junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Freitag, 10. Mai 2024, Nr. 108
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Alternatives Reisen, Beilage der jW vom 21.02.2024
Alternatives Reisen

Selbstbestimmt leben

Seit über 50 Jahren wächst die Landwirtschaftskooperative »Pro Longo Maï«. Manche Gäste bleiben über Jahre
Von Dominik Wetzel
Annemarie Schwarzenbach interessiert sich nicht für die Konventionen ihrer Zeit: Die Reisende im französischen Lavandou
Nachdem die Ernte vom Feld geholt ist, geht es zur Weiterverarbeitung. (Saint-Martin-de-Crau, 11.8.22)
Das alte, von Feldern und Pflanzen umgebene Haupthaus von Mas de Granier. (Saint-Martin-de-Crau, 11.8.22)
Es bedarf viel Fingerspitzengefühl und Zeit, die Feinheiten der Arbeit zu lernen. (Saint-Chaffrey, 17.8.22)
»Gegen alle Kriege«: Auch der Webstuhl ist ein politischer Ort. (Saint-Chaffrey, 17.8.22)

In der französischen Provence hat es wochenlang nicht geregnet. Die schwere Dürreperiode, mit der die ganze Welt im Sommer 2022 zu kämpfen hat, verschont auch den Süden Frankreichs nicht. Der Sommer hat erst begonnen, und im Land ist schon die vierfache Fläche von Paris niedergebrannt. Doch bei einer Hitze um die 40 Grad wachsen hier saftige Heuwiesen. Wir befinden uns in der Crau, ein für sein reichhaltiges Heu bekanntes Landwirtschaftsgebiet östlich der uralten Stadt Arles, in der noch immer die Prunkbauten der Römer stehen. Soweit das Auge reicht, zieren Monokulturen das Land, am Straßenrand begleitet uns der lebenswichtige Kanal Craponne, mit dem die örtlichen Felder geflutet werden. Mittendrin der auf Vielfalt setzende Ökobauernhof Mas de Granier, er gehört zum Kooperativennetzwerk »Pro Longo Maï«, das in weite Teile Europas verzweigt ist. Der Begriff ist provenzalisch und bedeutet übersetzt: »Es möge lange dauern.«

Häuser und Hof sind selbstverwaltet. Diejenigen, die hier arbeiten, kontrollieren auch die Produktion. Einmal die Woche werden im großen Plenum anstehende Aufgaben verteilt und Grundsätzliches geklärt. Sowohl diejenigen, die seit Jahren dabei sind, als auch die Durchreisenden verwalten in Räten die Bedürfnisse der Kooperative. Einige der hier Lebenden kommen für wenige Wochen, verlängern ihren Aufenthalt immer wieder und bleiben schließlich Jahre.

Der Hof ist kein Urlaubsresort. Es gibt viel zu erledigen. Wer hier Zeit verbringt, muss auch mit anpacken. Nach einem entspannten Frühstück im Schatten gewaltiger Bäume, deren Wurzeln bis zum Grundwasser reichen, also raus aufs Feld. Sobald die Früchte reif sind, müssen sie auch vom Feld geholt werden. Also erntet das Kollektiv die selbst angebauten Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln, Paprika, Physalis, Kräuter etc. und verarbeitet sie in der hofeigenen Konserverie zu Soßen und Aufstrichen. Die werden auf den naheliegenden Bauernmärkten, im hofeigenen Laden und online verkauft. Beim Unkrautjäten lässt Till die ausgerissenen Pflänzchen auf dem Boden liegen, »damit der Boden die Feuchtigkeit hält«, erklärt er stolz, als er sich um seinen Kräutergarten kümmert. Eine kleine Gruppe teilt sich spontan zum Kartoffeln ausgraben auf, eine andere geht zum Ausgeizen der Pflanzen, damit sie größere Früchte tragen. Am Tag darauf müssen alle mit anpacken, die Tomaten sind reif zum Ernten und müssen zeitnah in der Konserverie verarbeitet werden. Dort wird nach hohen Hygienestandards gewaschen, geschält und in einem hüfthohen Kochtopf gekocht und verarbeitet, was gestern noch mit dem kleinen roten Traktor vom Feld geholt wurde.

Eines Morgens werde ich geweckt von dem Geräusch von Schlägen. Ein Stück Holz schwingt unweit meines Fensters auf den Boden, dann auf einen Baum, dann wieder auf Metall. Begleitet vom angestrengten Schnauben und Fluchen einer alten Dame und dem erregten Brummen eines Bienenschwarms. Als ich nachschaue, sehe ich Sabina – Mitbegründerin der Longo Maï seit der ersten Stunde – wie sie im leichten Blumenkleid ohne Imkerschutz in einem Schwarm von Honigbienen steht und immer wieder wütend zuschlägt. »Die Bienen kennen mich«, sagt sie, »aber die Hornissen fressen meine Bienen«. Und die macht sie platt.

