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Aus: Ausgabe vom 29.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theatertreffen 2024

In der Traumafabrik

Am 2. Mai beginnt in Berlin das Theatertreffen 2024. Eröffnet wird mit Ulrich Rasches Inszenierung von »Nathan der Weise«
Von Gert Hecht
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Rasender Stillstand auf Ulrich Rasches notorischer Drehscheibe

Und täglich grüßt das Traumatier: Will man die zehn Inszenierungen, die eine Kritiker­jury als die bemerkenswertesten aus dem deutschsprachigen Raum zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen hat, unter ein Etikett zwängen, so wäre es dieses Jahr die gemeinschaftliche Traumabewältigung, mit der das Theater seit der Antike betraut ist. Die Menschheit mordet, vergewaltigt, stiehlt und lügt – und das öfter mit staatlichem oder kirchlichem Segen als ohne. Im Theater wird das Grauenhafte nachgespielt, auf dass Spieler und Publikum erleben und erkennen, was sie als Einzelmensch, Stämme oder Staaten da treibt, und wie es anders sein könnte.

Zur Eröffnung wird Ulrich Rasches »Nathan der Weise« gespielt, der im vergangenen Sommer bei den Salzburger Festspielen lief. Was bei ihm passiert, ist eine Verkörperung des traumatischen Wiederholungszwangs. Die Schauspieler stapfen bis zur Erschöpfung gegen Förderbänder und Drehscheiben an, während sie im Chor ihre Texte herausschreien. Alles ist Bewegung, aber nichts bewegt sich. Rasender Stillstand. Es ist keine erbauliche Predigt für Toleranz, sondern ein düsterer Abstieg in den über Jahrhunderte in deutschen Landen gepflegten Judenhass. Der Hoffnung des Frühaufklärers Lessing setzt Rasche die Resignation der Nachaufklärung entgegen.

Trauma als Musical gibt es bei Yael Ronens »Bucket List«. Die Geschichte einer zerstörerischen Trennung wird mit den Geschehnissen in Israel und Gaza überblendet. Was im Stück satirisch überspitzt als Traumatherapie angeboten wird – die Bereinigung des Gedächtnisses –, erweist sich als Teil des Problems und nicht als Lösung. Es ist ein Abend, der den Schock linker Israelis über das beispiellose Hamas-Massaker, aber auch den grausamen Krieg widerspiegelt – und der in seiner großen Traurigkeit und Sprachlosigkeit doch noch Spuren von Humor und Hoffnung entdeckt. »Bucket List« hatte im Herbst, kurz nach dem 7. Oktober Premiere an der Berliner Schaubühne.

Ebenfalls von der Schaubühne ist Falk Richters »The Silence« eingeladen. Der Regisseur taucht in dem autofiktionalen Stück in die Traumageschichte seiner Familie ein, im Mittelpunkt steht seine Mutter. Die hat sich im Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens eine Härte angewöhnen müssen, die dem Sohn übel aufstößt. Eine Mischung aus öffentlicher Therapiesitzung und persönlicher Geschichtsstunde, die der Schauspieler Dimitrij Schaad in einem tollen Solo bestreitet.

Weiter geht’s in der Traumgalerie mit »Extra Life« von Gisèle Vienne, eine eindrückliche und abgründige Annäherung an sexuellen Missbrauch in der Kindheit als theatrale Performance.

Mit »Macbeth« kommt ein Klassiker zwischen Gewaltpornografie und Traumabewältigung aus Bochum nach Berlin, von Regisseur Johan Simons in kleiner Besetzung mit nur drei Personen inszeniert. Im Zentrum stehen Jens Harzer und Marina Galic als Verbrecherpaar, angetrieben von den Hexen als ihren gemeinsamen Dämonen. Aus Hamburg kommt mit »Laios« ein Teil von Karin Beiers monumentalen »Anthropolis«-Projekts. In einem irren Solo spielt Lina Beckmann die Eltern des Vatermörders und Mutterbeischläfers Ödipus, die ihrem Kind die Fersen durchbohren und es aussetzen. Allein der Text des Dramatikers Roland Schimmelpfennig ist ein großes Erlebnis.

Und sonst? Gibt es mit »Riesenhaft in Mittelerde« ein Spektakel, das in Zürich nicht nur Fans von »Herr der Ringe« begeisterte. »Die Hundekot­attacke« aus Jena ist ein Abend, der »nach einer wahren Begebenheit« (ein Tanzregisseur beschmiert eine Zeitungskritikerin mit Dackelscheiße) mit viel Witz schildert, wie skandalsüchtig und shitstormisiert die spätkapitalistische Öffentlichkeit ist.

Nach welchen Regeln gespielt wird, ist für das Theater als öffentlichem Ort entscheidend. Das zeigt sich beim Theatertreffen auch im Rahmenprogramm, das dieses Jahr auf »Putin-Prozesse« und Tanzen bis zum ukrainischen Endsieg verzichtet, sondern sich mit Nachtgesprächen oder einer Debatte zu »rechten Kulturkämpfen« mehr aufs Theater konzentriert. Und wer keine Karten mehr bekommt, kann immerhin »Bucket List«, »Laios« und »Macbeth« im Fernsehen ansehen.

Das Berliner Theatertreffen findet vom 2. bis zum 20. Mai statt. Ausgewählte Inszenierungen in der Mediathek von 3sat

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