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Aus: Irrationalismus und Klassenkampf, Beilage der jW vom 02.06.2021
Irrationalismus und Klassenkampf

Verratet eure Klasse!

An die Arbeit: Lukács und die Wiederherstellung der verlorenen und zerstörten Vernunft
Von Matthias István Köhler
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»Keine Vorwärtsbewegung in eine der Bejahung würdige Zukunft«: Bei einer Massensuggestion um 1930

Diese Beilage erscheint, weil vor 50 Jahren am 4. Juni der große marxistische Philosoph Georg Lukács gestorben ist. Todestage werden von junge Welt für gewöhnlich nicht gefeiert. Es gibt genug mit den runden Geburtstagen jener Persönlichkeiten zu tun, denen wir uns verpflichtet fühlen und die von der Monopolpresse verschwiegen, verleumdet oder gezähmt in die enthistorisierte Wohlfühlgesellschaft integriert werden. Wir haben bei Lukács eine Ausnahme gemacht.

»Irrationalismus«, schrieb vor einer guten Weile der Kollege Daniel Bratanovic in dieser Zeitung, »hatte von dem Zeitpunkt an durchgängig Konjunktur, als das Bürgertum endgültig an die Macht gekommen war und dessen vernunftbegründete Ideale sich permanent an der kapitalistischen Wirklichkeit blamierten. Gegenwärtig scheint aber wieder Boomphase zu sein.« Was es nun mit dieser Blamage auf sich hat und warum der Irrationalismus derzeit wieder eine Boomphase erlebt, das ist Thema dieser Beilage.

Lukács lebte in den Jahren von 1933 bis 1945 in der Sowjetunion. Der Sohn aus einer großbürgerlichen jüdischen Budapester Familie schreibt in dieser Zeit jene Studien über die Geschichte der deutschen Literatur, die seinen Weltruhm begründen sollten. Ihr Zweck war, dem Hitler-Faschismus die deutsche Kultur zu entreißen – verbunden mit einem mehr oder minder offenen Appell an die fortschrittlichen Teile des Bürgertums: Verratet eure Klasse! Stellt euch in den Dienst der revolutionären Arbeiterbewegung!

Krönung dieser Anstrengungen ist sein Werk »Die Zerstörung der Vernunft«, dessen »Stoff«, wie er schreibt, nicht weniger als »der Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie« ist. Es erscheint erstmals im Aufbau-Verlag in der DDR und zwar 1954, zur rechten Zeit: In der BRD wird die Politik der Wiederbewaffnung betrieben und bereits über den Eintritt in das westliche Kriegsbündnis NATO verhandelt, der dann ein Jahr später vollzogen wird.

»Die Zerstörung der Vernunft« behandelt die Geschichte der reaktionären Philosophie in Deutschland, insbesondere den Irrationalismus, »dessen Emporwachsen, dessen Ausbreitung zur herrschenden Richtung der bürgerlichen Philosophie«. Dennoch geht es nicht um eine innerphilosophische Angelegenheit: Für den am historischen Materialismus geschulten Lukács sind es die Entwicklung der Produktivkräfte und der Gesellschaft, die Entfaltung der Klassenkämpfe, die der Philosophie ihre Probleme und auch Lösungen stellen – selbst wenn ihre Vertreter sich dessen nicht bewusst sind.

Die Haltung zur Vernunft ist dabei ausschlaggebend: »Die Vernunft wird verneint oder ihre Ohnmacht verkündet (Scheler), sobald die Wirklichkeit selbst, das vom Denker gelebte Leben keine Vorwärtsbewegung in eine der Bejahung würdige Zukunft, keine Perspektive einer die Gegenwart überragenden Zukunft zeigt.« Für den ungarischen Marxisten war spätestens als die europäische Zivilisation im Ersten Weltkrieg an die Wand fuhr, klar, dass diese Zukunft nur eine sozialistische sein kann. Die welthistorische Tatsache, dass erst die Sowjetunion und die Rote Armee den deutschen Faschismus besiegen konnten, bestätigte ihn darin.

Während der Horizont des gegenwärtigen akademischen Denkens etwa bis zur nächsten Bewerbung auf eine befristete Stelle an einer der marktkonform zugerichteten Wissensfabriken reicht, stand für Lukács also unendlich mehr auf dem Spiel. Sein Buch ist ein Aufruf, die Arbeit an der Wiederherstellung der verlorenen und zerstörten Vernunft und damit einer der Bejahung würdigen Zukunft aufzunehmen. Seither ist viel Wasser die Donau runtergeflossen, getan ist diese Arbeit aber auch 50 Jahre nach seinem Tod nicht. »Es ist schwer«, schreibt Lukács, »aber nicht unmöglich. Goethe lässt seinen Faust sagen: ›Drum fassen Geister, würdig, groß zu schauen / zum Grenzenlosen grenzenlos Vertraun.‹«

Matthias István Köhler leitet das Ressort Außenpolitik der Tageszeitung junge Welt.

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