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Aus: Ausgabe vom 15.04.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Medienkritik

Westliche Wirklichkeit

Brachial und röntgenscharf: Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer über den Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Von Stefan Siegert
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Endlich ein realitätsnahes Programm: Reste eines TV-Geräts auf einer Wiese

Es hat sich unter der eng werdenden Formatierung deutscher Meinungsfreiheit im Internet ein inzwischen beachtliches Feld kritischer Publizistik entwickelt. Nach Rosa Luxemburg war es stets die Waffe der Kritik, welche der Kritik der – so lange es geht friedlichen – Waffen der Neunundneunzigprozent gegen ein durchtriebenes Einprozent vorausgeht. Soweit zu sehen, haben sich die deutschen Neunundneunzigprozent vor längerer Zeit wieder einmal vom Einprozent entwaffnen lassen. Aber die Waffen sind ja noch verfügbar. Zum Kuckuck auf dem Baum, der, Baum wie Kuckuck, immer »wieder da« ist – auch in der Geschichte ist immer neu Frühling. Und es ist die Waffe der Kritik, die 2024 in Deutschland wieder im Kommen ist.

Zwei, die es schon lange treibt und die vom Treiben nicht lassen können, sind Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer. Der eine in einer besseren Zeit Redakteur der »Tagesschau«, der andere, Klinkhammer, im Personalrat des NDR lange und erfolgreich gewerkschaftlich aktiv. Klinkhammer sorgt für die Recherche und eine reiche Ernte an Belegen. Bräutigam macht daraus so scharfsinnig wie zugespitzt witzig waffenfähig linke Kritik.

Das neue Buch heißt »Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist am Ende. Aber ein Ende ist nicht in Sicht«. Als gebrannte Kinder dessen, wovon sie reden, kennen sich die beiden Autoren im Netzwerk »Tagesschau und Co.« gut aus. Ihre gesammelten, brachialen und röntgenscharfen, an vielen 20-Uhr-Abenden durchlittenen analytischen »Tagesschau«-Checks sind seit Jahren auf einschlägigen Plattformen wie Nachdenkseiten oder Telepolis zu verfolgen. Auf 239 Buchseiten sorgen in fünf Kapiteln 833 Quellen-Links für ein Kompendium verlässlicher Beschreibung dessen, was war und was ist – insoweit ein Nachschlagewerk. Wer das freilich alles schon weiß, findet im an aktuellen Informationen und klugen Querschlägen reichen Vorwort anderthalb Portionen Schmankerl vorweg.

»Der Artikel 5 unseres Grundgesetzes«, heißt es da beispielsweise, »garantiert zwar die Rundfunkfreiheit, aber das Petersilienblatt auf dem Schweineschnitzel dient ja auch bloß der Dekoration«. Und ähnlich kabarettreif: die Zensur, die laut Grundgesetz in unserem Land nicht stattfindet, »wird wohl nur exekutiert, wenn das Grundgesetz gerade nicht hinguckt«. Dann wieder Klartext: »Die demokratiegefährdenden Abbrucharbeiten an unseren Freiheitsrechten schreiten voran«. Denn jene, die uns, darüber berichtend, davor schützen sollten, »haben längst alle demokratischen und berufsethischen Hüllen fallen lassen«. Das schöne Wörtchen »Demokratie« wird derzeit gigagroß geschrieben. Es lässt gleichwohl in seiner wesentlich westlichen Wirklichkeit auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem an demokratischer Legitimation zu wünschen übrig. »Darüber was mit der gigantischen Beitragseinnahme passiert«, schreiben die Autoren, »haben die Rundfunkteilnehmer nicht zu bestimmen. Pfeif auf demokratische Regeln«. Und sie legen so unterhaltsam wie präzise dar, wer da, außer elf fürstlich entlohnten Intendanten und einem kleinen Kreis im bundesweiten Schnitt 58jähriger Rundfunk- und Verwaltungsräte, das Wirken unseres jugendfrischen Rundfunksystems managt und »kontrolliert«. Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem wurde nach den Erfahrungen mit der auch propagandistischen Schläue der deutschen Faschisten gegründet – wohlüberlegt, als von Konzernen und Parteien unabhängige Institution kritisch-demokratischer Kontrolle.

Gute Gewerkschafter, die sie sind, enden Bräutigam/Klinkhammer nach einer geradezu unverschämt gut zu lesenden Beschreibung des aktuellen öffentlich-rechtlichen Rundfunkzustands (einer postmodernen Nachgeburt des Hofs von Versailles) mit einem Forderungskatalog. Wenn es also endlich soweit ist, werden »Rundfunkräte von und unter den Augen der Öffentlichkeit gewählt«. Eine grundlegende Erneuerung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sieht außerdem vor: »Verbot der Auftragsvergabe an Privatunternehmen. Ausschluss von Parteivertretern und politischen Beamten aus den Kontrollgremien. Unbefristete Feststellungsanträge für alle Redakteure. Redaktionsstatute, die echte journalistische Freiheit sichern. Verbot der Leiharbeit.« An die Realos aller Schattierungen wendet sich der letzte Satz: »Zum Umpflügen eines Ackers genügt es nicht, nur durch die Hecke zu pupsen.«

Volker Bräutigam, Friedhelm Klinkhammer: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist am Ende. Aber ein Ende ist nicht in Sicht. Fifty-Fifty, Frankfurt am Main 2023, 284 Seiten, 24 Euro

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