junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 11. / 12. Mai 2024, Nr. 109
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Feminismus, Beilage der jW vom 06.03.2024
Feminismus

Jederzeit gefährdet

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Antifeministische Entwicklungen und Sexismus mal anders – in einem Sachcomic
Von Mona Grosche
#blackdragmagic_06.jpg
Die Kirche und Queerfeindlichkeit: Mandisi Dolle Phika hat sich bewusst für diesen Hintergrund entschieden

Nein, da kennt die Schulleitung kein Pardon. Luftige Trägertops sind für Mädchen verboten. »Schultern zeigen geht nicht«, heißt es bei 38 Grad im Schatten. Auch Röcke und Hosen, die über dem Knie enden, sind nicht erlaubt. Das Szenario stammt aber nicht aus den 1960ern, sondern ist Alltag an einem Gymnasium in Bonn im Jahr 2024, wie die 18jährige Tochter einer Freundin beim Abendessen beiläufig erwähnt. Die Botschaft, die hier Mädchen und jungen Frauen vermittelt wird, ist eindeutig: Dein Körper ist nicht okay, sondern eine stete Versuchung für das männliche Geschlecht – und was du davon zeigen darfst, entscheiden andere.

Augen geöffnet

Alltägliche Begebenheiten wie diese belegen: Stereotype Behandlung im Erziehungswesen, Gender-Pay-Gap in der Arbeitswelt und ungerechte Verteilung der Carearbeit sind an der Tagesordnung. Auch wenn viele Menschen überzeugt sind, dass eigentlich kein Grund mehr besteht, um für Gleichberechtigung und Chancengleichheit zu kämpfen.

Auch Lauraine Meyer, die als weiße Cisgender-Frau in Frankreich sozialisiert wurde, war bis vor wenigen Jahren überzeugt, dass im 21. Jahrhundert Feminismus kein Thema mehr ist. Doch dann bekam sie zufällig das Buch »Ödipus’ Schwester« von Benoîte Groult in die Finger. Die Lektüre wirkte als Augenöffner. Sie zeigte ihr, dass nicht nur weiterhin große Ungleichheit herrscht, sondern die mühsam erkämpften Rechte jederzeit gefährdet sind, insbesondere wenn konservative oder ultrarechte Kräfte die politische Oberhand gewinnen.

Meyer beschäftigte sich daraufhin mit vielen weiteren Publikationen zu Feminismus und betrachtete die Welt fortan unter der Fragestellung, wo Sexismus zu finden ist. Und leider kam sie zu dem Schluss: überall. Ihre Beobachtungen, Erfahrungen und Recherchen hat sie in einem schön gezeichneten, lesenswerten Sachcomic zusammengefasst. »Feminists in Progress« ist genau das, was der ­Untertitel verspricht. »Ein Comic-Guide für Empowerment, Body Positivity und Vielfalt«. Gut recherchiert und mit zahlreichen Quellen zum Nachlesen vermittelt die Zeichnerin und Autorin auf gut 220 Seiten in Beispielen aus allen Bereichen des menschlichen Lebens, warum Feminismus keine abgehobene verschrobene Theorie ist, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit.

Sehr sympathisch ist dabei, dass von der ersten bis zur letzten Seite des Comics klar vermittelt wird: Die Botschaft des Feminismus basiert nicht auf Männerhass. Im Gegenteil, es geht um Chancengleichheit für alle, die nur erreicht werden kann, wenn neben den patriarchalen Unterdrückungsmechanismen auch alle anderen gesellschaftlichen Ausgrenzungsstrukturen beseitigt werden.

In ihrem ausgesprochen unterhaltsamen Buch präsentiert Meyer keine zusammenhängende Geschichte, sondern widmet sich in acht Hauptkapiteln unterschiedlichen Themenbereichen, die in keiner chronologischen Reihenfolge stehen, sondern unabhängig voneinander gelesen werden können. Dabei handelt es sich um Feminismus, Sexismus, Geschlecht, Beziehungen, Körper, Sexualität, Mutterschaft und Don’t give up the fight. Amüsant und informativ sind sie alle, doch gerade das letzte Kapitel ist hervorzuheben, da es Mut macht, selbst aktiv zu werden. Es zeigt, wie wir als einzelne Personen, egal wie wir uns definieren, Solidarität zeigen, alltäglichen Sexismus bekämpfen und jungen Menschen zum Empowerment verhelfen können.

Feminismus für alle

Zu jedem der Themenbereiche gibt es auch noch einige Unterkapitel. Darin geht Meyer einfühlsam, lustig und kein bisschen langweilig auf Themen wie Mental Load, Gender-Pay-Gap, Women of Color oder Verhütungsmittel für Männer ein. Mitunter springt sie zwar inhaltlich ein wenig hin und her, das tut dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch. Auch in der graphischen Gestaltung beweist Meyer Phantasie und Einfallsreichtum. Es gibt keine herkömmlichen Panels, sondern einzigartig gestaltete Seiten, die eine individuelle Lesart unterstreichen. Die Illustrationen kommen augenzwinkernd in einem Traum in Pastell daher. Mit dem stereotypen Farbschema von Rosa und Hellblau, ergänzt durch Farbtupfer in zartem Gelb, parodiert sie klassische Geschlechterklischees und schafft so eine heitere, positive Atmosphäre.

Mühelos gelingt ihr, mit ihrem Comic nicht nur Menschen anzusprechen, die sich bereits mit Feminismus beschäftigt haben, sondern auch solche, für die das Thema ganz neu ist. Dabei ist ein Glossar hilfreich, in dem die wichtigsten Begriffe wie Male Gaze, Intersexualität oder Femizid erklärt werden. Für alle, die mehr wissen wollen, gibt es eine Liste mit Adressen im Internet, Serien, Filmen, Podcasts, Comics und Büchern. Ein beeindruckendes Leseerlebnis – nicht nur zum Frauenkampftag!

Lauraine Meyer ­(Übersetzung: Marion Herbert): ­Feminists in Progress. Carlsen-Verlag, Hamburg 2023, 229 Seiten, 26 Euro

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche: