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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 5 / Inland
Abschottung statt Kooperation

Nicht ohne China

Institut der deutschen Wirtschaft klagt über »Importabhängigkeiten« der BRD. »De-Risking«-Strategie der Bundesregierung ohne Erfolg
Von Wolfgang Pomrehn
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Produktionslinie für Erkältungsmittel in Beijing: BRD-Pharmamarkt weitgehend von Zulieferungen abhängig

China, so hat unlängst eine Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit ergeben, ist inzwischen zu einer ökonomischen Supermacht aufgestiegen. 29 Prozent der weltweiten industriellen Wertschöpfung erfolgen in der Volksrepublik, das ist mehr als in den USA, Japan und Deutschland zusammen. Dadurch entstehen Abhängigkeiten, die nicht jedem gefallen, vor allem nicht jenen, die sich auf eine verstärkte Konfrontation mit dem asiatischen Giganten einstellen. »De-Risking« heißt das Zauberwort – Risikominimierung. Deutsche Unternehmen sollen ihre Abhängigkeit von Importen aus China vermindern, heißt es laut »China-Strategie« der Bundesregierung, die im Sommer 2023 aufgelegt wurde.

Klappt aber nicht so recht, meint das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Im vergangenen Jahr hatte es die deutsche Außenhandelsstatistik unter die Lupe genommen, mehr als 14.000 Produktgruppen untersucht und auf »potentiell kritische Importabhängigkeiten« – wie es die Ökonomen des wirtschaftsnahen IW nennen – überprüft. Festgestellt wurde, dass in 200 Produktgruppen die Importe zu über 50 Prozent aus der Volksrepublik stammen. Dabei handelt es sich nicht nur um Fertigprodukte, wie etwa Laptops, sondern auch um Vorprodukte für die hiesige Industrie. Darunter sind auch Grundstoffe für die Herstellung von Medikamenten.

In einer kürzlich durchgeführten Nachfolgeuntersuchung ist Jürgen Matthes vom IW der Frage nachgegangen, ob die Ermahnungen der Bundesregierung Früchte getragen haben. Sein Ergebnis: Aus 200 sind nun 203 Produktgruppen geworden, bei denen die Einfuhren zu über 50 Prozent aus dem fernöstlichen Land stammen. Es habe Verschiebungen gegeben, aber kaum Veränderungen an der Gesamtsituation. Die Zahl der Produktgruppen, die zu über 75 Prozent aus der Volksrepublik importiert wurden, habe sich sogar von 77 etwas auf 83 erhöht.

Von den 203 Produktgruppen, die 2023 zu mehr als 50 Prozent aus China kamen, entfielen 85 auf den Sektor chemische und pharmazeutische Erzeugnisse, 38 auf den Sektor Elektronik und je 24 auf die Sektoren Maschinen und Rohstoffe. Zu letzteren gehörten auch verschiedene seltenen Erden, die unter anderem für Elektromotoren und getriebelose Windkraftanlagen wichtig sind. Rohstoffe und chemische Grundstoffe, so das IW, stehen am Anfang der Wertschöpfungsketten. Ein Ausfall der Lieferketten könne daher gravierende Auswirkungen auf die hiesige Produktion haben.

Diese Abhängigkeiten können kritisch werden, »wenn China seine politischen Ziele verstärkt mittels wirtschaftlichen Zwangs durchzudrücken versuchen würde«, schreibt das Institut. Das ist interessant. Offensichtlich befürchtet man, dass das Land es dem Westen künftig mit gleicher Münze heimzahlen könnte. Im Augenblick ist es jedenfalls noch so, dass die USA und im geringeren Umfang ihre Verbündeten mit ökonomischen Druckmitteln gegenüber Dritten ihre Sanktionen gegen Staaten wie Kuba, Iran oder derzeit besonders Russland durchzusetzen versuchen. Aktuell wird in den USA zum Beispiel diskutiert, chinesische Banken, die nach Washingtoner Ansicht zu eng mit Russland zusammenarbeiten, von den Diensten der SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication) auszuschließen. Über diese werden rund 90 Prozent der weltweiten grenzüberschreitenden Finanztransaktionen abgewickelt. Der Finanzdienstleister ist in Belgien ansässig, und dessen 25köpfiger Vorstand wird von Westeuropäern dominiert. Nur fünf Mitglieder – oder auch sieben, falls die Schweizer Neutralität noch ernst zu nehmen ist – gehören nicht zum westlichen Block.

