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Aus: Ausgabe vom 16.03.2024, Seite 12 / Thema
Antisemitismus und Holocaust

Notwendige Aufklärung

»Kommen die Juden weg, weil sie böse Menschen sind?« Ein Kinderbuch gegen Antisemitismus
Von Helmut Donat
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Harry zweifelt an der antisemitischen Propaganda. Es muss nicht alles wahr sein, was Lehrer und Fähnleinführer sagen (Illustration aus dem Buch)

Vor kurzem sind an Schulen in Bremen und Bremerhaven 5.000 Exemplare sowie an Schulen in Berlin 10.000 Exemplare des Kinderbuches »Das Mädchen aus Harrys Straße« kostenfrei geliefert worden. Es richtet sich an Kinder ab zehn Jahren und soll über Antisemitismus und Judenhass aufklären. Der Verlag hat dazu von Studienrätin Annette Lienhard aus Freiburg eine Unterrichtseinheit und Arbeitsmaterialien erstellen lassen, die den Schulen ebenfalls kostenlos zur Verfügung steht. Eine ungewöhnliche Initiative, die der Bremer Beate-und-Hartmut-Schaefers-Stiftung zu verdanken ist, die das Vorhaben großzügig gefördert hat.

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Für Hartwig Struckmeyer (1934-2024)

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»Es sind Menschen wie wir. Von mir aus können sie bleiben« – das sagt der Vater des zehnjährigen Harry, als die Familie stumm und ohnmächtig zusehen muss, wie im Sommer 1942, inmitten des Zweiten Weltkrieges, immer mehr Familien aus ihrer Straße über Nacht verschwinden. Eine Aussage, die angesichts der geheimen »Remigrations«-Konferenz in Potsdam aktueller nicht sein könnte. Auch in unserer Gesellschaft sind Diskriminierungen von Minderheiten und Ausgrenzungen an der Tagesordnung. In der Flüchtlingsdebatte ist die Ablehnung von Menschen, die in unserem Land um Hilfe suchen, besonders hervorgetreten. Statt ihre Lage, von Krieg, Elend und Ausweglosigkeit geprägt, zu verstehen, rückten Fehlinformationen und sogenannte Fake News in den Vordergrund, die den eigentlichen Kern unseres Seins, die Vielfalt des Lebens und die Menschlichkeit an sich, lautstark übertönen. Hinzu kommt, dass der Antisemitismus und Rechtsradikalismus in den vergangenen Monaten und Jahren erheblich zugenommen hat.

Harry lebt mit seinen Eltern in der Christburger Straße im Winsviertel des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg. Der Krieg, von deutschen Truppen tief in die Länder der Gegner getragen, schlägt inzwischen auf die Hauptstadt zurück. Die Bombardements der Alliierten nehmen immer mehr zu. Wenn die Sirenen Alarm schlagen, muss sich die Familie Kleinfeld im Keller in Sicherheit bringen. Als Harry eines Tages nach einem nächtlichen Luftangriff mit seinem Freund Klaus vom Bombensplittersammeln auf dem Heimweg ist und er die ausgetretenen Stufen eines Berliner Mietshauses emporsteigt, hört er plötzlich einen Schrei. Es poltert, und zu seinen Füßen liegt Miriam – jenes dunkeläugige, zierliche und schüchterne Mädchen, das im Haus seines Freundes wohnt und gerade gestürzt ist.

Fragen stellen

Sie will nicht, dass er ihr hilft, rappelt sich auf und drückt sich humpelnd an ihm vorbei. An ihrem Kleid entdeckt er einen leuchtend gelben Fleck. Es ist ein sechszackiger Stern, auf dem das Wort »Jude« steht. Harry erschrickt. Er weiß: Es ist doch verboten, mit solchen Menschen zu sprechen! Aber er hat Miriam schon vor ihrer Begegnung beobachtet und bewundert sie heimlich, möchte sie zur Freundin haben. Fortan ist Harry mit einem Problem konfrontiert. Je mehr er die verschiedenen Stimmen, sei es in der Schule, vom Fähnleinführer und Jungvolk oder von seinen Eltern vernimmt, um so kräftiger reift in ihm der Entschluss: Er will Miriam beschützen und retten.

