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Aus: Ausgabe vom 29.04.2024, Seite 12 / Thema
Geschichtswissenschaft

Kein Hitler ohne Versailles?

»Die« Nazis und »die« Deutschen. Das neue Buch des Historikers Gerd Krumeich bietet eine vereinfachte Geschichtsschreibung
Von Manfred Weißbecker
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Wer trug Hitler in die Reichskanzlei? Gewiss nicht »die« Deutschen, sondern maßgebliche Vertreter der herrschenden Klasse und des Militärs (Hitler auf dem Rücken des Industriellen und Medienunternehmers Alfred Hugenberg, Karikatur aus Der wahre Jacob, 1929)

Jedes Herangehen an geschichtliche Problemfelder setzt Kenntnisse des tatsächlichen Geschehens voraus, jedoch zugleich notwendiges Wissen über das Denken und Verhalten jener Menschen, die nicht zu den vordergründig handelnden Kreisen von Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur gehört haben, also um die Mehrheit der Bevölkerung. Jeder Versuch jeweils Herrschender, diese für ihre Politik zu gewinnen bzw. gefügig zu machen, hängt auch davon ab, wie es gelingt, die Lebens- und Gedankenwelt der sogenannten kleinen Leute zu berücksichtigen. Geschichtswissenschaftliches Arbeiten verlangt daher auch, nach der Wirkungsmächtigkeit von Gefühlen und Stimmungen zu suchen. Nachzudenken ist über Ideelles, über Emotionen, Apathien, Ängste, Gewohnheiten, auch über Dummheiten und folgenreiche individuelle Entscheidungen.

Wer sich für solche Fragen interessiert, wird gern zu einem neuen Buch greifen, das der vor allem durch Publikationen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs bekannt gewordene und bis 2010 an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität lehrende Historiker Gerd Krumeich soeben veröffentlicht hat. Es gilt einem zweifellos gewichtigen Aspekt innerhalb eines komplexen Ursachenfeldes für den erfolgreichen und zugleich folgenreichen Aufstieg der faschistischen NSDAP und damit auch für deren Weg hin zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Wohl unvermeidbar – denn »Hitler sells« – wird dabei der Name ihres Spitzenpolitikers in den Vordergrund gerückt, hier sogar im doch recht weit hergeholten und gequält wirkenden Titel dieses Bandes. Einschränkend spricht der Autor aber von einer absichtlichen Provokation. Der Leser wird sich am Ende fragen, ob dies in gewisser Weise nicht sogar für das gesamte Werk gilt.

Die Schau über drei Jahrzehnte deutscher Geschichte erfolgt in acht zum Teil sehr detailliert gegliederten und viele interessante Aussagen enthaltenden Kapiteln. Das erste befasst sich mit dem »Trauma des verlorenen Krieges«, in dem mentalitätsgeschichtlich nach den Folgen des beginnenden Diskurses über Schuld oder Unschuld Deutschlands am Kriege für die Entwicklung der Weimarer Republik gefragt wird. Ihm folgt eines, in dem recht ausführlich zitiert wird, was Hitler in Reden und Artikeln zum Krieg von 1914 bis 1918 weitschweifig von sich gegeben hat. Gezählt wird nicht zuletzt, wie häufig bei Hitler solche »Hauptstichworte« auftreten wie August (1914), Dolchstoß, Fronterlebnis, Frontgeist, Heer, Kriegsschuld, Volksgemeinschaft. Eingehend befasst sich Krumeich danach mit dem Geschehen in den Jahren 1929/30, als es neue Erscheinungen im Umgang mit dem Thema Kriegsschuld gab, als mehr und mehr, nicht zuletzt auch in den Reihen studentischer Bünde, der Begriff »Kriegsschuldlüge« Verwendung fand und als – begünstigt durch die Kampagnen gegen den Young-Plan – die Nazipartei erheblich an Einfluss gewinnen konnte. Die folgenden drei Kapitel gelten eher inhaltlichen Aspekten im sich verstärkenden Umgang »der« Deutschen mit der Kriegsniederlage und ihren politischen Folgen, wobei sowohl besonders Unterschiede zwischen nationalkonservativen und faschistischen Kräften gesucht werden als auch überlegt wird, ob es nicht eine »Nazifizierung« ersterer durch letztere gegeben habe. Die Titel dieser Teile des Buches lauten: »Die Nazis als Sachwalter der Ehre der Frontsoldaten«, »Nationale Kriegserzählung im Übergang zum NS« und »Kriegsgedenken vor und nach 1933«. Das letzte Kapitel befasst sich mit dem Jubel der Deutschen über »Hitlers Revision von Versailles«. Der knappe Epilog schließt sowohl mit der Aussage, dass Hitler mit dem Sieg über Frankreich im Mai und Juni 1940 den Ersten Weltkrieg gewonnen habe, als auch mit einer eigentümlich klingenden und problembeladenen Behauptung: Erst jetzt »fühlte sich die NS-Bewegung ganz mit Deutschland identisch«.

