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Aus: Ausgabe vom 19.04.2006, Seite 4 / Inland

Erst »Ehrenmord«, dann Sorgerecht?

Familie Sürücü meldet Ansprüche auf Sohn des Mordopfers an
Nach dem Urteil im Berliner »Ehrenmordprozeß« ist der Streit um den Sohn der erschossenen Deutschtürkin Hatun Sürücü voll entbrannt. Ihre Schwester Arzu will das Sorgerecht für den sechsjährigen Can beantragen und hat damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Denn auch wenn nur ein Bruder schuldig gesprochen wurde, wird davon ausgegangen, daß die gesamte Familie in den Mord involviert war.

Hatun Sürücü wuchs in Berlin auf und wurde mit 16 Jahren in der Türkei von ihren Eltern mit ihrem Cousin Ismail Aslan zwangsverheiratet. Dort wurde sie schwanger, kehrte aber nach Berlin zurück, wo sie im Mai 1999 ihren Sohn zur Welt brachte. Weil ihr Mann sie geschlagen haben soll, ließ sich Hatun später scheiden. Wegen ihrer modernen Lebensweise wurde sie im Februar 2005 von ihrem Bruder erschossen. Ihr Sohn lebt seither in einer Pflegefamilie, bei der er nach dem Willen des Jugendamtes auch bleiben soll. Die 23jährige Schwester der Ermordeten, Arzu Sürücü, die nicht verheiratet ist und noch bei den Eltern lebt, beansprucht jetzt aber das Sorgerecht für den Sechsjährigen.

Das Wohl der Kindes steht bei jeder Entscheidung über das Sorgerecht in Deutschland im Vordergrund. In der Praxis wird zwar den engsten leiblichen Verwandten nach Möglichkeit der Vorrang eingeräumt. Im Fall Sürücü sieht die Monheimer Familienrechtlerin Marion Prondzinsky-Kohlmetz aber wenig Chancen für die Schwester: »Es wäre paradox, wenn das Kind in der Familie des Mörders seiner Mutter leben müßte.« Dies würde wohl auch ein Gericht als unzumutbar ansehen. Ein Umgangskontakt mit dem Kind wäre der Familie aber womöglich nicht zu verweigern.


Anders ist der Fall beim leiblichen Vater gelagert: »Um das Sorgerecht des Vaters kommt man schlecht herum«, urteilt Prondzinsky-Kohlmetz. Da der in Istanbul lebende Mann offenbar nicht im Kontakt mit der Familie Sürücü stand und ihm daher nicht unterstellt werden kann, er sei Teil eines Mordkomplotts gewesen, müßte ein Gericht abwägen zwischen den Rechtsgütern »Sorgerecht des Vaters« und »Wohl des Kindes«.

Der Vater hat die Möglichkeit, von der Türkei aus das Verfahren zu betreiben. Er könnte dort einen Anwalt beauftragen. Würde ihm das Sorgerecht zugesprochen, dann könnten deutsche Stellen dagegen ihrerseits Widerspruch einlegen. Letztendlich gilt allerdings deutsches Recht, da der Junge in Deutschland geboren wurde. (AFP/jW)

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