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Aus: Ausgabe vom 21.03.2024, Seite 12 / Thema
Literatur

In Erinnerung bleiben

Scham, Schuld, Schweigen: Drei Versuche, spanisch-deutsche Lebensläufe zu ergründen
Von Erich Hackl
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Salvador Puig Antich war eines der letzten Todesopfer der franquistischen Justiz. An ihn wird in Spanien noch heute vielfach erinnert. Georg Welzel aber, der zusammen mit Puig Antich hingerichtet wurde, ist vergessen (Wandbild im baskischen Gasteiz)

Von den drei Büchern, die es vorzustellen gilt, hat leider nur eines, »Mi padre alemán« (Mein deutscher Vater) von Ricardo Dudda, gute Chancen, auf deutsch zu erscheinen. Aber auch das ist ungewiss; nach Auskunft des Verlags Libros del Asteroide, der es im Vorjahr veröffentlicht hat, hat bis jetzt niemand um die Übersetzungsrechte angefragt. Bernardo Fusters Erinnerungen an Kindheit, Jugend und Militanz in einer linksradikalen Organisation, die unter dem Titel »El contador de abejas muertas« (Der Tote-Bienen-Zähler) vorliegen, haben selbst in Spanien kaum Beachtung gefunden, und Raúl Riebenbauers umfangreicher Bericht über einen in der Spätphase des Franco-Regimes hingerichteten deutschen Gewalttäter, »El silencio de Georg« (Georgs Schweigen), hat in Deutschland zwar viele Journalisten zu Zeitungsartikeln angeregt, aber keinen Verlag dazu veranlasst, ihn zu publizieren.

Mit etwas Nachsicht ließe sich sagen, dass die Autoren drei aufeinanderfolgenden Generationen angehören: Bernardo Fuster ist Jahrgang 1951, Raúl Riebenbauer 1969, Ricardo ­Dudda 1992. Alle drei sind in Spanien geboren und aufgewachsen, Fuster und Dudda haben deutsche Väter, Riebenbauers Mutter Charlotte stammt aus Österreich. Wahrscheinlich sind sie einander nie über den Weg gelaufen, und ich bezweifle, dass sie die Bücher der jeweils anderen gelesen haben. Sicher ist, dass sich deren Lektüre speziell in Deutschland lohnen würde, nicht nur wegen ihrer binationalen Prägung, sondern weil die Lebensgeschichten, die sie erzählen, sowohl mit der spanischen als auch mit der deutschen Zeitgeschichte eng verknüpft sind.

Musik hören, um zu essen

Ich beginne mit dem Komponisten, Textdichter und Liedermacher Bernardo Fuster, der eigentlich Bernardo Feuerriegel Fuster heißt, aber den Namen seines Vaters als junger Mann abgelegt hat: aus Not, weil er damals landesweit gesucht wurde, nicht aus Scham über die politische Einstellung des Vaters, die er schon als Halbwüchsiger abgelehnt hatte. Denn Bernhard Feuerriegel, der aus Hannover stammte, war bis zu seinem Tod 1995 ein unbelehrbarer Nationalsozialist. Er hatte als Angehöriger einer Panzerdivision am Polen-Feldzug teilgenommen, ehe er nach einer Kriegsverletzung, die er sich in der Sowjetunion oder in Frankreich zugezogen hatte, nach Madrid versetzt wurde, wo er im Auftrag der deutschen Botschaft als Landesjugendführer der HJ tätig war. Welchen Beruf er nach Kriegsende in Valencia und der nahen Kleinstadt Ayora ausgeübt hat, geht aus den »Erinnerungen eines klandestinen Musikers«, so der Untertitel des Buches, nicht hervor. (Er war Forstaufseher auf dem Gut eines Verwandten seiner Frau, hat mir der Autor mitgeteilt, und stand bis 1950 auf einer Liste deutscher Nazis, deren Auslieferung die Alliierten vom Franco-Regime gefordert hatten.) Fusters Mutter Amparo stammte aus einer konservativen Familie und brach erst als Witwe, unter dem Einfluss ihrer Söhne, mit den politischen Erben der Diktatur.

