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Aus: Ausgabe vom 22.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kabarett

Spreu und Weizen. Kabarettkonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin

Von Sigurd Schulze
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DSO und Dieter Hallervorden lassen grüßen

Nach guter Tradition beging das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) vergangenen Montag im Schlosspark Theater wieder ein Jubiläum. Am 15. April 1724, genau vor 300 Jahren, führte Johann Sebastian Bach der Legende von Dieter Hallervorden und Thomas Schmidt-Ott zufolge im Schlosspark-Theater sein Streichquintett mit leichtem Mozart-Rossini-Programm auf. Dies als Behelfsausgabe seiner Kirgisenkantate, zu der ihn die Bekanntschaft mit kirgisischen Musikern anlässlich der unlängst in Bischkek aufgeführten Matthäus-Passion inspiriert hatte (so klein war die Welt schon damals). Das ursprüngliche musikalische Wortspiel von »Sechs Kirgisen mit dem Kontrabass« wurde ihm doch zu gefährlich wegen möglicher Rassasmas-Vorwürfe, und so magerte er die sechs Kontrabässe auf ein herkömmliches Sträächquäntätt ab. Irgendwie unklar, aber wahr.

Das Erlebnis des Abends war denn auch das Streichquintett »Ensemble Tres y Dos«, bestehend aus den Mitgliedern des DSO Byol Kang (Violine), Daniel Vlashi Lukaçi (Violine), Thaïs Coelho (Viola), Sara Minemoto (Violoncello) und Ander Perrino Cabello (Kontrabass). Sie spielten herrliche Sonaten. Divertimenti, Ouvertüren und Fugen von Gioachino Rossini, W. A. Mozart und Astor Piazzolla, finnischen Tango von Reijo Taipale und Czárdás von Vittorio Monti. Allein ihre Stücke waren Kammermusik erster Klasse. Kabarettist des Programms war Piet Klocke, Musiker und Schauspieler. Klocke wusste die Kompositionen klug und einfühlsam zu interpretieren. Sein Wortprogramm bot Unterhaltung über menschliche Verhaltensweisen und Leidenschaften, auch im Alter, Gewohnheiten und Ausdrucksformen von Hunden und Vögeln, insbesondere im Vergleich zum Menschen. Die Lacher waren ihm sicher.

Gerühmt werden seine Wortspiele. Locker seine Erklärung der Fuge: »Fuge heißt Flucht. Musiker kennen das. Manchmal ergreifen sie die Flucht – die Spreu!« Die Spreu. Weiß er nicht, was er da so redet? Wer im Saal weiß das? Die Flucht ergriffen Bruno Walter, die Mitglieder des Berliner Philharmonischen Orchesters Gilbert Back (Violine), Szymon Goldberg (erster Konzertmeister), Nikolai Graudan (erster Solocellist), Joseph Schuster (erster Solocellist), die Sänger der Comedian Harmonists Harry Frommermann, Roman Cycowski und Erich A. Collin. Juden. Sie gingen 1933, 1934, 1935 etc. Bruno Walter, weil die Nazis drohten, die Saaleinrichtung zu zerschlagen, wenn er in der Philharmonie dirigieren sollte, Szymon Goldberg wegen Drohungen der Gestapo, die anderen drei Philharmoniker, weil sie einen »Ariernachweis« erbringen sollten, die Comedian Harmonists, weil sie Auftrittsverbot hatten. Für die drei Comedian-Sänger wurden in Berlin unlängst Stolpersteine verlegt. Die meisten sind vergessen, unbekannt. Und die, die locker mal so reden – woher sollen sie es wissen? Aus der Schule? Aus der Literatur? Von Gedenktafeln? Von Straßenschildern? Was nützt es, dass auch Mozart mal unqualifiziertes Zeug geredet hat? »Wir« haben aus der Geschichte gelernt! Wo ein bitterer Geschmack aufkommt – was haben die umjubelten Musiker damit zu tun? Bleibt als Ausweg nur Schweigen? Die Zeiten sind so, dass ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist (Brecht).

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