Allerdings, so das IW, sei die Abhängigkeit nur ein potentielles Risiko. Wie weit dies real sei, lasse sich aus den Außenhandelsstatistiken nicht ablesen. Das Wissen über riskante Abhängigkeiten liege bei einzelnen Unternehmen und sei nicht unbedingt zugänglich. Manch relevante Information würde als Geschäftsgeheimnis gehütet. Der Staat müsse daher an dieser Stelle eingreifen, um an dieses Wissen zu gelangen und die möglichen kritischen Abhängigkeiten zu identifizieren. Eine »regierungsinterne Taskforce« sollte eine »detaillierte Risikoanalyse« erstellen. »Der Schutz der nationalen wirtschaftlichen Sicherheit steht hier über dem Recht auf Geheimhaltung für die Unternehmensmeldungen in der Außenhandelsstatistik«, fordert das IW. So ändern sich die Zeiten. Statt Zusammenarbeit gilt heute partielle Abschottung als erstrebenswert. Und China als »systemischer Rivale«, wie es bei der Bundesregierung heißt.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. Mai 2024 um 11:46 Uhr)
    Seien wir ehrlich, während Jahrhunderte die Landwirtschaft den vorherrschenden Wirtschaftssektor bildete, spielten weder Deutschland noch England eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne. In dieser Zeit dezimierte Hungersnöte regelmäßig die Bevölkerung. Erst als Mais und Kartoffeln in Europa heimisch wurden, stabilisierte sich die Situation und führte zu einem Bevölkerungswachstum, das schließlich in einer industriellen Revolution mündete. Durch dieses Ereignis rückte Europa plötzlich in den Fokus der Welt. Es ist wichtig zu erkennen, dass dieser Prozess nur vorübergehend war und nicht von Dauer ist. Die Welt befindet sich in ständigem Wandel, und es scheint jetzt, dass neben China, Indien, Vietnam und Brasilien auch andere Länder im Süden bereit sind, ihr eigenes »Wirtschaftswunder« zu vollbringen – und das ist positiv. Jammern, Sanktionen und Embargos bringen keine Hilfe! Wir Europäer müssen anerkennen, dass diese kleine eurasische Halbinsel nicht das »Gelobte Land« ist. Was Energie und Bodenschätze betrifft, sind wir bereits absolute Importeure, und jetzt kommen noch weitere Halbfertigprodukte hinzu. Ohne eine zukunftsweisende Strategie werden wir nicht weiterkommen. Wir müssen uns auf unsere Möglichkeiten besinnen und nach dem Prinzip handeln, wie es der Volksmund sagt: nach unserer Decke strecken.
    • Leserbrief von Wieland König aus Neuistzadt in Holstein (7. Mai 2024 um 15:33 Uhr)
      Also solche didaktischen Kunstflüge wie » Kartoffel = Stabilität = Bevölkerungswachstum = industrielle Revolution«, also, das kann nur einer, unser omnipotenter Leserebriefschreiber Istvan Hidy. Donnerwetter nochmal, Chapeau !
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (5. Mai 2024 um 23:14 Uhr)
    Da malen allerhand Leute allerhand Teufel an allerhand Wände. Weiteres Beispiel: Brad Setser in »Shadow reserves — how China hides trillions of dollars of hard currency« (https://thechinaproject.com/2023/06/29/shadow-reserves-how-china-hides-trillions-of-dollars-of-hard-currency/). Der spekuliert über »versteckte« chinesische Dollar-Reserven: »Looking at China’s reported holdings of Treasuries just misses the bulk of China’s global financial presence these days. The scale of these hidden reserves — foreign current currency assets that aren’t formally counted as «reserves» — also highlights an important fact that is often forgotten amid all the talk of China’s domestic debt problems. Globally China is still a massive creditor, and the weight of China’s massive accumulation of foreign exchange is still felt around the globe.« (Deepl: Betrachtet man die von China gemeldeten Bestände an Staatsanleihen, so geht der Großteil der globalen Finanzpräsenz Chinas heutzutage einfach unter. Das Ausmaß dieser stillen Reserven - Devisenbestände, die offiziell nicht als »Reserven« gezählt werden - verdeutlicht auch eine wichtige Tatsache, die bei all dem Gerede über Chinas inländische Schuldenprobleme oft vergessen wird. Weltweit ist China immer noch ein massiver Gläubiger, und das Gewicht von Chinas massiver Anhäufung von Devisen ist immer noch auf der ganzen Welt zu spüren.) Die Gefahr für die Abschotter, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen, ist groß. Ähnlich den Sanktionen gegen Russland ist die Frage: Wem würde eine Abschottung mehr schaden? Im Jahre 1820 produzierte China fast 33 Prozent des Weltsozialprodukts (1950: 4,6%), mit den im Artikel angeführten 29 Prozent ist es also nur auf dem Weg zur »Wiederherstellung der globalen historischen Normalität« (Wolfram Elsner, China und der Westen, PapyPossa, 2022). Das Elsner-Buch sei zur Lektüre empfohlen.

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