und erinnern an ­Blake, Yeats, die King James Bible, Laotse und gelegentlich an die ­schräge Laune des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa. Bushrui und Jenkins, die (eine der beiden ­Biographien geschrieben haben und) Gibran für den Islam in Anspruch nehmen ­wollen, ­beharren ­darauf, dass er auch Sufi-Präferenzen aufgreift, und es gibt auch keinen Grund, dies auszuschließen. ­Gibrans Zeichnungen und Aquarelle, die oft als überkandidelt abgetan werden, erinnern an ­Rodin, Redon, ­Picassos ›Romeo und Julia‹ und verschiedene Präraffaeliten. Und schließlich sind die Themen, die er behandelt, keineswegs originell. ­Gibran hat über Liebe, Familie, Schönheit, Schmerz und Tod geschrieben.«

Das gilt freilich für alle Literatur – welches Thema ist denn mittlerweile noch nicht von Tausenden Autorinnen behandelt worden, und die genannten sind durchaus nicht banal. Als Gibran schrieb, war Literatur außerdem noch keineswegs der Massenmarkt von heute. Die Frage ist doch, ob man den großen Themen wie Arbeit, Recht, Unrecht und Gesetz, Vernunft und Leidenschaft, Großzügigkeit usw. noch etwas hinzufügen, ob man Menschen berühren und zum Denken anregen kann. Gibrans Welterfolg gelingt das seit einhundert Jahren.

Die Geschichte von »Der Prophet« lässt sich dabei in einem Satz ­zusammenfassen: Bevor der ­titelgebende Prophet Almustafa nach zwölf Jahren in seine Heimat zurückkehrt, hält er dem Volk von Orfalis auf dessen Wunsch 26 Reden zu den Grundfragen der menschlichen Existenz. Mehr passiert nicht. Einige Zeilen, wie die aus der Rede über die Kinder, sind Kalendersprüche geworden: »Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch euch, aber nicht aus euch. Und obgleich sie bei euch sind, gehören sie euch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen. Ihr dürft ihren Leibern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen, denn diese wohnen im Haus des Morgen, das ihr nicht zu betreten vermögt, auch nicht in euren Träumen. Ihr mögt danach streben, wie sie zu sein, doch versucht nicht, dass sie euch gleichen, denn das Leben schreitet weder zurück, noch verweilt es im Gestern. Ihr seid der Bogen, der eure Kinder als lebendige Pfeile hinausschickt. Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit, er spannt euch mit seiner Macht, auf dass seine ­Pfeile schnell und weit fliegen. Lasst euch gerne von der Hand des Schützen spannen, denn so wie er den fliegenden Pfeil liebt, liebt er den verharrenden Bogen.« Kann man mal drüber nachdenken.

Die nun bei Avant erschienene Comicausgabe wurde von der ebenfalls im Libanon geborenen und exilierten Zeichnerin Zeina Abirached adaptiert, die zuvor in einem sehr ähnlichen Stil drei Bücher vor dem Hintergrund der libanesischen Geschichte geschaffen und das Szenario einer Liebesgeschichte von Mathias Énard umgesetzt hat. Ihre Schwarzweißzeichnungen ohne Schraffur und Schattierung wecken Erinnerungen an Marjane Satrapis »Perse­polis«, Lotte Reinigers »Prinz Achmed«, Linoldrucke wie Frans Masereels »Idee« oder entsprechend gestaltetes Geschenkpapier, haben aber doch ihre ganz eigene Art und Wirkung. Die Gesichter und Landschaften muten naiv an, Illustrationen abstrakterer Ideen ähneln Mandalas oder Tapetenmustern. Dem Anschein nach ein Kinderbuch, inhaltlich eines für Erwachsene, bei dem allerdings, wie nicht selten bei Romanverbilderungen, der künstlerische Mehrwert der durchgängig gezeichneten gegenüber der vom Autor meist gar nicht, in diesem Fall sogar meisterhaft illustrierten Originalversion nicht klar wird. Das bedeutet nicht Wertlosigkeit: Das Buch ist nicht schlecht, Zeichnerin und Verlag profitieren, und manch ein Leser wird über den Umweg der Adaption das erste Mal mit Gibrans Klassiker in Berührung kommen. Mehr Liebe und Weisheit sind dringend vonnöten.

Khalil Gibran (Text)/Zeina Abirached (Zeichnung): Der ­Prophet. Aus dem Englischen von ­Heike Maren, Avant-Verlag, ­Berlin 2024, 368 Seiten, 30 Euro

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