Es mag verwundern, dass der Autor seinen Vater nicht in Bausch und Bogen verurteilt. Aber immerhin hat ihn der überzeugte Atheist vor der nationalkatholischen Indoktrinierung bewahrt und sollte ihm später, als er zur Fahndung ausgeschrieben wurde, unter falschen Angaben zu einem deutschen Aufenthaltstitel und damit zur Flucht aus Spanien verhelfen. Rührend sein Bemühen, den kleinen Bernardo zum Essen zu bewegen. »Zu Hause wurde sogar beim Kochen gesungen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mein Vater, als ich fünf Jahre alt war und an Anämie litt, während des Mittagessens auf seiner Ziehharmonika spielte. Zwei oder drei Jahre lang aß ich nur zu den Klängen seiner Musik. Um mich allmählich von diesem Laster zu entwöhnen, das man heutzutage als musikalisches Abstinenzsyndrom bezeichnen würde, beschlossen meine Eltern, die Zahl der Konzerte allmählich zu reduzieren, zunächst auf jeden zweiten Tag und dann auf die Sonntage. Solcherart wurde die Musik für mich eine Art Lebenshilfe. Man kann nicht leben, ohne zu essen, aber um zu essen, muss man Musik hören.« Musik als Elixier. Mehr noch als seinem Vater fühlt Fuster sich darin seinem deutschen Großvater zu Dankbarkeit verpflichtet, dem Schreiner und Chorleiter Julius Feuerriegel, der ihm Hunderte Lieder beigebracht habe und immerhin ein aufrechter Sozialdemokrat gewesen sei.

Mit fünfzehn komponierte Fuster sein erstes Lied, mit siebzehn stürzte er sich in den Kampf gegen die Diktatur. Die Verflechtung von Politik und Musik war nicht ungewöhnlich für die siebziger Jahre, schon gar nicht in und um Valencia, wo gemeinsames Musizieren noch heute weit verbreitet ist. Die geographische wie sprachliche Nähe zu Katalonien erleichterte den Kontakt zu den oppositionellen Liedermachern der Nova Cançó, außerdem stammte mit Raimon einer ihrer bedeutendsten Vertreter aus der Region. Fuster schildert die politische wie künstlerische Aufbruchsstimmung aus der Distanz von vierzig Jahren – seine Erinnerungen sind 2014 erschienen – ohne Verklärung und auch ohne Spott über den eigenen Zickzackkurs, der ihn im jugendlichen Überschwang zuerst zu einer anarchistischen Gruppierung, dann zur Kommunistischen Jugend, schließlich zum FRAP, der »Revolutionären Antifaschistischen und Patriotischen Front«, gebracht hat. Der FRAP war der bewaffnete Arm einer prochinesischen, zuletzt proalbanischen Abspaltung der Kommunistischen Partei, der nach dem tödlichen Attentat auf Luis Carrero Blanco, Francos designiertem Nachfolger, durch die baskische ETA im Dezember 1973 davon überzeugt war, dass »die objektiven Bedingungen für den Beginn eines Volkskrieges gegen den Faschismus« gegeben seien, und durch spektakuläre Aktionen, auch Anschläge auf Polizisten und Angehörige der Guardia Civil, den Sturz des Regimes herbeiführen wollte. Seit langem wird in Spanien nur noch zu Zwecken persönlicher Diffamierung an ihn erinnert. Rechte Politikerinnen und Journalisten zum Beispiel haben in ihrer Kampagne gegen Podemos den Vater von Pablo Iglesias wegen seiner FRAP-Vergangenheit als Terroristen bezeichnet und ihm zu Unrecht den Mord an einem Polizisten angelastet.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass Fuster als 16jähriger von seinem Vater angehalten wurde, an der Enthüllung eines Denkmals für José Antonio Primo de Rivera, den Gründer der Falange, teilzunehmen, dessen Statue er gemeinsam mit einigen seiner Genossen vier Jahre später vom Sockel stürzen sollte. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Angestellter der Deutschen Bank, war aber hauptsächlich damit beschäftigt, den illegalen Propagandaapparat des FRAP in Valencia aufzubauen. Mittels eingeschleuster Agenten und durch Folterungen verhafteter Genossen gelang es der politischen Polizei, seine Identität herauszufinden, er musste deshalb Hals über Kopf aus Valencia fliehen, verbarg sich in der Wohnung seiner ahnungslosen Tanten in Madrid, in der er eine illegale Druckerei einrichtete, bis die Polizei ihm erneut auf die Spur kam und er nach langem Herumirren als musikalischer Botschafter des FRAP durch halb Europa geschickt wurde. In der BRD ging er unter den Fittichen der KPD/ML mit antifaschistischen Liedern auf Tournee und nahm unter dem Pseudonym Pedro Faura zwei Platten auf, »Volver no es volver atrás« und »Manifiesto«. Als er von Westberlin aus, dessen linkes Milieu er als befreiend empfand, einen Tagesausflug in die Hauptstadt der DDR unternehmen wollte, wurde ihm von Grenzbeamten die Einreise verwehrt.