Von seinem Freund erfährt er, dass die Juden in Arbeitslager gebracht werden. Harry will mehr erfahren. Seine Mutter möchte nicht darüber reden, der Vater deutet an, den Juden stünde vielleicht noch Schlimmeres bevor als der Aufenthalt in einem Lager. Harry fällt auf, wie bedrückt sein Vater ist, als er sagt: »Sie haben sie direkt aus der Fabrik geholt. Einfach abtransportiert wie das Vieh.«

Die Begegnung mit dem jüdischen Mädchen macht ihn neugierig. »Kommen die Juden weg, weil sie böse Menschen sind?« will er wissen. Streng antwortet die Mutter: »Frag im Jungvolk! Und nun Schluss damit!« Harry beginnt zu überlegen: Soll Miriam sein Feind sein, wie man es ihm in der Hitlerjugend beigebracht hat? Er beschließt, Miriam Wasserstein, das jüdische Mädchen aus seiner Straße, vor der Verfolgung zu retten. Er sucht nach einem Versteck, stiehlt für sie.

Verfasser der Geschichte von Harry und Miriam ist Sigmar Schollak (1930–2012), der wie sein Freund Günter Kunert am Prenzlauer Berg groß geworden ist. Während der Nazizeit lebte die Familie wegen des jüdischen Glaubens des Vaters unter ständiger Schikane und Bedrohung. Er selbst schreibt im Vorwort: »Vieles, was im Buch steht, hat der Autor selbst erlebt (…). Deshalb wird er sehr zornig, wenn Menschen wegen ihrer Religion und Hautfarbe angegriffen werden.«

Nach einer kaufmännischen Lehre und einem Studium als Musiker war Schollak als Autor für Zeitschriften, Rundfunksender und Verlage (Hörspiele, Essays, Prosatexte) tätig. Seinen Antrag auf Ausreise quittierten die DDR-Behörden mit einem Veröffentlichungsverbot. 1982 siedelte er schließlich von Ost- nach Westberlin über. Bis 1997 war er Leiter des von ihm gegründeten Autorenkreises der Bundesrepublik.

»Das Mädchen aus Harrys Straße« ist erstmals 1978 im Kinderbuchverlag Berlin (DDR) erschienen. Eine niederländische Ausgabe brachte 1983 der Verlag Zwijsen in Tilburg heraus. Im Jahre 1992 legte es der Elefanten-Press-Verlag in Berlin wieder auf. Das Ministerium für Unterricht und Kunst in Österreich hat Schollaks Erzählung 1993 mit folgender Begründung in die »Liste empfehlenswerter Bücher« aufgenommen und für den Unterricht empfohlen: »In knapper und eindringlicher Sprache werden Momentaufnahmen aus dem Berliner Alltag im Jahre 1942 gebracht, in denen ein Zehnjähriger begreift, dass nicht alles wahr sein muss, was Eltern, Lehrer, Fähnleinführer und Freunde sagen.«

Seit 1998 vergriffen, kam das Buch 2011, angeregt von Günter Kunert und mit einem neuen Schluss des Autors, im Donat-Verlag wieder heraus (mit Zeichnungen von Sabine Jaene und einem Nachwort von Ralph Giordano).

Schollaks Geschichte gibt viel von der Atmosphäre in der Nazizeit wieder. Anschaulich ist Harry beschrieben, der durch seine Zuneigung beginnt, Fragen zu stellen und genauer hinzuhören, wenn ihm jemand etwas erzählt. Er stellt fest, dass sich in den Behauptungen der Erwachsenen Angst, Gleichgültigkeit und Unwahrheiten verbergen. »Wie denn«, überlegt Harry, »was hat der Fähnleinführer ihm gestern erklärt? Alle Juden sind Verschwörer, behauptete er doch. Auch, dass sie alle zusammenhalten. Aber wenn das stimmte, dann müssten die Juden den Engländern doch das Bombenwerfen verbieten. Das dürft ihr nicht, müssten sie sagen. So eine Bombe könnte die Miriam Wasserstein treffen oder ihre Eltern.«

Harry begreift, dass die »Sache mit der Verschwörung ganz dumm erlogen ist, denn wenn die Juden so mächtig sind, wie alle sagen, würden die Engländer gewiss auf sie hören«. Also versucht Harry zu helfen, wie es ihm als Zehnjährigem möglich ist. Die einfühlsamen, von Anna Schilling geschaffenen Zeichnungen, mit wenigen Strichen farbenreich, aber dezent und ausdrucksstark illustriert, unterstützen und ergänzen die Plastizität der Geschichte vortrefflich.

