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Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 2 / Inland
Fretterode-Prozess

»Das Gericht hat in der Sache bisher versagt«

BGH hebt Skandalurteil im Prozess um Neonaziangriff auf zwei Journalisten in Thüringen auf. Ein Gespräch mit Rasmus Kahlen und Sven Adam
Interview: Kristian Stemmler
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Kleiner Aktenberg zum Prozessauftakt im Landgericht Mühlhausen (7.9.2021)

Der Bundesgerichtshof, BGH, hat das Urteil im sogenannten Fretterode-Prozess aufgehoben. Die Neonazis Gianluca B. und Nordulf H. waren im September 2022 für einen Angriff auf zwei Journalisten, die Sie als Nebenkläger vertreten, von dem Landgericht Mühlhausen zu milden Strafen verurteilt worden. Was war damals genau passiert?

Rasmus Kahlen: Zwei Journalisten aus Göttingen hatten sich aus Recherchegründen Ende April 2018 im Ort Fretterode befunden. Sie hatten erfahren, dass ein Treffen von Neonazis im Gebäude des NPD-Vize Thorsten Heise stattfinden sollte. Als sie entdeckt worden waren, flüchteten sie mit dem Auto. Es kam zu einer Verfolgungsjagd. Nachdem das Fahrzeug der Journalisten in einem Graben zum Stehen kam, griffen zwei Neonazis mit einem Baseballschläger, einem Messer, einem etwa 40 bis 50 Zentimeter großen Schraubenschlüssel und Pfefferspray an. Einer der Journalisten erlitt eine Stichverletzung mit einem Messer im Oberschenkel, seinem Begleiter wurde mit dem schweren Schraubenschlüssel auf den Kopf geschlagen. Er erlitt eine Fraktur des frontalen Schädelknochens und eine Kopfplatzwunde. Dem Fotografen wurden Kamera und Kameratasche geraubt.

Das milde Urteil war bereits kurz nach Verkündung von vielen Seiten kritisiert worden.

Sven Adam: Das Urteil des Landgerichts Mühlhausen war ein Skandal. Das Gericht verurteilte die angeklagten Neonazis lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung. Gianluca B. erhielt eine Freiheitsstrafe von einem Jahr, ausgesetzt zur Bewährung, und der nach Jugendstrafrecht verurteilte Nordulf H. 200 Arbeitsstunden. Das sind außerordentlich milde Strafen. Das Gericht ließ eine Strafverschärfung wegen der menschenverachtenden Gesinnung, die aus der Tat sprach, aus und sah es als nicht erwiesen an, dass die Kamera der Journalisten geraubt wurde.

Das Gericht signalisierte zudem, dass es den Neonazis quasi ein »Stand your ground«-Recht (US-amerikanisches Gesetz, das Personen bei wahrgenommener Gefahr erlaubt, auch tödliche Gewalt anzuwenden, jW) zubilligt – und das gegenüber recherchierenden Journalisten, die keinen Fuß auf das Grundstück von Heise gesetzt hatten. Die Beweiswürdigung war insoweit absurd. Die Journalisten haben konsistent ausgesagt. Die Einlassungen der Angeklagten waren demgegenüber nachweislich von diversen Schutzbehauptungen geprägt. Trotzdem schenkte das Gericht den Aussagen der Angeklagten Glauben, dass die Kamera nicht geraubt worden sei. Die politische Haltung und der Grund des Angriffs sind eindeutig neonazistisch und damit menschenverachtend.

Der BGH hat das Urteil wegen erheblicher Mängel in der Beweisführung aufgehoben. Können Sie Näheres sagen?

R. K.: Die schriftliche Begründung des Aufhebungsbeschlusses liegt uns bislang nicht vor. Die Mängel in der Beweiswürdigung dürften allerdings darin liegen, dass das Tatgericht letztlich die Aussagen unserer Mandanten zum Tatgeschehen keiner Glaubwürdigkeitsprüfung unterzogen hat. Deren stimmige Aussagen hatten sich lediglich in der Frage, durch welches Fenster die Kamera während der Tat durch einen der Täter aus dem Fahrzeug unserer Mandanten entwendet worden ist, unterschieden. Eine solche »Diskrepanz« ist normal – insbesondere nachdem das Gericht den Beginn des Verfahrens so lange verschleppte und das Erinnerungsvermögen insbesondere, was Details angeht, über die Dauer nicht besser wird.

Wie geht es weiter?

S. A.: Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren zur Neuverhandlung an eine andere Kammer des Landgerichts Mühlhausen zurückverwiesen. Wann dort verhandelt wird, ist unklar. Es wäre eine angemessene Reaktion der nun betrauten Kammer des Landgerichts Mühlhausen, dem bisherigen Versagen des Gerichts in der Sache durch eine schnelle Terminierung und ersichtlich gründlichere Beweiswürdigung zu begegnen. Angesichts der bisherigen Erfahrungen im sogenannten Ballstädt-Verfahren und auch im Fretterode-Verfahren mit der Thüringer Strafjustiz sind wir aber skeptisch, was die konsequente und schnelle Verfolgung rechter Gewalttäter angeht.

Sven Adam und Rasmus Kahlen sind Rechtsanwälte in Göttingen

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