In einem jüngst erschienenen Buch über »Jóvenes Antifranquistas (1965–1975)« hat der Publizist Eugenio del Río die Fehler linksradikaler Organisationen in der Spätphase der Diktatur benannt: die Übernahme und damit die Abhängigkeit von fremden ideologischen Mustern, mit dem daraus resultierenden Verlust an Autonomie; die Tendenz, die politische Realität mit untauglichen ideologischen Konstrukten zu erfassen; die Verteidigung von aus Revolutionen hervorgegangenen Regimen, die sich durch ihren diktatorischen Charakter auszeichneten; die Auffassung, dass politische Gewalt ein akzeptables Mittel zur Veränderung der Gesellschaft sei. Mehr noch als auf das Movimiento Comunista, das Del Río mitbegründet hat, trifft diese Beschreibung auf den FRAP zu, der von seinen Mitgliedern unbedingte Gefolgschaft verlangte – auch dann noch, als nach Francos Tod und dem Beginn einer vorsichtigen Demokratisierung der bewaffnete Kampf vollkommen obsolet geworden war. Fuster bekam das zu spüren, als er mit der Organisation brach. Er musste, noch im Pariser Exil, untertauchen, um nicht als Verräter zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nach der Verabschiedung des Amnestiegesetzes kehrte er Anfang 1977 nach Spanien zurück.

In der Fortschreibung seiner Memoiren bis ins Jahr 1983, als mit der Gründung der legendären Band Suburbano für ihn ein neuer Lebensabschnitt begann, wird deutlich, worin Fusters große Begabung liegt: in der Fähigkeit, auf andere zuzugehen, sie in ihrer Bedeutung zu würdigen, sich ihrer Erfahrungen zu versichern und dabei seine ungebrochen oppositionelle Haltung in Liedern auszudrücken, die unter dem Einfluss der portugiesischen Grupo de Acção Cultural formal immer reichhaltiger geworden waren. Nicht einsam zu arbeiten, sondern im Kollektiv. »Ich bin ein überzeugter Verfechter der Teamarbeit. Ich glaube nicht, dass ich allein arbeiten könnte. Ich brauche den Kontrast zwischen der Kritik von innen und der Ergänzung von außen, die einem einen anderen Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht.«

Ein schlechtes Gewissen, wofür?

