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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Belletristik

Leben im Kleinen

Kein Mensch ohne Ort: Über Thomas Kapielski und die Schönheit des Jetzt und Hier
Von Andreas Maier
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»Mortal Kombat und die Blume« (2022)

Irgendwo habe ich gelesen, dass Sie schon vormittags in der Buchscheer sitzen und Apfelwein trinken.

Nee, geht ja nicht. Die macht erst um 16 Uhr auf. Wenn du vormittags Apfelwein haben willst, kannst du eigentlich nur zum Wagner und ins Gemalte Haus gehen.

Kommen da auch Künstler hin, Literaten? Gibt’s da auch Bier?

Mosebach kommt manchmal ins Gemalte Haus, aber nur zu Fest- und Feiertagen. Demski habe ich nie beim Apfelwein gesehen. Kirchhoff lungert manchmal so um die Ecke im Halbschatten, wenn er nicht gerade in Italien ist. Nur der junge Unseld hängt hier oft herum, der ist aber auch schon siebzig. Ich trinke übrigens auch Bier.

Aha. Mit Literaten?

Nee. Mein letztes größeres Literatenbier habe ich letztes Jahr getrunken, ist schon eine Weile her, in Leipzig, mit Kapielski. Jürgen Roth lag die ganze Zeit abgeschossen auf einer Matratze im Nachbarzimmer, und ich saß mit Kapielski in der Küche, es gab Fassbier, war nett. Kapielski hatte so eine Textsammlung dabei, ich weiß nicht, ob die damals bereits einen Titel hatte, das war eine Art Gespräch, Kapielski hangelte sich da ziemlich eigensprachlich durch seine Welt, seine Gedanken, durch die Berliner Kneipen und überhaupt die Kunst und so weiter, und dann grätscht immer eine andere Stimme rein und fragt irgend etwas, meist so eine Art Stichwortgeber.

Wer ist die andere Stimme?

Keine Ahnung, die hat Kapielski damals einfach mit vorgelesen, klang also wie ­Kapielski. Daraus ist jetzt das neue Buch geworden, »Lebendmasse«, da bin ich auch drin, auch wenn es eine traurige Stelle ist.

Wieso traurig?

Ich hatte mal das Arno-Schmidt-Stipendium, das war ziemlich opulent, zwei Jahre lang. Ein richtiger Jackpot. Davon habe ich Kapielski erzählt. Es ging eine deutliche Aufmerksamkeitsbewegung durch sein Gesicht, übrigens war er sehr ordentlich angezogen, ein gutes, nicht zu oberfeines Sakko, Schuhe, bei denen man wirklich sagen kann, da achtet jemand auf gutes Schuhwerk und weiß auch was darüber, aber nie übertrieben, sondern genau in Maßen, so etwas sieht man selten.

Was war nun also traurig?

Er schreibt, dass er seit unserer Begegnung täglich wartet, diesen Preis auch zu bekommen. Darüber würde er sich vor Freude beömmeln (sein Wort). Aber bestimmt bekomme den als nächster eine sprachbemühte Frau, wegen der Quote. Da könnte ich ihn allerdings beruhigen, ich glaube, die sind da nicht so bei Arno Schmidt. Traurig ist allerdings, dass er jetzt eigentlich nur meinetwegen wartet. Weil ich ihm davon erzählt habe. Sonst wüsste er vielleicht gar nichts davon.

Und, hätte er ihn verdient?

Aber allemal, der Preis, also das Stipendium, würde wie die Faust aufs Auge zu ihm passen. Wenn einer für dieses Stipendium geschaffen ist, dann Thomas Kapielski. Übrigens bin ich selbst auf Kapielski neidisch. Etwas an ihm macht mich schon viel länger traurig.

Was?

Er hatte ein Jahr Bamberg. Darum beneide ich ihn seit 2017. Ein Jahr da wohnen und sich von fränkischem Bier ernähren dürfen, es gibt da so ein Institut, das dieses Jahresglück vergibt, und das hatte er. So kann ich immer nur zwei-, dreimal im Jahr hinfahren, als Tourist, das ist blöd. Also als Blöditourist. Bamberg krieg ich nie.

Reden wir über Kapielskis neustes Buch!

Jawoll! Es besteht aus, wie er es nennt, »acht längeren Unterredungen«. Die Form haben wir schon besprochen, da gibt es diese andere Stimme, die einem ein bisschen dubios vorkommt, ähnlich wie Sie (!). Kann aber schon sein, dass da wirklich wer dahintersteckt, kann auch sein, dass der Text ein bisschen Tonbandaufnahme-basiert ist oder Mobilfon oder so. Man erfährt nebenbei ja so einiges über Kapielski’sche Textproduktionsweisen, und der Mann hat Erfahrung mit Technik. Er ist ein Schneider und Schnipsler von erster Stunde an, manchmal kommt mir vor, was er da von seiner Arbeit schreibt, als säße der leibhaftige Holger Czukay vor einem.

