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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Vom Verwelken

Jäger des verlorenen Schatzes: Stéphane Brizés sentimentale Romanze »Zwischen uns das Leben« über die Kosten des Ruhms
Von Holger Römers
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Irgendwo hier ist die Liebe baden gegangen: Mathieu (Guillaume Canet) am leiden

Man braucht den Protagonisten von »Zwischen uns das Leben« nicht zu bemitleiden, denn Mathieu (Guillaume Canet) kann keinen wichtigeren Grund für seine Midlife-Crisis nennen als vorrückende Geheimratsecken. Außerdem sind es bloß Begleiterscheinungen von Luxus und Starruhm, wenn der Pariser Kinoschauspieler in einem bretonischen Wellnesshotel regelmäßig von dessen Hi-Tech-Ausstattung überfordert oder vom Personal sowie von anderen Gästen zu Selfies genötigt wird. Aus der beiläufigen Erwähnung der Kosten für Saalmiete und Mitarbeiter, auf denen Mathieu sitzen bleibt, nachdem er in der Hauptstadt eine Theaterproduktion hat platzen lassen, ist wiederum zu schließen, dass die Schulden seiner Eitelkeit anzurechnen sind: Um sich ein Bühnendebüt zu gönnen, war er offenbar zur Eigenfinanzierung der aufwendigen Unternehmung bereit – die er dann aus Angst vor einer Blamage abgeblasen hat.

Inmitten der sterilen Behaglichkeit eines neumodischen Fünf-Sterne-Palastes gibt Mathieu sich nun einem gedämpften Trübsinn hin, den Regisseur Stéphane Brizé sichtlich gern im Erzählrhythmus seines zehnten Spielfilms spiegelt. Jedenfalls lässt der 1966 geborene französische Regisseur laue Situationskomik, die wohl vor allem Jacques Tati als filmhistorisches Vorbild hat, regelmäßig ausufern. Derweil bietet die Verschlafenheit eines Badeortes in der Nebensaison den scheinbar ziellos angesammelten Impressionen einen stimmungsvollen Hintergrund.

Das eigentliche, interessante ­Thema dieses Films schält sich jedoch erst heraus, wenn Mathieu unvermittelt von Alice (Alba Rohrwacher) kontaktiert wird. Sie wohnt zufällig in der Nähe und war mit ihm liiert, bis er sie vor 15 Jahren sitzenließ. Auf die damalige Trennung bezieht sie nun gleich beim ersten Wiedersehen sowohl sein zwischenzeitliches Karriereglück als auch ihr selbst empfundenes Versagen.

Nachdem Brizé mit seinen letzten beiden Filmen, »Streik« (2018) und »Another World« (2021), sowie mit »Der Wert des Menschen« (2015) die verschärften systemischen Zwänge ausgelotet hat, denen das Individuum in der neoliberalen Arbeitswelt unterliegt, wirft er hier also die Frage auf, wie zwischenmenschliche Beziehungen durch beruflichen Erfolg und Misserfolg bedingt werden – oder diese bedingen. Dabei knüpft »Zwischen uns das Leben« teilweise an »Another World« an, wo der Protagonist, ein Fabrikleiter, gleich in der Anfangs­szene beim Scheidungstermin zu sehen ist. Die Ehefrau wollte nicht länger zugunsten seines stressigen Berufes zurückstehen und hatte den eigenen Karriereverzicht auf eine stolze sechsstellige Summe berechnen lassen.

Marie Drucker, die damals die Konzernmanagerin und Vorgesetzte der Hauptfigur spielte, zeichnet bei der melancholischen Romanze nun zusammen mit Brizé fürs Drehbuch verantwortlich. Ihre strenge Stimme ist wiederum zu hören, wenn Mathieu mit seiner unsichtbar bleibenden Ehefrau in Paris telefoniert. Dabei machen die knappen Ratschläge, welche stereotypen Filmstoffe der Schauspieler für seine nächsten Projekte wählen solle, unmissverständlich klar, dass die vielbeschäftigte TV-Moderatorin für Schaffenskrisen keine Geduld hat. Ein nebenbei von der Kamera eingefangener Zeitschriftenartikel schreibt ihr bezeichnenderweise ebenso große Prominenz wie dem Gatten zu. Der scheint den Erfolg freilich an einem abstrakteren Maßstab zu messen – zumindest neuerdings, seit seine Filme von Fans wie einem örtlichen Kellner als zunehmend abgedroschen empfunden werden. Nun hat sich Mathieu offenbar (wieder?) jenem romantischen Kunstverständnis angenähert, dem Alice wohl stets anhing: dass nämlich im Inneren der Künstlerpersönlichkeit ein Schatz schlummere, der mühsamer Äußerung ebenso würdig sei wie öffentlicher Anerkennung.

Auf dieses zentrale Thema mag man mit etwas gutem Willen auch die Sentimentalität des Erzähltons und der Musik (von Vincent Delerm) beziehen, denn Alice’ unerfüllter Ehrgeiz galt dem Komponieren. Dass sie nunmehr als Therapeutin in einem Altenheim musiziert, bietet indes Gelegenheit zu einer nochmaligen, abschließenden Plotverlagerung. Dabei ist das Handyvideo, mit dem die Nebenfigur Lucette (Lucette Beudin, deren einziger vorheriger Filmauftritt 2016 in einer Nebenrolle in Brizés »Ein Leben« bestand) spät eingeführt wird, wohl dokumentarisch entstanden. In jedem Fall verleiht die Seniorin mit ihrem trockenen Bericht über langjährige sexuelle Selbstverleugnung den Vorstellungen der beiden Hauptfiguren über kreative Selbstverwirklichung einen denkbar nüchternen Maßstab.

»Zwischen uns das Leben«, Regie: Stéphane Brizé, Frankreich 2024, 106 Min., bereits angelaufen

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