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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Fotografie

Schlaraffenland ist abgebrannt

Die Deutschland-Bilder des Fotografen Robert Lebeck in einem Band
Von Jürgen Schneider
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»Brennende Blume« (2022)

Das neue Verfahren der Kollodium-Nassplatte war 1851 ein entscheidender Durchbruch in der Fotografie. Auch Menschen und Dinge in Bewegung konnten nun problemlos fixiert werden. Schnelligkeit und Präzision prädestinierten die ­Fotografie zum Massenmedium. Die ganze Erde konnte festgehalten und nach Hause getragen werden. Aber erst die surrealistische Fotografie, so Walter ­Benjamin, machte dem politisch geschulten Blick das Feld frei, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung des Details abgehen. Die Reportagefotografie gewann an Popularität, nachdem in den 1920er Jahren leichte und kompakte Kameras in Massenproduktion gingen. ­Viele spezia­lisierten sich auf dieses ­Genre. In den USA erlangte Dorothea Lange Berühmtheit, in der Sowjetunion waren Alexander Rodtschenko und El Lissitzky Vorreiter der Fotoreportage. In Deutschland setzte die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, seit ­Ende 1924 das Aushängeschild des Neuen Deutschen Verlags, des radikalen Medien­konzerns, der von Willi Münzenberg geleitet wurde, neben Montagekompositionen auf das neue Genre. Beispielhaft erwähnt sei hier nur Walter Reuters Fotoreportage von 1931 über den Überfall der SA auf das von Arbeitern frequentierte Tanzlokal Eden in Berlin-Charlottenburg. Den Text dazu verfasste der Strafverteidiger Hans Litten, der im Prozess wegen des SA-Überfalls Hitler in den Zeugenstand berufen ließ und ihn so gründlich blamierte, dass der den Namen Litten nie mehr hören wollte. Der Anwalt starb 1938 im KZ Dachau.

Als bekanntestes Beispiel aus den 1930er Jahren gilt Tim Gidals Fotoreportage »Araber gegen Juden – Das Problem Palästina« (1932). Sie entstand, als Gidal durch die Region reiste, bevor er 1936 dorthin übersiedelte. Bereits 1927 war Siegfried Kracauer mit jenen Illustrierten ins Gericht gegangen, die auf Prominente, Skandale und ähnlichen Flachsinn setzten: »Die Einrichtung der Illustrierten ist in der Hand der herrschenden Gesellschaft eines der mächtigsten Streikmittel gegen die Erkenntnis.«

In der BRD sollte die Illustrierte Stern die Tradition des Fotojournalismus besonders pflegen. Hier wirkte ab den 60er Jahren der 1929 in Berlin geborene Robert Lebeck, der als Autodidakt zur Fotografie fand. Den redaktionellen Vorgaben folgend, schoss er primär Personenreportagen, in denen er sich dem Treiben von Politikern, Künstlern und anderen ­Celebrities widmete. Eine Auswahl seiner Arbeiten findet sich in dem voriges Jahr erschienenen Band »Hierzulande – Reportagen aus Deutschland«. Im Vorwort schreibt die Kuratorin Daniela Sannwald: »In dem berühmten Porträt des Bundeskanzlers Willy Brandt, 1974 am Tag seines Rücktritts aufgenommen, finden sich Falten wie Gräben, die Täler der Augenpartie, die Topografie der erschlaffenden Gesichtszüge, einzelne Bartstoppeln wie trockenes Gras, die Sonnenschäden der Pigmentflecken.« Die Sonnenschäden könnten von Brandts Familienurlaub auf Fuerteventura herrühren, über den ­Lebeck im Januar 1973 zusammen mit ­Ulrich Blank, der für den Text zuständig war, die achtseitige Homestory »Ein ­Sancho Pansa namens Willy Brandt« im Stern veröffentlichte. Dort sah man Brandt auf einem Esel reiten und mit Hund und Spazierstock am Strand sitzen, mit Sohn Matthias im Arm über den Sand laufen sowie beim Fischfang mit Einheimischen – ­Fotos, die nicht in »Hierzulande« aufgenommen wurden, obwohl sie zeigen, wie fortgeschritten die Personalisierung der Politik in den deutschen Medien bereits vor 50 Jahren war. »Brandt«, so Lebeck, »war immer für eine Stern-Story gut, er galt als Popstar unter den Politikern, und sein größter Fan hieß Henry Nannen.« Ob Adenauer, Erhard, Helmut Schmidt, Walter Scheel oder Helmut Kohl, Lebeck hat sie alle in schwarzweißer Brillanz abgelichtet. Eine seiner ersten Fotoreportagen galt jedoch den im Herbst 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in die BRD zurückkehrenden Wehrmachtssoldaten. Lebeck war 26 Jahre alt und stand in Diensten der Revue.

Neben Politikern fotografierte Lebeck auch andere Berühmtheiten. 1958 begleitete er den GI Elvis Presley im hessischen Friedberg auf dem Weg zur US-Kaserne sowie beim Rendezvous mit einem deutschen »Frollein«. Günter Grass sehen wir auf Wahlkampfreise im Jahre 1965 für die »Es-Pe-De«, seine Lektüre: die National-Zeitung. Suchte Grass darin nach seiner SS-Vergangenheit? Lebeck besuchte 1970 Joseph Beuys in seiner Atelierwohnung am Düsseldorfer Drakeplatz und fotografierte ihn mit einer Axt auf dem Sofa, samt Kindern im Krankenbett sowie die ganze Familie im Bentley S1 sitzend. Die Schauspielerin Romy Schneider, mit der Lebeck laut Georg Stefan Troller »etwas gehabt« hat, hielt er 1976 fest, zumeist mit Zigarette.

Eindrucksvoll sind die St.-Pauli-­Fotos aus dem Jahr 1961 sowie die aus der zwölfdoppelseitigen Stern-Reportage »Deutschland im März« von 1983. Wir sehen einen Mann vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin ein Hakenkreuz auf eine Leinwand pinseln und Kölner ­Jecken, die – in meterlangen Urinrinn­salen stehend – an den Kölner Dom pissen. Ein weiteres Foto zeigt Mercedes-Karossen, die vor der Berliner Mauer geparkt sind, auf den Beton gesprüht die Diagnose »Das Schlaraffenland geht kaputt«.

Cordula Lebeck (Hg.): Robert Lebeck – ­Hierzulande. Reportagen aus Deutschland. Mit einem Essay von ­Daniela Sannwald, Steidl-Verlag, Göttingen 2023, 192 Seiten, 170 Abbildungen, 35 Euro

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