Seit der Gründung vor über 50 Jahren ist es Ziel der Initiative, eine Alternative zu den kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen zu leben und zu verbreiten. Die erste Kooperative wurde 1973 in der französischen Provence gegründet. Seitdem hat sich das Netzwerk über Frankreich in verschiedene Regionen Österreichs, Deutschlands, der Schweiz bis in die Ukraine und sogar nach Costa Rica ausgebreitet.

Alle acht Tage werden die Heufelder geflutet. Ein jahrhundertealtes System, das die Crau, ein natürlicherweise sehr trockenes Gebiet, zu einem fruchtbaren Ackerbau- und Weideland macht, dessen Heu weitläufig begehrt sein soll. Manchmal weiden hier auch Schafe, deren Wolle nahe der italienischen Grenze mitten im Skigebiet von Briançon zu Kleidung verarbeitet wird. Seit 1976 gehört die Wollweberei aus dem 19. Jahrhundert zum Netzwerk. Ein Kanal leitet sein Wasser unter dem Gebäude hindurch, im Keller wird die Wolle gewaschen, eine Turbine versorgt die Weberei mit Strom. Die Maschinen, mit der die Wolle zu Garn verwandelt wird, sind alt, das Handwerk zu lernen dauert lang.

Die Menschen, die im Longo-Maï-Netzwerk leben und arbeiten, gehen häufig von einer Kooperative zur anderen, ziehen dahin, wo gerade helfende Hände benötigt werden. Denn obwohl häufig Gäste kommen, mangelt es mancherorts an Arbeitskraft und Menschen, die langfristig bleiben. Bei einem Verkauf ihrer Waren in der Regenbogenfabrik in Berlin treffe ich Anne. Sie lebt in der Kooperative Ulenkrug in Mecklenburg-Vorpommern und bietet Lammfelle und Wurst an. Lange Verpflichtungen einzugehen sei eine Qualität, die der heutigen Generation abhanden gegangen sei, sagt sie. Sich einem Projekt zu widmen, das Jahre in Anspruch nimmt, sei vor allem für junge Menschen, welche »die Welt sehen wollen« nicht selbstverständlich. Dagegen zu lernen, wie man mit Wolle und Holz arbeitet, vom Korn bis zum Ofen »zu lernen, wie man Brot backt«, dauere Jahre.

Bei Longo Maï leben Menschen aller Art und jeder Generation zusammen. Geld für die Arbeit gibt es kaum. Diejenigen, die hier leben und arbeiten, halten das Projekt am Laufen, leben dafür an Ort und Stelle kostenlos und werden mit dem Lebensnotwendigen versorgt. Für einen Monat Arbeit wird ein Taschengeld ausgezahlt. Wer mehr braucht, kann die Finanzverantwortlichen der Gemeinschaft um mehr bitten. Man versorgt sich weitestgehend selbst. Das Essen auf dem Tisch wird selbst angebaut. Über die Erlöse aus Landwirtschaft und Wollproduktion hinaus finanziert sich das Kooperativennetz über Spenden, die zum größten Teil aus der Schweiz kommen. Damit ist das Projekt aber eben nicht autark, denn es steht nicht auf eigenen Beinen. Dafür unterstützt Longo Maï wiederum Projekte zur Flüchtlingshilfe, wie sie derzeit der Hof Selenij Gai im westukrainischen Transkarpatien leistet. Zum Netzwerk gehört sogar eine Flüchtlingskooperative auf Costa Rica, die Finca Sonador.

Longo Maï ist eben kein Projekt von Aussteigern, sondern durch und durch politisch. Anne erklärt: »Wir sehen uns als linke, antifaschistische Gruppe, die international zusammenarbeitet und sich politisch/gesellschaftlich zu verschiedenen Themen einmischt. Außerdem sind wir Teil der weltweiten Bewegung La Via Campesina und sehen Landwirtschaft als ein wichtiges politisches Thema.«

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • »Wir mobilisieren weiter«: Die Confédération paysanne ist mit de...
    03.02.2024

    Riss durch die Bauernbewegung

    Frankreich: Großbetriebe zufrieden mit angekündigtem Stopp von Umweltauflagen. Kleinbauern kämpfen weiter ums Überleben
  • 30.01.2023

    Gegen alle Widerstände

    Olaf Scholz will jetzt Druck machen, um Ratifizierung des Freihandelsabkommen EU–Mercosur voranzutreiben

Regio:

Mehr aus: Ausland