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Aus: Ausgabe vom 03.05.2024, Seite 12 / Thema
Bildung in Deutschland

»Im Licht von Gottes Verheißung«

In Deutschland gibt es an öffentlichen Schulen nach wie vor Religionsunterricht. Dabei gibt es immer weniger konfessionell gebundene Schüler
Von Christoph Horst
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Ob freiwillig oder unfreiwillig – kommt herbei, ihr Schäfchen! Gottesdienst zum Schulanfang für Erstklässler in der Marktkirche in Essen-Kettwig (20.08.2014)

Deutschland hinkt in schulpolitischen Fragen vielen europäischen Ländern hinterher, wenn es darum geht, wie sehr sich die Bildung im klassischen Sinne als aufgeklärt bezeichnen kann. Luxemburg hat Deutschland schon vor fast zehn Jahren auf dem Weg in die Modernität überholt. Seit 2016 gibt es dort an öffentlichen Schulen keinen Religionsunterricht mehr, und der Staat stellt sogar sicher, dass bisherige Religionslehrer nicht versuchen, im neu geschaffenen Werteunterricht für ihren Glauben zu werben. In Frankreich haben die Kirchen schon seit dem Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905 keinen Zugriff mehr auf öffentlich finanzierte Schulen. In vielen anderen (jedoch nicht allen) Ländern Europas wurde die Pflicht zum konfessionellen Religionsunterricht nach und nach abgeschwächt oder steht absehbar vor der Aufhebung.

Wenn es nach einer Mehrheit der Menschen in Deutschland ginge, würde es auch hier keine religiöse Unterweisung an Schulen mehr geben. Auch wenn Meinungsumfragen grundsätzlich skeptisch betrachtet werden sollten, ergeben doch seit etwa zwei Jahrzehnten alle Umfragen zum Religionsunterricht eine so deutliche Mehrheit gegen diesen, dass mindestens eine ablehnende Tendenz sichtbar wird. Insbesondere Schüler sprechen sich regelmäßig dagegen aus, nach Konfessionen getrennt unterrichtet zu werden. Auch politisch hat der Religionsunterricht nicht mehr die deutliche Unterstützung wie noch in den 1950er bis 1980er Jahren, die nicht nur in der Schulpolitik noch wesentlich stärker kirchlich geprägt waren. Allerdings sind konservative Unterstützer des Religionsunterrichts, also in der Regel die Unionsparteien, in diesem Punkt grundsätzlich zu keinerlei Kompromissen bereit. Und aufgrund geringer Erfolgschancen traut sich auch keine andere Partei ernsthaft an die Frage der Trennung von öffentlicher Schule und Kirche heran.

Selbst die weitgehend säkulare Partei Die Linke schrieb in ihrem Wahlkampfprogramm zur Bundestagswahl 2017 zwar: »Wir wollen einen Ethikunterricht, in dem alle Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen weltanschaulichen, kulturellen und religiösen Hintergründen gemeinsam über ethische Fragen diskutieren können«, ließ den Kirchen aber dann doch eine Hintertür offen, Einfluss auf den Nachwuchs zu erhalten: »Soweit bekenntnisorientierter Religionsunterricht an Schulen als Wahlfach angeboten wird, sollten sich alle Religionsgemeinschaften beteiligen können.« Zur Wahl, vier Jahre später, wurde der Passus zum Religionsunterricht ohne Begründung ersatzlos gestrichen.

