Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Mittwoch, 12. Juni 2024, Nr. 134
Die junge Welt wird von 2782 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Aus: Ausgabe vom 13.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Eurovision Song Contest 2024

Extreme Zustände

Welt aus den Fugen beim bunten Sangeswettstreit: Der Eurovision Song Contest 2024 in Malmö
Von Maximilian Schäffer
11.JPG
Sieger auf der in Schräge stehenden Spiegelscheibe: Nemo, Falsettist

Hinweis: Der vorliegende Beitrag hat für einige Irritationen gesorgt. Um einige davon vielleicht aus dem Weg zu räumen: Beim Eurovision Song Contest handelt es sich zweifellos um eine groteske Veranstaltung. Unser Autor hat deshalb mit einigem Recht darauf in Form einer Groteske reagiert. Diese Textgattung ist qua definitionem geprägt von polemischen Verzerrungen, parodistischen Zuspitzungen und Provokationen. Der Beitrag richtet sich in keiner Weise generell gegen Schwule, sondern eindeutig gegen einen Teil der queeren Szene, die sich beim ESC feiert und zugleich dessen Charakter als Selbstbeweihräucherung des »liberalen Westens« affirmiert, sich also instrumentalisieren lässt. Die Sprecherposition ist zum einen in der Unterüberschrift durch die »Hamlet«-Anspielung »Die Welt ist aus den Fugen« (im Original »The time is out of joint«) als eine literarische (»außer Rand und Band«) markiert. Im Text selbst markiert sich die Sprecherposition in der beredten Passage: »als Schwuler hat man keine andere Wahl: Ukrovision oder Kopfabschneiden«. Sie sieht sich selbst mitnichten außerhalb der schwulen Community und ihren politischen Widersprüchen. (jW)

Der diesjährige Ukrovision Songcontest fand im schwedischen Malmö statt. Landesfarben blau-gelb. Schon im Vorfeld gab sich die europäische Wertegemeinschaft große Mühe, dass die Ukrovision nicht zur Palivision mutiert. Ungefähr 10.000 demonstrierten Tage zuvor für den Ausschluss des israelischen Beitrags beim bunten Sangeswettstreit. Die örtliche Polizei erklärte die Masse zur »angespannten Sicherheitslage« und räumte auf. Was ein »völkerrechtswidriger Angriffskrieg« ist und was »Selbstverteidigung«, hat man bei der Ukrovision klar vor Ohren. So ein T-90 macht einen ungehörigen Höllenlärm, während der »Merkava« in reinem Wohlklang durch den Sand säuselt. Alles Böse, Regressive, Östliche musste zur Primetime zu Hause bleiben: Russen und Belorussen. Sämtliche (zwei) Militärexperten der »Tagesschau« hatten bereits vor Monaten analysiert, dass die Ukraine dieses Jahr den USC endgültig für sich entscheiden würde. Jury, Publikum und Teilnehmer, die vereinten Kräfte der Demokratie, erklärten, dass der Heldentod auch am Mikrofon ein ehrenhafter sei. 10.000 Demonstranten und Greta Thunberg stimmten mit einem fröhlichen »Allahu Akbar« zu.

Provisorisch reduziert wurde das Teilnehmerfeld von 26 auf 25 Startnummern. Der Niederländer Joost Klein war mehrfach unangenehm aufgefallen. In der Vergangenheit unter anderem mit einer Coverversion des Otto-Waalkes-Schlagers »Friesenjung«. Kleins europaeuphorische Dance-Hynme »Europapa« wäre eigentlich noch ganz im Sinne der Ukrovision gewesen, doch »aggressive Gesten« gegen eine Kamerafrau und wiederholte Anfeindungen gegenüber der israelischen Teilnehmerin Eden Golan sorgten für seinen Ausschluss aus dem Wettbewerb. Die 20jährige Golan hatte ihr Päckchen wahrlich zu tragen und konnte zwischen den Proben ihr Hotelzimmer nicht verlassen. Der Sicherheitskonvoi zur Malmö-Arena bestand aus 100 Polizisten. Golans Mutter ist Ukrainerin. Trotzdem steht die Sängerin selbst auf der Internet-Todesliste »Mirotworez« als Feindin der Ukraine, weil sie im Alter von zwölf Jahren an einem Sangeswettbewerb auf der Krim teilnahm. Platz 5.

Extreme Zustände. Aber als Schwuler hat man keine andere Wahl: Ukrovision oder Kopfabschneiden. Den schönsten Schwulen schickte dieses Jahr Litauen ins Rennen. Silvester Belt verließ einst das Baltikum, weil er dort diskriminiert wurde. In Zukunft hält eine Brigade der Deutschen Bundeswehr in Vilnius und Kaunas für ihn die Regenbogenstange. Platz 24. Großbritannien schickte den offensichtlichsten Hinterlader auf die Bühne. Schwulenaktivist Olly Alexander und sein Tanzensemble ballettbumsten noch offensiver als der Rest. Platz 18.