Seltsame Abkehr vom Totalitarismus

Vorangestellt ist allem bereits im Vorwort das Ergebnis der Untersuchungen. Krumeich spricht von seiner »Hauptthese«, die da heißt und hier ausführlich zitiert wird: »Ohne das Versprechen, die Niederlage von 1918, den ›schandhaften‹ Friedensvertrag von Versailles 1919, zu tilgen, Deutschland wieder zu alter und neuer Größe zu führen, die zwei Millionen Gefallenen des Kriegs zu ehren und ihrem Tod für das Vaterland einen neuen Sinn zu verleihen, hätte Hitler niemals die Unterstützung gefunden, die dazu führte, dass er 1933 die Macht übertragen bekam. Mit diesen Themen, die für die Deutschen jener Jahre zentrale Bedeutung hatten, gelang es ihm, in Politik und Gesellschaft den Einfluss zu gewinnen, den er als Anführer einer nur extrem nationalistischen, antisemitischen und mit Blut-und-Boden-Spinnereien auffallenden Extremistenpartei niemals erhalten hätte.« Zusammenfassend meint Krumeich, es gehe ihm also um die »strukturelle« Bedeutung des Ersten Weltkriegs für den 30. Januar 1933 und für die danach folgende Stabilisierung der Naziherrschaft.

Das liest sich anspruchsvoll und lässt geistigen Gewinn erwarten. Zugleich ruft jedoch fast jedes Wort weitere Fragen hervor und bedarf Erörterung wie auch Vervollständigung, selbst wenn dies anscheinend über das unmittelbare Anliegen Krumeichs hinausgeht.

Der Autor beruft sich mehrfach auf Friedrich Meinecke und damit auf jenen Historiker, der bis heute für viele Gelehrte als Erfinder von »Ideengeschichte« gilt und unmittelbar nach 1945 mit seinem Buch »Die deutsche Katastrophe« Furore machte. Allein mit Namen von zwei außerhalb Deutschlands liegenden Orten hatte der die Ursachen der faschistischen Diktatur zu erklären versucht: Versailles und Moskau. Krumeich erinnert an Meineckes Schrift »Verhältnis von Nationalsozialismus und Bürgertum« sowie an dessen Aussage, der Erfolg der Nazis sei das Echo eines »elementaren Aufschreis aus schwerster innerer Not und äußerer Not des Vaterlandes« gewesen. Und er bekräftigt die Behauptung, im Versailler Friedensvertrag hätte die »letzte und stärkste Ursache des Nationalsozialismus« bestanden. Nicht nur nebenbei: Es fällt auf, dass Krumeich nahezu vollständig alles ausklammert, was von Meinecke mit dem Namen des zweiten Ortes gemeint war. Eine Abkehr von dem nach wie vor üblicherweise verwendeten Totalitarismusdiktum wäre ja zu begrüßen, scheint jedoch eher der Tatsache geschuldet zu sein, dass mit dem Untergang des realsozialistischen Weltlagers der Antikommunismus für die Sieger von 1989/1992 an Feindbildwirkungskraft verloren hat. Vielleicht passt es auch besser in heutige Zeiten, in denen neue Nationalismen aller Art auf dem Vormarsch sind?

Dem Autor geht es, wie der Untertitel des Bandes ausweist, um »die« Nazis und »die« Deutschen. Damit unmittelbar verbundene Fragen werden nicht behandelt, ja nicht einmal gestellt. Waren nicht die Nazis auch Deutsche, trotz ihres aus Österreich stammenden »Führers«? Waren alle Deutschen wirklich für die Nazis? Sind möglicherweise bei letzteren nur deren Obere gemeint, die eine »Nazifizierung« von Anhängern, Wählern und selbst von nationalkonservativen Wegbereitern und Partnern erreichten? Brachten »die« Deutschen, von denen er spricht, sich mit ihren nationalistisch-antidemokratischen und rassistischen Auffassungen nur in eine geistige und politische Nähe zu den Nazis? Und: Gab es keine erheblichen Unterschiede zu anderen Deutschen, beispielsweise den Mitgliedern der damaligen Arbeiterorganisationen und demokratisch-republikanische Teilen des Bürgertums, die ihr nationales Anliegen mit anderen politischen Zielen verknüpften?