Sein Vater, schreibt Bernardo Fuster, habe mit ihm nie über seine Nazivergangenheit geredet. »Und weil er geschwiegen hat, habe ich ihn nicht gefragt.« Das Schweigen zieht sich als heimliches Leitmotiv auch durch Ricardo Duddas Buch, trifft allerdings nicht auf seinen 80jährigen Vater Gernot zu, der dem Ansinnen des Autors, ein Buch über ihn und den deutschen Zweig seiner Familie zu schreiben, durchaus aufgeschlossen war und sich jedes mal freute, wenn ihn sein Sohn in dem wunderlich eingerichteten Haus in El Hoyo besuchte, an einem abgelegenen Strand der Region Murcia, wo Ricardo bis zur Scheidung der Eltern seine Kindheit verbracht hatte. Anders als Fuster hat er nie Deutsch gelernt, ein Umstand, der ihn lange Zeit davon abhielt, das Buchprojekt in Angriff zu nehmen. »Wenn ich in all den Jahren nicht ernsthaft angefangen habe, Deutsch zu lernen, dann nicht aus Faulheit oder Desinteresse, obwohl auch das eine Ursache gewesen sein mag, sondern aus Scham. (...) Ich stellte mir vor, wie ich mich zu einem Deutschkurs anmelde und der Lehrerin die Herkunft meines Nachnamens erklären muss. ›Was, dein Vater ist ein Deutscher, und du fängst mit dreißig Jahren an, Deutsch zu lernen?‹ Diese Scham ist nicht verschwunden, sie lähmt mich aber nicht mehr.«

Während Fuster aus seinen Erinnerungen schöpft, geht Dudda systematisch vor, wie ein Historiker oder Journalist (der er auch ist), er sichtet und liest mit Hilfe von Google Lens, Deepl oder einem professionellen Übersetzer Dokumente, Briefe und zeitgeschichtliche Werke, betrachtet Fotos und Videofilme, reist in das westpreußische, nunmehr polnische Elbing/Elbląg, von wo der vierjährige Gernot mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder im Jänner 1945 nach Westen geflüchtet ist. Die traumatischen Umstände dieser Flucht drängen den Autor zu der heiklen Frage, ob es »fast hundert Jahre nach dem Krieg notwendig ist, auf das Ausmaß und die Greuel der Naziverbrechen hinzuweisen, sooft man die Kriegsverbrechen der Alliierten kritisiert«. Er erörtert dieses Problem am Beispiel des sowjetischen Torpedoangriffs auf die »Wilhelm Gustloff«, bei dem mindestens 4.000 Flüchtlinge ums Leben kamen. Ein Ereignis, das in der Familiengeschichte lebendig blieb, weil Ricardos Großmutter mit ihren Söhnen im letzten Moment davor zurückgeschreckt war, an Bord zu gehen, und die Flucht statt dessen zu Fuß fortgesetzt hatte. »Ich weiß nicht, warum ich mir diese Frage stelle. Wenn ich schreibe, dass die Versenkung der ›Wilhelm Gustloff‹ ein Kriegsverbrechen war, habe ich das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss. Aber die Beteuerung, dass in Wahrheit Hitler an der Katastrophe schuld war, kommt mir wie ein Gemeinplatz vor, der nur dazu dient, mir mein schlechtes Gewissen zu nehmen. Obwohl: Was für ein schlechtes Gewissen? Fühle ich mich schuldig? Wofür?«

Eine Frage, die den Autor einholt, als er sich auf die Spur seines deutschen Großvaters setzt, dessen Vornamen er trägt: Richard Dudda starb lange vor Ricardos Geburt. Er hatte bis 1939 in Elbing seinen Dienst als Schupo versehen, ehe er nach dem deutschen Überfall auf Polen mobilisiert wurde. In einem Lebenslauf aus dem Jahr 1951 machte er nur dürftige Angaben über seine Kriegsjahre: dass er 1942 in Berlin drei Monate lang einen Fortbildungskurs für Polizeibeamte besucht habe, im April 1943 zum Polizeihauptmann befördert und im Juli 1943 der Polizeifahrschule in Wien zugeteilt worden sei, wo er bis Kriegsende gedient habe. Viel mehr erzählte er auch seiner Familie nicht, die er nach Kriegsende in der Ortschaft Plötzkau, in Sachsen-Anhalt, wiedergetroffen hatte. Nur die vage Schilderung eines Zwischenfalls an der Ostfront ist Gernot in Erinnerung geblieben, sein Vater als Kommandant eines Panzers, der auf eine Mine auffährt: zwei Kameraden tot, er selbst kommt mit einer Kopfwunde davon.