Heiden hüten

Immer wieder sorgt die Religionsfrage nicht nur politisch und juristisch, sondern auch in der alltäglichen Praxis für Spannungen zwischen Schülern, Eltern und Schulen. Beispielsweise werden Religionsstunden nicht immer, wie bei fehlendem Ersatzunterricht vorgesehen, in die Randstunden gelegt. Oder ein Ersatzunterricht wird besonders unattraktiv gestaltet (das sogenannte Heidenhüten mit stigmatisierender Funktion). Die Beeinflussungen gehen hin bis zu offen gesetzwidrigen Behinderungen von Abmeldungen durch Schulleitungen, Verzögerungstaktiken etc. Dabei melden sich ohnehin vergleichsweise wenig konfessionell gebundene Schüler vom Religionsunterricht ab, da dies eine aktive Handlung erfordert, die nicht nötig ist, wenn einem das Fach egal ist und/oder man nicht als »Abmelder« auffallen möchte. Die meisten Schüler sehen »Reli« als einfache Möglichkeit, ihren Notenschnitt anzuheben und viele Religionslehrer versuchen über gute Noten hohen Abmeldezahlen zuvorzukommen. Wer hat schon in Religion ein Ausreichend oder schlechter auf dem Zeugnis?

Auch wird häufig (Praktische) Philosophie/Ethik als Ersatzfach angeboten, was sich für manche Schüler wohl zu schwierig und anspruchsvoll anhört. Zudem leiden die Fächer Philosophie/Ethik oder Lebenskunde darunter, dass sie in den meisten Bundesländern reiner Ersatzunterricht sind, also, wie in Bayern von der CSU in den 1970ern intendiert, die Abmeldung vom Religionsunterricht unattraktiv machen sollen. Bis heute ist es Vertretern der Philosophie/Ethik-Fachschaften an vielen Schulen nicht erlaubt, offen für die Teilnahme an ihrem Unterricht zu werben, da nach der Ansicht vieler Schulleitungen Religionsunterricht das vorrangige Angebot ist. Hinzu kommt, dass es aufgrund der Vernachlässigung des Ethikunterrichts durch die meisten Bundesländer auch trotz sich langsam verbessernder Situation noch immer an geschulten Lehrkräften fehlt, so dass Schulleitungen häufig auch Religionslehrer fachfremd für Ethik/Philosophie einsetzen, was die weltanschauliche Neutralität im Unterricht fraglich macht. Besonders im Primarschulbereich ist der Ethik- oder Philosophieunterricht in vielen Bundesländern wie im bevölkerungsreichsten Nordrhein-Westfalen nicht vollständig etabliert. In kleineren Orten mit konfessioneller Homogenität haben Schüler, die nicht dem Mehrheitsglauben angehören, faktisch oft keine andere Wahl, als sich der religiösen Unterweisung zu fügen.

Die Unsicherheit im Umgang mit religiösen Fragen in der Schule ist ein Streitfall, seit das Bildungswesen in staatlicher Verantwortung betrieben wird. Dabei hatte der Religionsunterricht schon in der Frühphase öffentlicher Bildung immer prominente Befürworter wie beispielsweise Friedrich Schleiermacher (1768–1834), den vielgerühmten Pädagogen der Individualität des Kindes, der letztlich nur auf den funktionierenden Untertan des Staates und der Kirche zielte. Trotz in früheren Schriften geforderter Trennung von Staat und Kirche argumentierte er, in bildungspolitische Verantwortung gekommen, man könne doch nicht wegen ein paar jüdischer Kinder den Mehrheitsglauben aus der Schule verbannen.

Grundgesetzlich geschützt

Der entschlossene Widerstand der Kirchen gegen jede noch so kleine Beschneidung ihrer Macht zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Diskussionen um den Religionsunterricht. Ganz besonders deutlich wird dies an der Entstehung des derzeit gültigen Grundgesetzes (GG). Dessen demokratische Legitimierung lehnte Bundeskanzler Konrad Adenauer 1949 ab, weil er aufgrund einiger weniger gegen die Kirchen durchgesetzten Positionen die stark mobilisierende Ablehnung des organisierten Katholizismus befürchtete. Dazu gehörte die »Bremer Klausel«, Artikel 141 GG, nach der ein Bundesland, in dem vor 1949 kein konfessioneller Religionsunterricht angeboten wurde, auch keinen anbieten muss. Diese Regelung gilt auch in Berlin, wo eine kirchliche Initiative zur Einführung eines allgemeinen Pflichtfachs Religion (»Pro Reli«) 2009 trotz breit angelegter Werbekampagne mit prominenten Unterstützern vor allem im Osten der Stadt scheiterte. Berlins derzeitige große Koalition plant dessen ungeachtet wieder eine Stärkung des Religionsunterrichts. Im Koalitionsvertrag ist er als Wahlpflichtfach ab Klasse sieben vorgesehen. Es wird zudem versucht, den Kirchen zu ermöglichen, in den unteren Klassen Religionsunterricht anbieten zu dürfen. Was letztendlich dabei herauskommt, ist bislang noch unklar. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat aber zumindest angekündigt, für den Religionsunterricht »kämpfen und werben« zu wollen.