Nie wieder Krieg

Wie dem auch sei: Wenn für die Zeit der Weimarer Republik von »den« Deutschen gesprochen wird, darf eigentlich niemand die Tatsache übersehen, dass unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg vielen Menschen in Deutschland das Wort »Nie wieder Krieg!« als Lebensmaxime galt, dass sie in den neuen parlamentarisch-demokratischen Strukturen an die Möglichkeit entweder einer Überwindung des Kapitalismus oder zumindest an die seiner Begrenzung glaubten, um so die Kriegsfolgen hinter sich lassen und generell friedliche Verhältnisse schaffen zu können. Bei vielen Deutschen dominierte eine Stimmung des Aufbruchs. Lautstark, nachdrücklich und unüberhörbar erscholl der Ruf nach einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel, nach Sozialisierung von Bergbau und Schwerindustrie und damit nach einer weitgehenden Entmachtung von Großindustriellen und Großagrariern, die als Verantwortliche für Krieg und Kriegsfolgen gesehen wurden. Selbst bürgerlich-demokratische Kreise erklärten: »Die bisherige Gesellschaftsordnung hat uns in den Abgrund geführt (…). Nur die sozialistische Gesellschaft kann die Völker vor dem Verfall in die Barbarei retten.«¹

Tatsächlich hatte sich in und für Deutschland zunächst ein neuer Geist bemerkbar gemacht; spürbar vor allem im geistig-kulturellen Leben, das mannigfaltig die von Revolution und Weimarer Verfassung gebotenen Möglichkeiten nutzte, widerspiegelte und verteidigte, so den kritischen Vorkriegs- und Antikriegsgeist fortführend. Aufbruchsideen regten sich und erfassten Menschen aller Lebensbereiche – Künstler, Frauen, Jugendliche, Intellektuelle. In zahlreichen Werken von Schriftstellern, Malern, Baumeistern usw. fand die historische Dimension des Wandels bemerkenswerten Niederschlag. Strikte Ablehnung von Monarchie, Krieg, Militarismus, Deutschtümelei und imperialem Großmachtstreben verband sich mit vehement vorgetragenen Gedanken an eine Zeit notwendiger Veränderungen der Gesellschaft. Nachdrücklich wurde Menschheitserneuerung verlangt, Neues gesucht und erkundet.

Davon geht bei Krumeich keine Rede. Sein Wortkomplex »die Deutschen« erfasst zumeist jene ausgesprochen rechten Teile des Bürgertums, von denen Meinecke sprach, also jene rechten Kräfte, die von Anfang an die parlamentarisch-demokratische Verfassung der Weimarer Republik ablehnten und eine Revision des Kriegsergebnisses anstrebten. Erfasst sind damit auch jene Teile der Deutschen, die ihren Blick auf alle sozialen, wirtschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Probleme der deutschen Gesellschaft richteten, auch den auf die Folgen des Ersten Weltkriegs einschlossen, die mit Recht den Diktatfrieden von Versailles kritisierten und ihn ohne neue Kriege überwunden sehen wollten.

Zweifellos spielte das auf die Nation bezogene Denken jenen antirepu­blikanisch-­nationalistischen Kräften in die Hand, die mit allen Mitteln, auch mit militärischen, eine Revision der Kriegsniederlage sowie der Novemberrevolution anstrebten. Diesen Zusammenhang nicht erkannt zu haben ermöglichte in Verbindung mit allen anderen Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens einen verhängnisvollen Weg hin zur hitlerfaschistischen Diktatur und schließlich auch zu einer großen »Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz«.² Deren Geschichtswirksamkeit war aber auch erreicht durch eine bewusst betriebene und umfangreich ­organisierte Erinnerungs- und Gedenkpolitik. Dass sie wirksam sein konnten, ist einzuordnen in ein Bedingungssystem, in dem nicht zuletzt auch sozialpsychologische Faktoren Aufstieg und Erfolg der NSDAP erklären helfen.³ Wenn es um das Erfassen von Entwicklungslinien sowie um die kausale Erklärung geschichtlicher Prozesse geht, dann sollte jener notwendige Blick nicht vermieden werden, der zu richten ist auf die geschichtspolitisch und propagandistisch instrumentalisierte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg – also auf die »Brandstifter« in Friedenszeiten – und weniger ausschließlich auf die, welche dazu einen empfangsbereiten Resonanzboden abgaben.

