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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 16 / Sport
Sportfilm

Fürchtet euch nicht!

»Sport im Film« bei den Kurzfilmtagen Oberhausen
Von Peer Schmitt
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Der Sportheld als das existentielle Angstding überhaupt: »Vogelmensch« Walter Steiner (1972)

Auf der Eröffnungsveranstaltung der 70. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen am 1. Mai liefen lediglich drei Filme. Die Anwaltschaft des Films und seines Festivals übernahm zunächst einmal der Sport. Alle drei zum Ausklang des Eröffnungspalavers gezeigten Produktionen entstammen dem reichen Archiv des Festivals und waren Teil der Reihe »Sport im Film. Historische Sportfilme im Fokus«. Diese war auch kein Lückenbüßer, sondern, – das ist die Rolle des Archivs dieser Tage –, die Rettung (des Films). Kuratiert wurde die Reihe von dem Kölner Medienwissenschaftler Dietrich Leder, zusammen mit Daniela Schaaf und Jörg-Uwe Nieland.

Ganz beiläufig brachte Leder auch auf den Punkt, woran seine Vorredner so wortreich vorbeilaberten, die Voraussetzung einer Festivalöffentlichkeit: die gemeinsame Erfahrung, das geteilte Ereignis. In diesem Fall war es das Tennismatch zwischen Rafael Nadal und Jiří Lehečka im Achtelfinale des ATP Masters 1000 in Madrid. Der Tscheche gewann es 7:5, 6:4. Nadal deutete mehr als deutlich an, er werde wohl nicht mehr allzu lange spielen. Leder erwähnte, er habe das Match am Vorabend live gesehen. Er war von dem Abschiedsszenario durchaus ergriffen (Thema: die massenmedial geteilte Emotion, darüber hinaus die Medialität als eine der Voraussetzung dieser Emotion). Weder Leder noch ich waren allerdings im Estadio Manuel Santana an jenem Dienstagabend in der Caja Mágica in Madrid anwesend. Wir teilten lediglich eine Bildschirmerfahrung.

Der geteilte Ereignisraum ist ein aktueller wie ein virtueller Raum. Diese Erfahrung gilt für die Simultanität der Bildschirmereignisse ebenso wie für die technischen, topographischen und institutionellen Voraussetzungen eines Festivals (manche nennen es sein Dispositiv): die Leinwand in der »Lichtburg« und die kleine Bühne und der nicht ganz so kleine Zuschauerraum davor in Oberhausen am 1. Mai, einen Tag nach dem Match in Madrid.

Wenn zwei sich streiten, gibt es immer auch einen dritten. Tennis ist eine Beziehung, Kommunikation, heißt es auch in dem aktuellen Kinofilm »Challengers«. Wenn zwei miteinander reden/spielen/streiten, muss es einen dritten geben. Es muss freilich keine konkrete Sprecherinstanz sein. Manche nennen dieses Dritte schlicht den Code. Der referentielle Code, das ist beispielsweise der Ort, den wir teilen, die »Lichtburg« in Oberhausen, die Caja Mágica in Madrid. Er bestimmt nicht unwesentlich die geteilte Erfahrung: die schlichte Wiedererkennung. In »New Balls Please«, einem kurzen Animationsfilm in der Reihe über sexualisierte Posen beim Seitenwechsel in einem fiktiven Match in Wimbledon ist die Stimme des 2020 verstorbenen, legendären britischen Tenniskommentators David Mercer ein solcher Marker.

Tennis ist als Profisport nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil Frauen daran im Prinzip von Beginn an teilhaben konnten, bis heute keineswegs völlig gleichberechtigt, wie man anhand eines Vergleichs im Rahmen des maßgeblichen Kommunikationsmediums leicht feststellen kann: dem Geld. Die Geschichte der Frauen im Sport als eine des ständigen Ausschlusses/Einschlusses war wichtiges Thema im Programm. Mittlerweile ist aus dem Geschlecht nicht zuletzt eine auch für den Sport relevante juristische Zuschreibung geworden. Verwandt damit sind die juristischen Zuschreibungen des Dopings, sozusagen der Testosteronkomplex.

Über all das und weit mehr hat Dietrich Leder auf der Festivalwebsite als »Channel« nicht nur seinen eigenen medientheoretischen Blog, diverse Gespräche, wichtige Filme und sonstiges Material integriert. »Sport im Film« ist nicht nur die zwangsläufig ansatzweise Bewältigung eines Jahrhundertthemas und die Präsentation des Archivs, die dem inzwischen halbwegs vergessenen Umstand geschuldet ist, dass das Oberhausener Festival zwischen 1968 und 1975 insgesamt viermal Rahmen für die Oberhausener Sportfilmtage war – es ist mit dem »Channel« auch das Festival als Raum der multimedialen Plattform.

Höhepunkt und wohl auch filmische Rettung im Grunde des gesamten Festivals war Werner Herzogs Film »Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner« (1974) über den Schweizer Skispringer Walter Steiner, »den Vogelmenschen«. Herzog taucht in dem Film mehrfach selbst mit Mikro am Schanzenrand in Planica – für Steiner Ort von Todesgefahr und Triumph – auf. Der Sportheld als das existentielle Angstding überhaupt. Herzog entwendet eine entsprechende Passage aus einer Robert-Walser-Geschichte und schreibt sie dem genialen Schweizer Skiflieger zu: »Ich sollte eigentlich ganz allein auf der Welt sein, ich, Steiner, und sonst kein anderes lebendes Wesen. Keine Sonne, keine Kultur, ich nackt auf einem hohen Fels, kein Sturm, kein Schnee, keine Straßen, keine Banken, kein Geld, keine Zeit und kein Atem. Ich würde dann jedenfalls keine Angst mehr haben.«

Und auch das bringt so kaum einer mehr.

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