Rechtlich scheint die Ausgangslage klar zu sein: Religionslehre ist das einzige Schulfach, das grundgesetzlich geschützt ist (Art. 7 Abs. 3 GG). Hier heißt es: »Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.« Daraus lässt sich aber nicht unmittelbar schließen, dass Religionsunterricht in jeder Jahrgangsstufe erteilt werden muss. Auch lässt sich daraus nicht die gängige Praxis ableiten, dass Kinder sich aktiv vom Religionsunterricht abmelden müssen. Ebenso möglich wäre es nach dem Gesetzestext, dass Schüler, die daran teilnehmen wollen, sich extra dafür anmelden müssen. Ob eine Grundgesetzänderung – immerhin geht es um einen Grundgesetzartikel, der nur mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag geändert werden kann – für die Abschaffung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts notwendig ist, ist auch nicht so offensichtlich, denn es wäre ja auch denkbar, öffentliche Schulen ganz allgemein zu bekenntnisfreien Schulen zu erklären, die sich wirkungsvoll vor einer Einmischung der Kirchen schützen könnten.

Die aktuellen Regelungen der Bundesländer sind uneinheitlich. Die meisten haben überwiegend noch den klassischen Religionsunterricht nach getrennten Konfessionen mit unterschiedlichen Abmeldeoptionen. In Bremen gibt es überkonfessionellen Unterricht auf christlicher Grundlage. Ostdeutsche Bundesländer haben neben dem verpflichtenden Religionsunterricht gut ausgebaute »Ersatzfächer«. Besonders streng ist neben dem Saarland erwartungsgemäß Bayern, wo eine eigene Abmeldung ohne Einverständnis der Eltern erst mit 18 Jahren und nicht mit der gesetzlichen Religionsmündigkeit ab 14 Jahren möglich ist.

Auf der Seite der Lehrkräfte gilt jedoch einheitlich: Religionsunterricht darf nur erteilen, wer von der Kirche dafür zugelassen wird. Die katholische Kirche erteilt eine sogenannte »Missio canonica«, die sicherstellen soll, dass im Unterricht das reine Bekenntnis vermittelt wird, bei den Protestanten heißt diese Erlaubnis »vocatio«. Die Religionslehrer unterrichten also in Verantwortung gegenüber den jeweiligen Kirchenoberen. Die Allgemeinheit, vertreten durch ihre Landesparlamente, gibt beim Religionsunterricht ihre inhaltliche Hoheit an die Kirchen ab und finanziert ihnen alles – von der Ausbildung an staatlichen Universitäten bis hin zu Lehrerfortbildungen, Unterrichtsmaterialien etc. Dieses Rechtskonstrukt wird »res mixta« genannt, wobei das Gemeinsame an der Angelegenheit darin besteht, dass die eine Seite die Kosten trägt und die andere den Nutzen hat. Der Nutzen ist indes nicht einseitig. Freerk Huisken schreibt dazu in seinem Buch »Erziehung im Kapitalismus« (Hamburg 2016): »Religion steht auf dem Lehrplan, nicht, weil der Staat dem Gläubigen so zugetan wäre, sondern weil er eine Funktion von ihm will: Gläubige Menschen sind brave Diener, auch gegenüber der weltlichen Obrigkeit.« Es lässt sich leichter lenken, wer gewohnt ist, Geboten von (unsichtbaren) anderen zu gehorchen.