Notwendig: Zusätzliche Rückschau

Es wäre in diesem Sinne zu erinnern an entsprechende Absichten und Pläne sowie an Maßnahmen zur Beeinflussung von »öffentlicher Meinung«. So wurde beispielsweise am 3. Juni des letzten Kriegsjahres niedergeschrieben: »Worte sind heute Schlachten: Richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten.«⁴ Der Satz entstammt einer Denkschrift, die auszuarbeiten Erich Ludendorff von Major Hans von Haeften, Chef eines Kriegspresseamtes, verlangt hatte.⁵ Der Major, später leitend im Reichsarchiv tätig und Spiritus rector des amtlichen Weltkriegswerks, traf durchaus ins Schwarze! Seine Aussage, so bedeutungslos sie für das letzte Kriegsjahr gewesen sein mag – sie erwuchs aus der bis dahin betriebenen Kriegspropaganda⁶ und erreichte ein brisantes Gewicht in jenen Jahren, die gleichermaßen eine Nachkriegs- und eine neue Vorkriegszeit darstellten.

Es sei ferner erlaubt und in Ergänzung zu dem insgesamt durchaus lesenswerten Buch von Krumeich, auch auf jene führenden Militärs zu verweisen, die es bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik als empörend empfanden, wie weit verbreitet die Vorstellung von einer Zukunft ohne Krieg unter der Bevölkerung war. Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung, bezeichnete ein solches »Friedensbedürfnis« und den Ruf »Nie wieder Krieg!« schlicht als »töricht«.⁷ Zwar ging von der Weimarer Republik kein Krieg aus,⁸ worauf hinzuweisen in der heutigen Berliner Republik sehr sinnvoll ist. Hatte jedoch bis 1918 der Krieg vor allem als Fortsetzung von Politik gegolten, so wurde dieser nun direkt in die Vorstellungswelt nationalkonservativer Kräfte hineingezogen. Jeglichen Ansätzen einer Friedenspolitik, selbst jenen Bemühungen, die mit den Stichworten Rapallo, Locarno, Völkerbund und Abrüstung angedeutet sein sollen, wurden Steine in den Weg gelegt: innen- und außenpolitische, rüstungswirtschaftliche, parteipolitische und viele geistig-kulturelle.

Um im Bild zu bleiben: Wahrscheinlich bestand einer der dicksten Brocken in der zielorientierten Nutzung von menschlicher Trauer um die Opfer des Krieges und deren Verklärung als »Helden« der Nation. Sowohl direkt als auch unterschwellig sah sich das mit der Frage verknüpft, wie in der Zukunft alles wettgemacht werden könnte und was dafür in der gesamten Gesellschaft speziell auf den Gebieten Aufrüstung, Kriegführung und Kriegspsychologie zu unternehmen als wichtig erachtet worden ist.⁹ Auf dem damaligen »Schlachtfeld Erinnerung«¹⁰ verschoben sich die Kennzeichen von Mut, Kühnheit und Tapferkeit hin zu Ausdauer, Beharrlichkeit, Treue und Gehorsam gegenüber den Befehlshabern sowie einer erhofften unerschütterlichen Bereitschaft zu künftiger Pflichterfüllung. Obgleich alle Verantwortlichen, auch die Rechten, in den Jahren der Weimarer Republik wussten, dass Deutschland keinen Krieg führen kann, sollte zumindest der »kriegerische Geist im Volke aufrechterhalten oder, soweit er nicht mehr existiert, wieder wachgerufen werden«. Gepredigt wurden »Hass und Hoffnung auf Revanche«.¹¹

Hitler war’s

Gerät nationalstaatliches Empfinden, Denken und Handeln zu stark in den Vordergrund von Ursachensuche und Deutung der Geschichte des Hitlerfaschismus, wird wohl zudem bereits Erforschtes und Dargestelltes in den Hintergrund gedrängt. Die Folge kann eine eklatante Wiederbelebung der überwunden geglaubten Dominanz personengeschichtlicher Sicht- und Schreibweisen sein, so als hätte es in den Jahrzehnten seit dem großen Historikerstreit in der Mitte der 1980er Jahre keinerlei Veränderungen im Blick renommierter Historikerinnen und Historiker auf den gesamten Bereich gesellschaftlich-struktureller Ursachen des 30. Januar 1933 gegeben. Auferstanden scheint auch bei Krumeich wieder die alles vereinfachende und von allen anderen Verantwortlichkeiten ablenkende Devise »Der Hitler war’s«, dem alles gelang, weil er mit seiner Friedensrhetorik zu täuschen verstand.¹² Versuche einer komplexen Kausalitätsforschung treten in den Hintergrund. Natürlich, es muss Detailforschung geben. Und selbstverständlich kann ein umfassender Blick auf den Gang der Geschichte erst auf der Grundlage konkreten Wissens über alles Geschehen gewonnen werden. Erforderlich bleibt aber, soll aus der Geschichte Vernünftiges abgeleitet werden, die alles erklärende Gesamtschau.