Am Holocaust beteiligt

Aufgrund dieser widersprüchlichen Angaben nimmt sich der Autor den Polizeidienstpass seines Großvaters vor und findet darin kaum lesbare Einträge, die er mit der Leselupe seines Vaters entziffert: »Bandenbekämpfung, Kampfgruppe Jeckeln, Unternehmen Heinrich, Unternehmen Otto«. Aus der einschlägigen Literatur erfährt er, dass die dem Befehl des SS-Obergruppenführers Friedrich Jeckeln unterstellten Polizei- und SS-Einheiten Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion verübt haben. Damit steht fest, »dass mein Großvater nicht einfach nur ein Polizist des Dritten Reiches, sondern in den Jahren 1943 und 1944 am Holocaust in Belarus, Russland, Lettland und Litauen beteiligt war«. Als Ricardo Dudda es nach langem Zögern wagt, seinen Vater mit dieser Erkenntnis zu konfrontieren, reagiert Gernot nicht, wie befürchtet, mit Trotz oder Ablehnung. Jetzt verstehe er, warum sein Vater nie über den Krieg geredet habe. Er fragt Ricardo, ob er diese verschwiegene Geschichte in seinem Buch zur Sprache bringen werde. Ricardo nickt. »Gut. Aber ich möchte nicht als der Sohn von jemandem in Erinnerung bleiben, der solche Dinge getan hat.«

Diese Befürchtung erweist sich schon deshalb als unbegründet, weil Ricardo Dudda seinem Protagonisten mit großer Empathie begegnet. Er verschweigt nichts von dem, was er im Lauf ihrer Gespräche in Erfahrung bringt, und wahrt doch Diskretion, durch die behutsame Art seines Erzählens, das nicht der Chronologie der Ereignisse folgt, sondern aus der Gegenwart Brücken in die Vergangenheit schlägt. Das gilt auch für Gernots Flüchtlingsgeschichte, die einen großen Teil des Buches einnimmt; immerhin umfasst sie sieben Jahre, wenn man in Betracht zieht, dass Plötzkau für die Familie Dudda nur eine Zwischenstation war: Dort war Richard im Juni 1945 wieder in den Polizeidienst aufgenommen worden, den er unter der sowjetischen Besatzung auch in Nienburg versah, bis er drei Jahre später entlassen wurde – offenbar, weil die Behörden seine Mitwirkung an den Naziverbrechen entdeckt hatten. Um der Verhaftung zuvorzukommen, floh er mit Frau und Kindern im Februar 1949 nach Westdeutschland. Drei Jahre in Lagern und Notquartieren, dann galt Richard Dudda als entnazifiziert. Die Familie ließ sich in Essen nieder, wo er bis zu seiner Pensionierung als Polizist tätig war.

Sein älterer Sohn arbeitete nach der mittleren Reife und einer Lehre zum Industriekaufmann in einem großen Elektrotechnikunternehmen, bevor er 1963 die Gelegenheit ergriff, bei Berlitz in Burgos als Deutschlehrer einzuspringen. In der spanischen Provinzhauptstadt eröffneten sich ihm eine neue Welt, eine neue Sprache, bald auch neue berufliche Aufgaben, im Exporthandel und in der Werbung, und ein bewegtes Privatleben, das der Autor weitgehend ausspart. Auch über Gernots politische Einstellung erfährt man außer harmlosen Anekdoten nichts; offenbar stellte er sich auf den Standpunkt, als Kaufmann müsse man sich mit den Verhältnissen arrangieren. Aber das würde bedeuten, dass er nichts aus der eigenen Flucht- und Familiengeschichte gelernt hat. Darauf deutet auch seine Vorliebe für Helmut Kohls Satz von der Gnade der späten Geburt hin, den Richard Dudda nicht gelten lässt: »Die Schuld ist nicht erblich? Nun, da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht ist es die Verantwortung, die nicht erblich ist; die Sache mit der Schuld ist viel komplizierter.«