Regeln von 1933

Katholische und evangelische Kirchen dürfen nicht nur Lehrer nach ihrem Gutdünken zulassen, sondern auch staatlich verbeamteten Lehrern jederzeit die Lehrerlaubnis für ihr Fach entziehen, beispielsweise bei Wiederheirat nach Scheidung oder (Bekanntwerden) einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder aber bei Abfall vom Glauben. Für die katholische Kirche stammen diese Regeln noch aus dem von Nazideutschland mit dem Vatikan geschlossenen Reichskonkordat von 1933, dessen weitere Gültigkeit nach Kriegsende die katholische Kirche gerichtlich feststellen ließ.

Konfessioneller Religionsunterricht vermittelt laut gesetzlichem Auftrag kein Allgemein-, sondern Offenbarungswissen. Zwar wird von kirchlicher Seite immer wieder argumentiert, wie wichtig eine Kenntnis des Christentums für das Verständnis historischer Zusammenhänge ist. Das ist auch nicht zu bezweifeln, jedoch eignet sich dafür der Geschichtsunterricht viel besser, da er den Glauben an einen Gott nicht voraussetzt. Hier liegt das eigentliche Problem der gesamten Theologie, inklusive ihrer Religionspädagogik: Wissenschaft muss frei sein im Denken und vorurteilslos. Theologie setzt den Gegenstand ihrer Betrachtungen jedoch vorab als Glaubensinhalt absolut. Sie ist somit nicht erkenntnisoffen. Religionsunterricht ist also im eigentlichen Wortsinne Indoktrination. Anders ist es mit der Religionswissenschaft, die Religionen wissenschaftlich, von außen betrachtet. Sie hätte in der Schule einen guten Platz als Einzelfach oder in einem Ethikunterricht. Inhalt des konfessionellen Religionsunterrichts ist jedoch die Unterweisung unter religiöse Dogmen. In der aktuellsten Veröffentlichung der katholischen Bischofskonferenz »Die bildende Kraft des Religionsunterrichts« (5. Auflage, 2009) heißt es: »Der Religionslehrer und die Religionslehrerin erschließen die Wirklichkeit im Licht der Verheißung, also im Horizont des kommenden Reiches, in der Perspektive ihrer eschatologischen Bestimmung. Es geht um die Erschließung der Offenbarung in Bibel und kirchliche Überlieferung für die Menschen heute. Worauf es aber ankommt, ist die Erschließung der heutigen Wirklichkeit im Licht von Gottes Verheißung, im Licht seiner Liebe.«

Dazu gehört auch die Überlieferung des christlichen Konstrukts der Erbsünde, das immer noch in Lehrplänen des Religionsunterrichts auftaucht. Der antiautoritäre Pädagoge und Begründer der Summerhill-Schule Alexander Sutherland Neill hielt diesen Punkt der automatischen Schuldzuweisung an den einzelnen für so zentral, dass er darauf seine Kritik aufbaute: »Religionsunterricht ist schädlich für die Psyche des Kindes, weil die meisten Frommen den Gedanken der Erbsünde akzeptieren. (…) Das herkömmliche Christentum bringt allzu oft die Kinder dazu, sich selbst abzulehnen.« Zwar hat sich der Religionsunterricht seit Neill 1965 schrieb, Religion bedeute für ein Kind »praktisch immer nur Furcht«, fortentwickelt und nur die wenigsten Lehrer drohen Kindern bei Ungehorsam noch mit Verbannung in die Hölle oder ähnlichem. An Grausamkeiten fehlt es dennoch auch heute nicht. Beispielsweise wird schon Grundschulkindern die Geschichte der Arche Noah beigebracht, nach der ein aufgrund fehlenden Respekts nach Rache dürstender Gott alles Leben auf der Erde vernichtet – ausgenommen zwei Exemplare jeder Art.

