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Aus: Ausgabe vom 26.04.2024, Seite 15 / Feminismus
Frauenfilmfest

»Ständig kleine Nadelstiche«

Weiblich und als nichtdeutsch gelesen: Doppelte Marginalisierung im Film »Ellbogen«. Ein Gespräch mit Aslı Özarslan
Von Gitta Düperthal
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Hier geboren und doch migrantisiert: Szene aus dem Film »Ellbogen«

Der sogenannte Migrationshintergrund kann viel zerstören: In Ihrem Film »Ellbogen« löst es große Wut aus, dass die Suche einer jungen Frau nach der Ausbildung scheitert und sexistische, rassistische Anmache ihr das Leben schwer macht. Der Film gewann den mit 10.000 Euro dotierten Preis für die beste Regie eines Debütspielfilms beim Internationalen Frauenfilmfest (IFFF). Wie passt der Film zu dem Festival, das am Sonntag endete?

Ich finde es toll, dass mein Film das IFFF eröffnete: Führende Positionen am Set haben wir mit Frauen besetzt, genau wie maßgebliche Rollen. Im Vordergrund steht eine selbstbewusste, aber auch ambivalente Persönlichkeit, die gesellschaftliche Normen scharf beobachtet, aber nicht akzeptieren kann. Dass sie von der Gesellschaft marginalisiert wird, kehrt sich um: Auch sie gibt kein Vertrauen mehr hinein. Sie ist mutig, zugleich verletzlich, auf ihre Art stark. Diese Komplexität einer Frauengeschichte passt zum Festival. Die Hauptfigur Hazal ist von der Migration geprägt, die einst in der Familie stattfand. Dass es für sie im Alltag schwierig ist, hat auch etwas mit der Klassenzugehörigkeit zu tun: Für junge Menschen ist es schwer, sich durchzuboxen, wenn die Familie ökonomisch nicht gut gestellt ist.

Hat der Film eine feministische Botschaft?

Möglich ist es, den Film aus dieser Perspektive heraus zu werten. Ich habe es so nicht kategorisiert. Mich hatte die innere Welt der jungen Frau aus dem gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir interessiert. Ich war von ihrem emotionalen Potential ergriffen. Sie erlebt eine Gesellschaft, die sie benachteiligt, kann das aber nicht einordnen. Ich erzähle von ihrem Mikrokosmos, ihrer aufgestauten Wut, davon, wie sie auf ungewöhnliche Weise kämpft. Ihre daraus resultierende Gewalttat mutet paradoxerweise wie ein Befreiungsschlag an. Im Film geht es nicht um die Schuldfrage, sondern um Hazals Selbstfindung: Wie kann sie ihren Platz in der Gesellschaft finden? Die Enge, die sie in Berlin empfindet, wird durchbrochen, als sie nach Istanbul reist. Dort öffnet sich ihr ein neuer Weg, der ebenfalls steinig wird.

Bei den Debatten des IFFF gibt es Fragen wie: »Welche Möglichkeiten haben wir, uns zu verteidigen und die Wut umzudrehen und dorthin zurückzuschicken, wo sie herkommt?« Könnte das feministische Publikum mit »Ellbogen« andere Dinge verbinden, als das allgemeine, das den Film im September im Kino sehen kann?

Ich überlasse es dem Publikum, wie es den Film interpretiert. Er ist kein Appell. Aber natürlich kann man sich durch ihn inspiriert fühlen, den Blick auf Frauen zu werfen, die doppelt marginalisiert sind. Es geht um die Frage: Wie wollen wir miteinander leben? Wie geht die Gesellschaft mit jungen Frauen wie Hazal um, die großes Potential hätten, sich einzubringen, aber hinausgedrängt werden. Sie wird in der U-Bahn-Station von einem Typ sexistisch angegriffen, weil er meint, sich das ihr gegenüber erlauben zu können. Er täuscht sich gewaltig. Zur Frage, was bedeutet Wut bei Frauen: Sie kann zu Gewalt führen, jedoch ebenso konstruktiv genutzt werden, um Veränderung herbeizuführen. Solange man nicht andere Menschen verletzt, sollte man keine Angst davor haben.

Eine Studie der Malisa-Stiftung über Diversität im deutschen Film (2022) konstatiert: Frauen sind darin deutlich unterrepräsentiert, insbesondere Migrantinnen. Haben sie es schwerer?

Frauen jüngerer Generationen sind oft selbst nicht emigriert, wie ihre Eltern oder Großeltern, sondern hier aufgewachsen. Man sieht uns als Migrantinnen, was wir de facto meist gar nicht sind. Wir erfahren, was die Gesellschaft auf uns projiziert. Weil unsere Geschichten jahrzehntelang nicht aus unseren Perspektiven erzählt wurden, ist das schwierig zu vermitteln. Vor Jahren hatten es Filmemacherinnen mit türkischem oder kurdischem Namen schwerer als heute. Weder wurden sie als deutsche Filmemacherinnen wahrgenommen, noch ihre Geschichten als deutsche eingeordnet. Für sie war das schmerzhaft. Diese Generation hat dafür gekämpft, uns den Weg geebnet. Der Begriff »migrantisches Kino« enthielt Ausgrenzung, war das Andersartige: Auch weil man in dieser Branche kämpfen muss, um sich finanziell über Wasser zu halten, trauten sich viele lange Zeit nicht in diese Jobs. In den vergangenen Jahren hat sich das verbessert, ist diverser geworden: Wir sind neue deutsche Filmemacherinnen und Schauspielerinnen, bringen frische Perspektiven ein, die deutsche Kultur modern miterzählen.

Stimmt die Interessenlage sogenannter Postmigrantinnen mit der von Frauen, deren Eltern und Großeltern schon Deutsche waren, dennoch partiell überein? Können sie gemeinsam für ihre Rechte kämpfen?

Junge Frauen, die aus der Arbeiterklasse kommen, verbindet viel miteinander: Um den Sprung an die Uni zu schaffen, müssen sie hart arbeiten. Wer aber Ayșe oder Fatma heißt, hat es aufgrund seines Namens schwer, einen Job zu finden; muss sich öfter bewerben. Das belegen Studien. Hazal bekommt im Film ständig kleine Nadelstiche im Alltag zu spüren. Sie wird in der Gesellschaft nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Teil einer Gruppe. Viele junge, kluge Menschen erhalten aufgrund ihrer familiären Situation oder ihrer finanziellen Notlage nicht die Chancen, die sie verdient haben. Chancengleichheit ist essentiell.

Aslı Özarslan ist Regisseurin und Koautorin des Drehbuchs des Spielfilms »Ellbogen« (2024)

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