Der den Bass bei Can gespielt hat?

Ja, und die ganzen Kassettenschnipseleien gemacht hat, also diese analoge Vorstufe von Samplings. Das ist überhaupt eines der Großthemen von »Lebendmasse«: Man erfährt im schnellen Zusammenhang, was Kapielski im Laufe seines Lebens überhaupt alles gemacht hat. Mich lässt das etwas fassungslos zurück, dafür hätte ich acht Leben gebraucht, was er da in seinen acht Unterredungen schildert.

Beispiel?

Na, neben den Lesungen wilde, höchst seltsame Konzerte, teils transatlantisch, mit zersägten Schränken und instrumentellen Staubsaugern, zahllose Ausstellungen mit zusammenbrechenden Gebilden – also, ich übertreibe, aber es gab da ein auf Fragilität angelegtes Ding namens »Hochstaffelei«, es ragte bis unter die Saaldecke, eine gute Pointe in Bild und Wort, dieses Ding brach dann wirklich mal zusammen. Oder diese Auftritte mit dem Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchester. Daneben hat er ja auch wirklich viel geschrieben, allerdings fernab von jeder anrüchigen Vielschreiberei. Oder diese improvisierten Diavorträge, auch eine seiner Kunstformen: »Dazu quatsche ich mich dann in Form, bis da so ein hermeneutisches High aufkommt, das nach einer guten Stunde erschöpft zusammensackt.« Das ist das, was er beherrscht wie kaum ein anderer: Die ­Sache ­verbal hochhalten, ein paar Pirouetten drehen lassen, aber genau das Gefühl dafür haben, wann die Sache wieder vom Eis muss. Das wird auch im Buch so gehalten. Man liest es mit großem Genuss und großer Belehrung.

Belehrung? Klingt abschreckend.

Im Gegenteil. Man geht einfach mit ­Kapielski mit, zurück in seine Kindheit, zum ersten Tonbandgerät, zurück auf die Berliner Kindergasse von damals, oder mit dem Förstergroßvater in den Wald, jener Großvater hatte ein auffällig philosophisches Verhältnis zu Bäumen, oder man läuft ein bisschen mit Kapielski als Postausträger herum, da gibt es eine irre Stelle, wie ihm als Zusteller die Kindl-Brauerei zugewiesen wird, da bekommt er gleich ein paar Bons in die Hand gerückt, die löst man für die Kantine (»Stimmung wie beim Oktoberfest«) gegen Münzen ein, an der Wand sind in Reihe Zapfhähne angebracht. »Du spülst dir ein Halb­literglas, dann untern Hahn damit, oben die Münze in den Schlitz, und da hast du einen wunderbar gezapften Halben. Und das im Dutzend.« Man lernt noch einmal, wie es war und wie es früher sein konnte. Manchmal schöner als heute. Was aber auch, zumindest für mich Nichthauptstädter, ziemlich ernüchternd lehrreich bei der Lektüre war: Für ­Kapielski ging es schon seit dem Jahrtausendwechsel merklich mit dem los, was wir heute überall haben, dieses gegenseitige politische Beäugen und Kontrollieren und dieses Meinungs- und Haltungszeug. Man muss den Suhrkamp-Verlag loben, dieses Buch überhaupt so in die Öffentlichkeit gebracht zu haben. Da stehen Wörter drin, da würden sich ­gewisse sehr achtsame Menschen, die würden sich, also, ich will das nicht ausführen …

Wollen Sie eines der Wörter sagen?

Nein, natürlich nicht. Also, damit lebt Kapielski schon länger, mir ist das erst in den letzten Jahren klargeworden, wohin der Hase rennt.

Rennt der Hase?

Ja, sehr schnell sogar. Kommen wir aber zurück zu dem, was war. Es ist auch ein Kindheitsbuch, es ist ein Zeitdokument, manchmal habe ich mich fast wie bei Kempowski gefühlt, zumindest was das Noch-mal-Anschaulichmachen einer längst vergangenen Welt, die wir alle ­wenigstens noch halbwegs kannten, angeht. Kindheit fast ohne Fernsehen und so. Straßen, in denen es Läden gab. Telefon nur im Wohnzimmer oder beim Nachbarn. Leben im Kleinen. Im Umgrenzten. Zum Nieder­knien an diesem Buch ist, dass hinter allem – zumindest für mich, Kapielski muss das gar nicht bewusst sein – eine Großthese steht oder ein Großplädoyer.

Oha. Wollen wir zuerst vielleicht noch ganz kurz ein anderes Thema anschneiden, bevor das Großplädoyer kommt?

Welches denn?