Aus der geschlechtsneutralen Schweiz kam der Sieger. Nichtbinär und pansexuell aus Biel bei Bern und in einer Beziehung mit einer Frau in Berlin, trat der Falsettist Nemo an. Der bemühte Aushilfscountertenor rappte sogar. Selbstbewusst schändete er den guten Namen der Leiche von Klaus Nomi (24.1.1944 bis 6.8.1983). Auf einer in Schräge stehenden Spiegelscheibe lieferte Nemo – zwischen Slavendisco, Ethno-Ballermann und siebenhundert aufs Glockenstimmchen des Singvögelchens ausgerichteten, anämischen R&B-Balladen – das einzige nennenswerte Songwriting des Abends. Er hampelte dazu illuster genug. Platz 1.

Keine Überraschungen beim Ukrovision Song Contest 2024. Beide besagte Militärexperten der »Tagesschau« lagen hinsichtlich des Sieges der Ukraine wieder einmal goldrichtig. Alyona Alyona und Jerry Heil wurden trotz oder wegen ihres paganen Maria-Magdalena-Pathos Dritte.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von John W. aus Bamberg (16. Mai 2024 um 00:17 Uhr)
    Eins machte mir der Artikel deutlich: Hier in diesem Blatt darf jeder beitragen. Das ist irgendwo gut und demokratiefördernd. Doch als ich den Artikel las, kam mir viel Unverständnis hoch, ob ich den Text richtig interpretiert habe: war das grad Kritik gegen den ESC und der Verbindung, dass sie queere Menschen als goldene Gans benutzen um sich den Apparat des ESC als gute Sache darzustellen oder war das grad wirklich queerfeindliche Hetzschrift? Durch und durch zieht sich die zynische Madness, die aus dem Hass gegen moderne Verwortlautung entstand und die Existenz von Nichtbinären in seinen Bann zieht hinein und über den ganzen Text verteilt sie sich. So ist ständig die Rede vom Ukrovision, Pro-Palästinensische Aktivisten kriegen auch einen vorm Latz, dann ist wegen des Sieges die ganze Schweiz geschlechtsneutral und es wird genauso zynisch am Anfang des Satzes die sexuelle und Geschlechtsidendität hervorgehoben. Kein Problem für Sie? Wie würde es klingen, wenn sie jeden Tag in der Zeitung lesen würden: »der heterosexuelle CIS-Mann Olaf Scholz hat...« oder »cisgender und heterosexuell ist die neue Besatzung bei...« - schon komisch oder? Hier wird aktiv gespalten. Und das finde ich unrühmlich, dass der Autor seine Emotionen über die Enttäuschung der (Aus-)nutzung des ESCs von queeren Menschen nicht diesem ganz gelten lässt, sondern diese in Form von Verachtung auf die Betroffenen überlässt. In einer Zeit wo wir Solidarität so sehr brauchen wie noch nie, müssen wir sie auch so sehr geben wie noch nie! Das gilt meiner Ansicht allen (!) queeren Menschen, allen Menschen in Armut und allen Arbeitenden. Mir ist egal ob gegendert wird oder dieses kritisiert, aber so ein Artikel kommt raus und Leute sind mehrfach irritiert auf den Fokus des Autors und das landet auf Twitter, Insta und Co., Leute spalten sich weiter. Super! Genau das brauchen wir linken Arbeiter und Genossen, ein Weg zur Spaltung statt gemeinsamen Kampf für Sozialismus, Frieden, Gerechtigkeit und Umweltschutz.
  • Leserbrief von Wieland König aus Neustadt in Holstein (13. Mai 2024 um 13:43 Uhr)
    Warum sollte die Kultur vom allgemeinen Niedergang der Zivilisation im sogenannten Abendland verschont bleiben? Diplomatie ist ein Fremdwort und sich solcher Bezeichnung schmückender »Politiker« völlig fremd, die Wirtschaft, die der Zusammenarbeit und der internationalen Kooperation bedarf, lebt und stirbt mit Sanktionen, die Muttersprachen werden von selbstsüchtigen Yuppis ver»denglischt« oder ver»gendert«. Warum sollte da nicht auch die abendländische Kultur im Orkus landen? Der Schriftsteller Harry Thürk hat in seinem Buch »Der Gaukler« 1978 einem amerikanischen Professor die prophetischen Worte in den Mund gelegt: »Paß auf, in dreissig Jahren erklärt die herrschende Kaste es für Kultur, wenn ein paar Schlampen nackt im Schaufenster von Macy’s auf Kochtöpfen sitzen und alle fünfzehn Minuten shit sagen und nach 30 Minuten riechts dann auch so.«

Ähnliche:

  • Mit US-Streubomben kann es nie schnell genug gehen (US-Marine am...
    11.07.2023

    Deal mit Streubomben

    Drohungen, Erpressung und Rüstungszusagen für Kiew: Am Dienstag beginnt der Gipfel des westlichen Kriegspakts
  • Statt auf Entspannung setzt das westliche Kriegsbündnis auf größ...
    16.04.2022

    NATO spielt mit dem Feuer

    Moskau droht bei Aufnahme von Schweden und Finnland mit Atomwaffenstationierung in Kaliningrad. Russisches Flaggschiff gesunken. Bomben auf Kiew
  • Seit August 2017 steht die 1.200 Mann starke »NATO-Battlegroup L...
    20.06.2018

    Ein schwieriges Verhältnis

    Vorabdruck. Vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland verschlechtern sich die Beziehungen der ehemaligen sowjetischen Republiken Estland, Lettland und Litauen zu Moskau

Mehr aus: Feuilleton