Schließlich sind die Folgen einseitigen Denkens zu beachten. Kurt Tucholsky fragte 1931, weshalb in Deutschland beispielsweise der Segelflug – an sich ja, wie man denken sollte, ein harmloser Sport – als »ein stolzes Zeugnis deutschen Geistes« gepriesen werde? Wozu müsse eigentlich selbst in eine solche Betätigung das »Gift des Nationalismus hineingetragen« werden? Seine Antwort: »Weil in Deutschland keine Verdauungsstörung vor sich geht, ohne dass nicht einer dazu brüllt: ›Im Felde unbesiegt! Trotz allem!‹« Seine warnende und wohl zeitlos gültige Schlussfolgerung lautete: »Es ist übelste Wichtigmacherei, Nationalismus, geistige Aufrüstung an allen Ecken und Enden und Reklame für den nächsten Krieg.«¹³

Anmerkungen:

1 Mitteilungen des Bundes Neues Vaterland. Neue Folge, Nr. 1. Revolutionsnummer, November 1918, S. 7

2 Das 2017 erschienene Buch des DDR-Historikers Kurt Pätzold »Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz« findet nicht einmal Aufnahme in das umfangreiche Literaturverzeichnis. Auch andere DDR- bzw. ostdeutsche Historiker scheinen für Krumeich nicht zu existieren. Insofern könnte sein Buch als ein weiterer Beleg für die von Dirk Oschmann festgestellten Probleme im »westdeutschen« Denken betrachtet werden.

3 Siehe Dieter Frey, Helmut Rez und Melissa Hehnen: Weimar, Hitler und »die Deutschen« – ein sozialpsychologisches Bedingungssystem. Aufstieg und Akklamation der nationalsozialistischen Bewegung im Lichte der kognifizierten Kontrolle. In: Psychologische Rundschau 73 (2022), Heft 2, S. 99–119

4 Zit. n. Jeffrey Verhey: Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft; Hamburg 2000, S. 327

5 Vgl. Manfred Nebeling: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 426 ff.

6 Siehe dazu u. a. Klaus-Jürgen Bremm: Propaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2013 sowie die Rezension dieses Bandes durch Gerhard Engel in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (2014), Heft 2, S. 245 ff.

7 Zit. n. Otto-Ernst Schüddekopf: Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis 1933, Hannover 1955, S. 160

8 Wolfgang Ruge: Nachdenken über Weimar. In: Ehrenpromotion Wolfgang Ruge, Jena 1988, S. 11–20

9 Siehe u. a. Rüdiger Bergien: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und »Wehrhaftmachung« in Deutschland 1918–1933, München 2012, der die Auffassung vertritt, dass auf dem Felde der Landesverteidigungspolitik der Zäsurcharakter des 30. Januar 1933 zu relativieren sei.

10 Peter Kümmel: Sarajevo, später. Wann begann der Erste Weltkrieg? Und ist er überhaupt vorbei? Der Theaterregisseur Hans-Werner Kroezinger recherchiert in der bosnischen Hauptstadt für sein neues Stück »Schlachtfeld Erinnerung«, Die Zeit, 8. Mai 2014, S. 53

11 Bergien (Anm.), S. 179

12 Siehe dazu u. a. Reinhard Kühnl und Karen Schönwälder (Hg.): Sie reden vom Frieden und rüsten zum Krieg. Friedensdemagogie und Kriegsvorbereitung in Geschichte und Gegenwart, Köln 1968

13 Die Weltbühne 27/1931

Gerd Krumeich: Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann. Die Nazis und die Deutschen 1921–1940. Herder-Verlag: Freiburg im Breisgau 2024, 347 S., 26 Euro

Manfred Weißbecker schrieb an dieser Stelle zuletzt am 10. April 2024 über Thüringen als Tummelplatz faschistischer und völkischer Kräfte in der frühen Weimarer Republik.

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