Der andere Tote

Am 2. März dieses Jahres hat sich ein Ereignis zum fünfzigsten Mal gejährt, das als Symbol für die Justizverbrechen des Franco-Regimes gelten kann. Ich meine die beiden letzten Todesurteile, die mit der Garrote vil, dem Würgeeisen, vollstreckt wurden. Während einer der Hingerichteten, der junge Anarchist Salvador Puig Antich, bis heute unvergessen ist, wusste man vom andern jahrelang nicht mehr, als dass er Heinz Ches oder, in der spanischen Schreibweise, Chez hieß, ein staatenloser, in Stettin (heute Szczecin) geborener Pole war und auf einem Campingplatz bei Tarragona anscheinend grundlos einen Angehörigen der Guardia Civil erschossen hatte. Ohne zu ahnen, dass seine und ihre doppeldeutsche Lebensgeschichte einander berührten, widmete ihm die Schriftstellerin Helga M. Novak von Portugal aus die »Ballade von einem nach dem kein Hahn kräht«: »dreitausend Spanier sind losgezogen/ um den Studenten Puig Antich zu beerdigen/ wer begleitete den anderen?/ nach dem kräht kein Hahn/ Heinz Chez hieß er und war Pole«. Drei Jahre später brachte die katalanische Theatergruppe »Els Joglars« die dramatische Farce »La Torna« (Die Aufrundung) zur Aufführung, in der sie, immer noch im Unwissen um seine wahre Identität, anhand der bestialischen Hinrichtung Heinz Chez’ den Militär- und Justizapparat Spaniens einer beißenden Kritik unterzog. Daraufhin wurden vier Mitglieder der Gruppe von einem Kriegsgericht zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt und erst nach Aufhebung der Theaterzensur freigesprochen.

Aber nicht das Aufsehen um diesen Skandal, sondern die zufällige Lektüre eines Buches über »Henker und Folterer« des Schriftstellers Juan Eslava Galán bewog den Journalisten und Filmemacher Raúl Riebenbauer Mitte der neunziger Jahre, den Fall zu recherchieren. Im Zuge seiner minutiösen und mit wachsender Leidenschaft betriebenen Nachforschungen fand Riebenbauer heraus, dass es sich bei dem vorgeblichen Polen um den ehemaligen DDR-Bürger Georg Welzel handelte, einen Maschinenschlosser aus Cottbus, der nach drei gescheiterten Republikfluchten und einem Selbstmordversuch im Mai 1972 von der BRD freigekauft wurde, dort den Kontakt zu seinen Angehörigen abbrach – er hatte in Cottbus seine Lebensgefährtin und drei Kinder zurückgelassen – und am 12. Dezember desselben Jahres mit einem gestohlenen Reisepass in Spanien einreiste. Warum er tags darauf in Barcelona einen Guardia Civil durch einen Pistolenschuss schwer verletzte, sechs Tage später bei Tarragona einen anderen mit einer Schrotflinte erschoss, vermochte Riebenbauer nicht zu ergründen; Welzel hatte weder im Verhör noch gegenüber seinen Pflichtverteidigern das Tatmotiv preisgegeben. Dass er nicht der war, der er zu sein vorgab, hatte die spanische Polizei schon wenige Tage nach der Festnahme durch Abgleich der Fingerabdrücke von Interpol erfahren. Trotzdem hielt sie seine Identität geheim, um dem Regime diplomatische Verwicklungen mit der BRD zu ersparen; diesem lag daran, den politischen Justizmord an Puig Antich durch die zeitgleiche Hinrichtung eines gewöhnlichen Kriminellen zu verschleiern.

»El silencio de Georg« ist dreimal erschienen: 2005, 2013, in der endgültigen Fassung 2021. Die wiederholte Niederschrift war der Tatsache geschuldet, dass Riebenbauer immer neue Quellen erschloss, Zeugen ausfindig machte, die vom Militärgericht erst gar nicht befragt worden waren, zuletzt auch Welzels Geschwister in Cottbus traf, denen er endlich Gewissheit über das tragische Ende seines Protagonisten verschaffen konnte. Gemeinsam mit ihnen suchte er dessen anonyme Grabstelle am Armenfriedhof von Tarragona auf. Beim Versuch, ein mitgebrachtes Eisenkreuz mit dem Namen und den Lebensdaten des Toten, 1944–1974, in die Erde zu rammen, brach ein Seitenarm ab. Es war, als wollte sich Welzel noch postum gegen die Aufdeckung seiner Identität wehren.