Unzulässige Indoktrination

Gerhard Rampp vergleicht in dem vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) herausgegebenen Ratgeber »Konfessionslos in der Schule« das Schulfach Religion mit der Idee einer Gewerkschaftskunde, die öffentlich finanziert würde und bei der die Gewerkschaften das Recht der inhaltlichen Ausgestaltung hätten. Einen ähnlichen Vergleich zieht der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon auf der pädagogischen Ebene, wenn er die Segregation durch Religionsunterricht kritisiert: »In Wahrheit jedoch gibt es ›katholische‹, ›protestantische‹ oder ›muslimische‹ Kinder ebensowenig wie ›christdemokratische‹, ›liberale‹, ›sozialdemokratische‹ oder ›grüne‹ Kinder. Was wäre denn davon zu halten, wenn Kindern von CDU-Wählern das CDU-Grundsatzprogramm und Kindern von SPD-Wählern das SPD-Programm in der Grundschule vermittelt würde – so wie Kindern von Katholiken katholischer und Kindern von Protestanten protestantischer Religionsunterricht erteilt wird? Es wäre jedem klar, dass es sich hier um eine unzulässige Indoktrination von Kindern handeln würde. Warum sollte dies im Fall der Religion so gänzlich anders sein?«

Die Argumentationen von Befürwortern und Gegnern des Religionsunterrichts blieben seit der Lösung des Bildungssystems aus dem mittelalterlichen Klerikalismus bis heute im Grundsatz gleich. Während seine Gegner – darunter durchaus auch Christen – durchgehend davon ausgehen, dass der Glaube an egal welche Gottheit oder auch an keine, eine persönliche Entscheidung ist, die nicht per staatlicher Gewalt gefördert werden sollte, teilen sich die Befürworter schon immer grob in zwei Lager: Die eine Seite argumentiert, Deutschland sei christlich, damit hätten alle anderen sich abzufinden. Die anderen meinen schon, dass Gewissensfreiheit eine gute Sache sei, sehen aber die christliche Ideologie als so wichtig für die Kinder an, dass es nachlässig sei, alle nicht christlichen Kinder nicht damit zu beglücken.

Während sich der Religionsunterricht noch vor hundert Jahren gegen Konkurrenzreligionen, vor allem immer wieder das Judentum, in Stellung gebracht hat, wird zumindest ein islamischer Unterricht heute von den christlichen Kirchen sogar als Argument für den Religionsunterricht genommen. Indem man den Muslimen einen eigenen Unterricht gewährt, kann der konfessionell christliche besser legitimiert werden. Ein islamischer Religionsunterricht ist inzwischen auch vielerorts etabliert, jedoch gibt es noch kein Modell, das sich aus Sicht der politischen und religiösen Vertreter bewährt hätte. Vor allem fehlt es der Politik an einem Ansprechpartner mit allgemein akzeptiertem Vertretungsanspruch.

Dabei könnte auch der Islam Gegenstand eines religionswissenschaftlichen Unterrichts sein, der von außen auf das Treiben der Religionen schaut, ohne den Kindern ein Bekenntnis aufzuzwingen. Als reine Religionskunde wäre der Unterricht dann weder bei den Schülern noch auf seiten der Lehrer an eine Kirche oder Religionsgemeinschaft gebunden.