Radikal kindsubjektiv

Die wohl beste Einschätzung des Buches hat Ullrich Reuter von der »Gedenkstättenpädagogik Bayern« gegeben. Er schreibt: »›Das Mädchen aus Harrys Straße‹ von Sigmar Schollak (…) stellt einen der vielleicht einfühlsamsten Texte für die Erstbegegnung von Kindern mit dem Thema ›Judenverfolgung‹ dar. Die Perspektive bleibt radikal kindsubjektiv. Dabei wird das Wesentliche, die Inhumanität im Alltag, für den ›kleinen Leser‹ deutlich. Das Buch verzichtet auf dramatische und beängstigende Situationsschilderungen, sondern gibt vor allem die Gedanken und Gefühle eines Jungen wieder, die ihm angesichts der Widersprüchlichkeiten und Menschenverachtung des Naziterrors in den Sinn kommen. Sein vermeintlich ›kleiner‹, aber um so bedeutsamerer Akt des Widerstands (er klaut aus Mutters streng gehüteter Sammlung einige Lebensmittelmarken, um sie heimlich Miriam und ihrer Familie zuzustecken; außerdem bereitet er ein Versteck für das Mädchen im Keller des Miethauses vor) macht Mut und erleichtert eine positive Identifikation mit dem ›Helden‹ des Buches, auch wenn seine Unterstützungsversuche letztlich erfolglos bleiben. Die Sprache ist durchaus kindgerecht (…). Die Erzählung ist in kurze Kapitel untergliedert, so dass überschaubare Einheiten erlesen werden können.«

Um Missverständnissen und Leseschwierigkeiten zu begegnen, ist dem neuen Buch am Ende ein Glossar hinzugefügt, in dem Begriffe und Worte, die heute von Kindern mit Migrationshintergrund nicht einfach zu verstehen sind, erklärt werden.

Was Harry tut, ist – gestern wie heute – in besonderer Weise von Bedeutung. Bei ihren Berichten als Zeitzeugin vor Schulklassen erinnerte die bis Ende 1938 in Berlin lebende Sonja Sonnenfeld (1912–2010) stets an ein Ereignis aus der Zeit nach 1933: Propagandaminister Joseph Goebbels fuhr in einem Auto durch die Hauptstadt und verkündete über ein Megaphon: »Deutsche, hört auf zu denken! Der Führer denkt für euch!« Sonnenfelds Kommentar dazu: »Und die Deutschen hörten auf zu denken! Denn wie sonst wäre der Holocaust möglich gewesen?!« Harry tut das, was viele Deutsche nicht taten: Er fängt an zu denken, stellt das Gerede über die Juden um ihn herum in Frage.

Statt den Vorurteilen folgt er seiner eigenen Wahrnehmung, verlässt sich auf das, was er selbst sieht, und erkennt, wie die Dinge wirklich sind. Er steht beispielhaft dafür, dass es darauf ankommt, auf das jedem Menschen innewohnenden Urteilsvermögen zu vertrauen und es weiter auszubilden. Sein Appell an die Schüler lautet wie der von Sonja Sonnenfeld: »Denkt selber! Greift ein! Lieber einmal mehr als einmal zu wenig!«

Fehlende Auseinandersetzung

Den Antisemitismus wirksam bekämpfen heißt, möglichst früh damit anfangen. Vorurteile werden nicht mit der Muttermilch eingesogen, sondern anerzogen und sind das Produkt von stets neu verbreiteten Falschinformationen. Die Schulen sollten, indem sie den Antisemitismus und Judenhass mit Kindern ab zehn Jahren thematisieren und behandeln, einen wichtigen Beitrag dazu leisten, deutschvölkisches und judenfeindliches Denken als menschenfeindlich zu erkennen und zurückzuweisen.

Ob es in den nächsten Jahren gelingen wird, den Antisemitismus, Rechtsextremismus sowie die erschreckende Zunahme der Gewaltmentalität wirksam zurückzudrängen, hängt nicht zuletzt davon ab, wodurch man die drei aufs engste miteinander verbundenen Übel verursacht sieht. Für die tiefer liegenden Gründe des Hasses und des Denkens in Freund-Feind-Kategorien findet man in der Regel keine Erklärung, oder sie werden erst gar nicht ins Blickfeld gerückt. Wenn man zum Beispiel den Judenhass bei Muslimen besonders hervorhebt, erfasst man lediglich einen Teilaspekt und lenkt vom eigentlichen Kern des Problems ab. Denn der Antisemitismus ist vor allem in der deutschen Gesellschaft seit langem verbreitet und in allen gesellschaftlichen Gruppen vorhanden.