Es ist nicht so sehr die detaillierte Darstellung der Verfahrensmängel, diese schier unfassbare Kombination aus Nachlässigkeit, Konformismus und Niedertracht der mit dem Fall betrauten Polizeibeamten, Richter, Anwälte und Minister, die einem die Lektüre des Buches unvergesslich machen, sondern die Hartnäckigkeit des Verfassers, der in seiner Wahrheitssuche an der Unterscheidbarkeit von Schuld und Unschuld zu zweifeln begann und zehn Jahre lang mit nichts anderem beschäftigt war, als einem Menschen gerecht zu werden, der dieses Ansinnen wahrscheinlich gar nicht gebilligt hätte. Auf der gemeinsamen Fahrt zum Campingplatz, auf dem Welzel in ihrer Gegenwart den ahnungslosen Gendarmen erschossen hatte, fragte die Niederländerin Netty van Hoorn den Autor, warum er »von dieser Geschichte so besessen« sei.

»Ich habe mir diese Frage oft gestellt«, erwiderte er, »aber ich weiß immer noch nicht, was mich eigentlich antreibt. Mir ist klar, dass ich eine Zeitlang seine Unschuld beweisen wollte. Inzwischen befürchte ich, dass er den Mord tatsächlich begangen hat.«

»Er war nicht unschuldig.«

»Vielleicht will ich auch herausfinden, was bei ihm alles schiefgelaufen ist. Okay, er war ein Mörder, aber jeder von uns könnte einer sein. Es müssen nur die entsprechenden Umstände vorhanden sein.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Ich bin davon überzeugt.«

Kein Zufall

Eine fragwürdige, ja hausbackene Überzeugung, die des Autors, ebenso strittig wie seine Vermutung, dass die Lebensumstände in der DDR Welzels unbändigen Freiheitswillen so sehr beschädigt hatten, dass ihm sein Leben nachher, im Westen, gänzlich entglitt. Aber selbst wenn man dieser These folgte, würde sie noch nicht die von der Tatzeugin erkannte Identifizierung des Autors mit seinem Helden erklären. Dabei legt Riebenbauer ohnehin eine Spur, indem er die Verhältnisse in der Familie Welzel schildert – ein Vater, der in den Westen abhaut, und eine überforderte Mutter, die den Jungen zeitweise in ein Kinderheim steckt. Welzel selbst, der das Verhalten seines Vaters als Erwachsener wiederholt und die Scham darüber mit Aggression abtöten will. Und Riebenbauer, der an einer Stelle erwähnt, dass sein eigener Vater Frau und Kinder »eines Mittags« einfach verlassen habe – eine verstörende, jahrzehntelang nachwirkende Erfahrung, die übrigens der Grund dafür war, dass der Autor den Vaternamen Montesinos zuerst zum Kürzel reduziert, dann überhaupt aus seinem Namen getilgt hat. Kein Zufall also, dass Raúl Riebenbauer erst infolge seiner Beschäftigung mit Welzels Biographie fähig war, sich mit seinem leiblichen Vater auszusöhnen. Er hat darüber einen bewegenden Kurzfilm gedreht, »Yo fui Anderssen« (Ich war Anderssen), der in vierzehn Minuten den vorläufigen Schlusspunkt hinter Schuld und Schweigen setzt.

Bernardo Fuster: El contador de abejas muertas. Memorias de un músico clandestino. Varasek Ediciones, Madrid 2014, 270 Seiten; Ricardo Dudda: Mi padre alemán. Libros del Asteroide, Barcelona 2023, 213 Seiten; Raúl Riebenbauer: El silencio de Georg. La verdadera historia de Heinz Ches, ejecutado el mismo día que Salvador Puig Antich y borrado de la memoria colectiva. Editorial La Vorágine, Santander 2021, 359 Seiten

Erich Hackl schrieb zuletzt an dieser Stelle am 1. Juli 2023 über den KZ-Häftling Valentin Gelber.

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