Ganz pragmatisch ergibt sich für einen Religionsunterricht aber in Zukunft ein anderes Problem: Die konfessionell gebundenen Schüler bleiben rein demographisch begründet zunehmend aus. Daher gibt es vielerorts verschiedene Projekte und Ideen, einen ökumenischen bekenntnisorientierten Unterricht zu installieren. In Hamburg gibt es gar einen »Religionsunterricht für alle«, bei dem alle Religionen vorgestellt werden, jedoch auch hier in Absprache mit den Vertretern der jeweiligen Religionsgemeinschaften. Bei allen Experimenten mit dem Religionsunterricht ausgenommen wurden immer Schulen, in denen es noch genügend richtig konfessionelle Schüler gibt. Dies zeigt, dass die Kirchen auf Privilegien nicht aus grundsätzlichen Erwägungen verzichten, sondern nur, wenn es die Notwendigkeit unbedingt erfordert. Ihre Entscheidungen, wie sie die Kinder unterrichtet sehen wollen, teilen die Kirchen dann der Politik mit. Doch von dieser Mitbestimmung in den Schulen wird sich die Kirche langfristig vermutlich trennen müssen. 2022 waren 25 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands katholisch und 23 Prozent evangelisch – die Mitgliedszahlen der Kirchen sinken seit Jahren stark. 44 Prozent der Bevölkerung waren 2022 konfessionslos bzw. ohne Bekenntnis. Dieser Anteil steigt kontinuierlich. Muslime machten vier Prozent aus, weitere kleinere Religionen haben nur in Einzelfällen Anrecht auf Erteilung von Religionsunterricht. Bei noch weiter anwachsender Schülerzahl ohne Bekenntnisbindung wird es unabhängig vom politischen Willen eine Frage der praktischen Umsetzbarkeit, ob der Religionsunterricht noch als Bekenntnisunterricht stattfinden kann.

Keine Wahl

Neben dem Unterricht bleiben den Kirchen aktuell noch weitere Möglichkeiten der Einflussnahme. So gibt es beispielsweise in vielen Schulen noch Schulgottesdienste, Kreuze an den Wänden, Besinnungstage (Klassenfahrten mit spirituellem Auftrag) und »Gottes Segen« als Gruß bei Schulmitteilungen. Und in Nordrhein-Westfalen und wenigen Teilen Niedersachsens (aus historischen Gründen um Oldenburg herum) hat die Schullandschaft mit öffentlichen Bekenntnisschulen einen in anderen Bundesländern längst abgeschafften Schultyp als Besonderheit. Nur hier gibt es noch öffentliche, also aus Steuermitteln finanzierte Schulen, an denen die Kirchen den pädagogischen Alltag bestimmen, obwohl die Kommunen die Träger sind. Sie werden überwiegend von der katholischen Kirche betrieben und umfassen etwa ein Drittel aller nordrhein-westfälischen Grundschulen. Nur noch vereinzelt gibt es auch Hauptschulen als Bekenntnisschulen. In vielen Kommunen haben die Eltern kein anderes Angebot als eine Bekenntnisschule und müssen ihr Kind dorthin schicken, was einschließt, dass sie auch gegen ihren Willen an einer christlichen Erziehung mitzuwirken haben und die Abmeldung vom Religionsunterricht in der Praxis erschwert ist. Es gibt immer wieder Fälle, in denen Kinder aus religiösen Gründen an der Grundschule ihrer Nachbarschaft abgelehnt wurden. Sie mussten dann auf einem erheblich längeren Schulweg an mehreren Bekenntnisschulen vorbei zur nächsten Gemeinschaftsschule fahren, während ihre Freunde aus dem Kindergarten einen kurzen Schulweg hatten.

Ganz besonders problematisch sind Bekenntnisschulen, wenn sie Lehrer, die nicht dem Schulbekenntnis angehören, ausschließen und somit religiös diskriminieren. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz lässt dies zu, da es in ihm eine Sonderregelung für Kirchen gibt, die diesen Selbstbestimmung garantiert (Paragraph 9 AGG). So bleiben viele Rektorenstellen unbesetzt, weil sich keine katholischen Bewerber finden. An den primarpädagogischen Fakultäten Nordrhein-Westfalens ist es kein Geheimnis, dass viele Lehramtsstudenten gerne aus der Kirche austreten würden, dies aber mit Blick auf den Arbeitsmarkt nicht tun. Auch international wird diese Diskriminierung zur Kenntnis genommen. Die International Humanist and Ethical Union kategorisiert Deutschland in ihrem »Freedom of Thought«-Report in der Kategorie Education unter anderem wegen Religionsunterricht und Bekenntnisschulen mit »systemic discriminating«.