Ähnliches gilt für den Verweis auf die AfD. Zweifellos hat ihr Zulauf mit der Flüchtlingskrise zu tun. Keineswegs aber ist es zwangsläufig, dass Menschen sich in Krisenzeiten nach rechts orientieren und Verschwörungsmythen zuwenden. Auch der Hinweis, dass der Rechtspopulismus ein gesamteuropäisches Problem darstelle und in allen europäischen Ländern voranschreite, dient der Entlastung. Es ist nun einmal ein großer Unterschied, ob es antisemitische und rechtsextreme Einstellungen in Frankreich oder Belgien gibt oder ob es um das Land geht, in dem der Holocaust stattgefunden hat.

Wer Geschichte auf die leichte Schulter nimmt und glaubt, sie habe sich erledigt, erkennt nicht die Tiefe der Spuren, die sie hinterlässt – nicht zuletzt in der Mentalität und den Charakteren der in sie verwobenen Beteiligten und Nachfahren. Offenbar ist die Neigung dazu in Deutschland sehr ausgeprägt. Es dürfte eine Binsenweisheit sein, dass die deutsche Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend eine hasserfüllte gewesen ist. Dennoch kommt niemand auf die Idee, sich diesen Tatbestand zu vergegenwärtigen und bei der Suche nach einer Antwort zu berücksichtigen.

Die Deutschen sahen sich mit und nach dem 8. Mai 1945 vor eine Aufgabe gestellt, der sie zuvor nie gegenübergestanden hatten. Neben den materiellen Schäden und Verlusten galt es, sich auch den moralischen Verheerungen zu stellen – auch und nicht zuletzt in ihnen selbst. Die Überlebenden waren Teil eines Volkes, das in seiner großen Mehrheit die Naziherrschaft unterstützt, mitgetragen, hingenommen und eine Rebarbarisierung der Politik zugelassen hat, die in einem eklatanten Gegensatz zu den Traditionen eines humanen und übernational organisierten Deutschland stand und der Welt unermessliches Leid zufügte. Welche Schlussfolgerungen zogen sie daraus als Angehörige einer Nation, die offensichtlich einen Irrweg eingeschlagen hat, der im 20. Jahrhundert beispiellos ist?

Ungerührte Mehrheit

Allzu vordergründig haben die Deutschen in ihrer großen Mehrheit spätestens seit 1948/49 so getan, als seien die Nazis nicht aufs engste mit ihnen verbunden gewesen und als hätte man mit ihnen nie oder nur am Rande etwas zu tun gehabt. Man lehnte es ab, sich mit dem Nazifaschismus als Teil der deutsch-völkischen Bewegung auseinanderzusetzen und den Anteil daran in den eigenen Reihen oder Familien zu ergründen.

Von besonderer Bedeutung sollte sich der Umgang mit den Opfern und Tätern erweisen. Nicht zu Unrecht spricht man davon, dass die Bundesrepublik starke Züge einer »Tätergesellschaft« aufweise. Die Tatsache, dass die Opfer bei Entschädigungsverfahren über Jahrzehnte hinweg in der Regel leer ausgingen, während die Täter bei ihrem Berufseintritt sogar noch Vergünstigungen erhielten, stellte eine weitreichende Belastung dar und erschwert in ihren generationsübergreifenden Folgen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem Rechtsextremismus und Antisemitismus in einem bislang nicht oder kaum bewussten Maße.

Die Geschichte des Holocaust ist in Deutschland immer auch Familiengeschichte. Keine Familie ist davon unberührt geblieben. Für die Zeit nach 1945 gilt: Viele Kinder profitierten – ohne selbst etwas dafür zu können – von den durch Fehl- oder verfälschende Entscheidungen zum Beispiel bei Entnazifizierungsverfahren zuerkannten Vergünstigungen bei Rentenzahlungen an Witwen von Nazitätern und -mittätern. Noch nie hat man davon gehört, dass auch nur ein Kind, dessen Lebensweg dadurch leichter gewesen ist, je daran gedacht hat, die Opfer oder deren Kinder an ihrem Vorteil teilhaben zu lassen!