Sie sprachen am Anfang von Lokalen und Literaten bei Ihnen in Frankfurt. Damit wollten Sie ja sicherlich atmosphärisch schon auf Kapielskis berlinzentriertes Buch zusteuern. Wer kommt denn so alles bei Kapielski vor an lokalen und überlokalen Berühmtheiten?

Unterhaltsam viele. Kippenberger, ­Cave, Zappa, wo soll man da anfangen und wo aufhören? Die Leute von Merve. Mit Baudrillard geht es in die Peepshow. Dann ein wirklich toller Auftritt von Hermann Nitsch beim Spielen eines grandiosen Kartenspiels namens »Kohlenberta«. Die schütten sich da so zu, dass Kapielski irgendwann am Nitsch abtestet, ob dessen Bart echt oder angeklebt ist, was zu rabiaten Szenen führt, während im Geschoss darüber oder darunter der Saal schon oder noch von Blut tropft. Einmal ist Kapielski irgendwo im hohen Norden bei einem Festival für elektronische Musik dabei, da hält auch Stockhausen Hof. Anhand von Stockhausen schildert Kapielski sehr schön eine bestimmte Künstlerpersönlichkeitsgattung, nämlich die, die ihrer Berühmtheit angemessen stets Luxushotels und allerlei Dienstbotengänge und überhaupt ständige Aufmerksamkeit und Pipapo für sich fordert. Kapielski bon­motiert: »Jetzt ist das Komische oder Vielzumenschliche, dass die Veranstalter diese hochkomplizierten Wichtigtuer im Grunde mehr mögen und beachtlicher finden als die einfachen Fälle (…) Da mussten Studenten und Hiwis von einer sogenannten Klanginsel zur anderen immer hin und her wetzen, immer vierhundert Meter dahin und zweihundert dahin, um irgendwelche Klangbefehle des Meisters zu übermitteln. Das war alles schon krank. Aber die Leute reden dort bis heute allein über diesen einen, großgearteten Blödsinn. Die Wichtigtuerei lohnt sich.«

Wie ist denn Thomas Kapielski selbst?

Ja, sehen Sie, ein sehr angenehmer Mann. Zweimal saßen wir zusammen bei ausuferndem Bier. Ich weiß genau, was er meint. Ich habe es oft genug erlebt.

Kommen wir zum Plädoyer?

Wir haben jetzt eine ganze Bandbreite von Orten und Personen mitbekommen, Personen immer irgendwo konkret angetroffen, also an konkreten Orten zu konkreten Zeiten. Eine lange Strecke des Buches gehört den Eltern und Großeltern, jeweils ebenfalls in ihrer konkreten Zeit und an dem je spezifischen Ort. Stockhausen skandinaviert, Nitsch berliniert, Kapielski selbst bambergiert, newyorkiert, kölniert und kreuzbergert und so weiter, kein Mensch ohne Ort, kein Mensch ohne seine Zeit in dem ganzen Buch, man könnt es klug­tuerisch und schlecht ausgedrückt eine Topo­graphie von Ort und Zeit nennen. Die Menschen in dem Buch haben in allem, was Kapielski über sie schreibt (ihn selbst inbegriffen), in allem, was sie erleben, und in allem, was sie in der Situation sind, in der wir sie antreffen, ihr Leben, ihren Ort, ihre Zeit, ihre Kneipe, ihren Tisch, ihre Situation und ihr gesellschaftliches Zusammentreffen, teils mit ihrem, teils gegen ­ihren Willen. Begegnungen glücken, Situationen katastrophieren. Aber alles ist erlebt, stets – ja! – erlebt. Und der Weg zum anderen bedeutete oft sogar noch die Mühe viel komplexerer Anreisen. So würde ich das Plädoyer formulieren: Was Menschen für uns sind und waren, sie, wir – wir alle haben immer in Begegnungen stattgefunden an konkretem Ort und in konkreter Zeit. Alles an Lebendmasse ist in dieser Form konkret, physisch, anfaßbar, es riecht, es hat Tastbarkeit und kotzt manchmal in die Ecke, ist meistens noch ungeflugzeugt und war dann auch wirklich mal geschehen und hatte sich konkret auf dieser Welt als eines ihrer zahllosen Details. Deshalb ja auch Kapielskis gute Entrüstungen über den fremdgebildeten, ungelebten, am Reißbrett entworfenen Haltungsscheiß, dieses aseptische Zeug von totgeborenem Denk- und Gefühlspseudomaterial, in die Welt hinein verramscht von Menschen, die keine Welt kannten und nie eine kennenlernen, dafür aber die großen Urteile fällen. Menschen gibt es nur vor Ort und in der Sekunde an diesem Ort und nicht im Fernsehen und nicht im Netz. Dort gibt es nur Totalikratur. Beim ollen Kapielski dagegen gibt nur wie eh und je Leben aus Zufall, Gegenwart und massiver Wirklichkeit.

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