Bei den vielen Baustellen der in Deutschland sich nur langsam vollziehenden Trennung von Staat und Kirche sollten laizistisch Gesinnte einen besonderen Schwerpunkt auf die Forderung nach einer Abschaffung des Religionsunterrichts legen. Denn das Beispiel Frankreichs, aber auch die zurückliegenden Erfahrungen aus der DDR zeigen, dass religiöse Sichtweisen kaum an Überzeugungskraft gewinnen können, wenn die Menschen nicht schon als Kind damit konfrontiert wurden und sie ihnen schon aus rein traditionalistischen Gründen gegenüber offen eingestellt sind.

Christoph Horst ist Sozialarbeiter und Fachjournalist. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. März 2024 über die Pädagogik Maria Montessoris.

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  • Leserbrief von Mag. Kurt Neumeyr aus St.Pölten (8. Mai 2024 um 19:04 Uhr)
    Als katholischer Religionslehrer aus Österreich habe ich mit großem Interesse die Analyse des konfessionellen Religionsunterrichts in Deutschland gelesen und komme dabei nicht um ein paar Anmerkungen umhin: Die darin beklagte »unzulässige Indoktrination« ist (zumindest hierzulande) leider ein Faktum, das viele Unterrichtsfächer betrifft. Aus mittlerweile jahrzehntelanger Erfahrung im Umgang mit »Ethik« unterrichtenden KollegInnen weiß ich, dass auch hier die Bandbreite von atheistisch über antiklerikal (weil von der Kirche enttäuscht) bis hin zu durch die Hintertür eingeschleusten evangelikalen Standpunkten (mit typischer Haltung zum aktuellen Nahostkonflikt) reicht. Wertfrei und neutral ist wohl nur die trockene Mathematik. Besonders in der Coronazeit musste ich leider feststellen, dass Kinder und Jugendliche nicht zum kritischen Hinterfragen der Realität animiert wurden – ganz im Gegenteil. Gerade Religionslehrkräfte sind aufgrund einer gewissen Distanz zu staatlichen Autoritäten, weil inhaltlich der jeweiligen Religionsgemeinschaft verantwortlich, nicht selten ein kritischer Stachel im Bildungssystem. Themen wie Gerechtigkeit, kritischer Umgang mit Medien oder die Nord-Süd-Problematik finden (leider oft nur) im Religionsunterricht Platz. Der Arche-Noah-Geschichte »Grausamkeit« zu attestieren, ist in Zeiten, in denen Kinder am Handy ständig brutale Online-Games spielen, wohl etwas übertrieben: Wer im Text nachliest, stellt fest, dass hier keine Rede von einem »aufgrund fehlenden Respekts nach Rache dürstenden Gott« ist, sondern, dass die Katastrophe (logische) Folge von Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit der Menschen ihren Mitmenschen gegenüber ist. Dass sich der Mensch beim Betreten der Arche mitten in die Tierschar einreiht und nicht an der Spitze vorangeht, mag auch eine wohltuende Absage an allzu anthropozentrisches Denken sein. Letztlich ist es eine zeitlose Geschichte von Untergang, Rettung und Neubeginn. »Auferstanden aus Ruinen« sozusagen …
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (2. Mai 2024 um 20:47 Uhr)
    Das ist kurz und bündig der Zweck von Religion(sunterricht): »Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.« Wer nichts weiß, muss (der Obrigkeit) alles glauben. Oder, nach dem Büchlein mit dem Titel »Kann denn alles Zufall sein?« von Heinz Oberhummer: »Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem Physiker, Philosophen und Theologen in der Suche nach der letzten und grundlegenden Wahrheit des Universums? Antwort: Der Physiker sucht in einem finsteren Raum nach einer vorhandenen schwarzen Katze. Der Philosoph sucht in einem finsteren Raum nach einer nicht vorhandenen schwarzen Katze. Schließlich sucht der Theologe in einem finsteren Raum nach einer nicht vorhandenen schwarzen Katze und schreit begeistert: ›Ich habe sie gefunden!‹« Heinz Oberhummer war an der Aufklärung der Entstehung des Kohlenstoffs, des Drei-Alpha-Prozesses/Heliumbrennens beteiligt.

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