Ausgeblendet worden ist spätestens seit 1948/49, was sich in der deutschen Geschichte und Politik bereits lange vor 1933 an menschenverachtenden, rechtsextremen und rassistischen Einstellungen, Mentalitäten und Übergriffen nachweisen lässt. Alles ist der Zeit nach 1933 und allein dem »Dritten Reich« zugeordnet worden. Ansonsten ging man zur Tagesordnung über, sonnte sich im Wirtschaftswunder und verharrte in der »Unfähigkeit zu trauern«. Statt den Blick in die Tiefenschichten deutscher Verirrung zu richten, redete man sich heraus, produzierte neue Legenden, übernahm alte bedenkenlos und leichtfertig oder stutzte sie der Zeit gemäß zurecht – und projizierte damit alles, was für die deutsche Politik seit 1871 kennzeichnend geworden ist, auf den »Dämon« Hitler, auf das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, auf das Ausland, das den »Dämon« nicht an der Durchführung seiner Politik gehindert habe, auf die »extremistischen« Parteien, auf den Versailler Vertrag oder den Kapitalismus und Imperialismus schlechthin, auf die Schwäche der menschlichen Natur, die Zivilisation oder die europäische Kultur im allgemeinen. Von Eigen- oder Mitverantwortung keine Spur. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, so verdrängte man nach dem Zweiten Weltkrieg, was den anderen Völkern angetan worden war und welche Schuld man damit auf sich geladen hatte.

Die vielfach beschworene und gerühmte »Erinnerungskultur« ist nicht Ausdruck eines erklärten Willens großer Teile der Bevölkerung, sondern einer Minderheit, die vielfach ehrlich und engagiert dafür gestritten hat, den Nazifaschismus durch Erforschung und Aufklärung, Veranstaltungen und Gedenkdemonstrationen zu überwinden. Je mehr sie eine vermeintliche Deutungshoheit errang und die politischen Ordnungshüter sie akzeptierten, desto weniger nahm man sich der Warnungen an, dass große Teile des Volkes davon unberührt geblieben sind und das rechtsradikale Wählerpotential über Jahrzehnte hinweg überdauert hat.

Bereits die 1981 veröffentlichte »Sinus-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen« gelangte zu dem Ergebnis: »13 Prozent aller Wähler in der Bundesrepublik verfügten über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild.« Im Lande des Holocausts hätte das »grenzenloses Erstaunen« auslösen müssen. Das Gegenteil war der Fall. Einerseits wurde die Studie in einer Weise attackiert, die nichts zur Erhellung der Tatsache beitrug, dass sich nationalistisch-rassistisches Gedankengut in nennenswertem Umfang bis in die 1980er Jahre gehalten hat. Anderseits reagierte die überwiegende Öffentlichkeit mit einer Teilnahmslosigkeit, die ebenfalls wenig Sinn für eine »Bewältigung« deutscher Vergangenheit offenbarte.

Das 1996 erschienene Buch »Die Verharmloser. Über den Umgang mit dem Rechtsradikalismus« von Conrad Taler erwies sich als grandioser Flop, obwohl Harry Pross dazu ein aufrüttelndes Geleitwort beigesteuert hat, in dem er – mit Blick auf den Rechtsradikalismus – von dem »Syndrom der verschleppten Krankheit eines ethnisch begründeten Deutschnationalismus« spricht. Er endet mit den Worten: »Ein demokratisch vorbildlicher deutscher Richter, Richard Schmid, schrieb 1979 zu seinem 80. Geburtstag, Rückfälle in vordemokratische Zeiten seien nicht auszuschließen: ›Charaktereigenschaften haben eine gewisse Konstanz, auch bei Nationen. Rückfällen vorzubeugen scheint mir immer noch der Mühe wert.‹ Voilà tout.«

Verharmlost und beschwiegen

Die Mahnung fand kein Echo. Journalisten wie Politiker hielten sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – für überholt. Die »Schwamm drüber«- und »Schlussstrich«-Mentalität, die unbeschadet aller Verdammungsurteile gegenüber dem Faschismus immer mehr um sich griff und gegen die sich Talers Buch richtete, schritt weiter fort. Es ist nicht zu übersehen, dass eine der wesentlichen Ursachen des Erstarkens des Antisemitismus, des Rechtsradikalismus und des Gewaltdenkens deren Verharmlosung in Politik, Wirtschaft, Justiz und Publizistik ist. Statt das damalige »Heil Hitler« in der Bundeswehr oder das »Ausländer raus«, vom Bundesverfassungsgericht als nicht ohne weiteres strafbar erklärt, ernst zu nehmen, hat man die dem Rechtsradikalismus und Antisemitismus innewohnenden Gefahren heruntergespielt.

Mehr noch. Die zunehmende Gewaltmentalität und -bereitschaft in der Mitte der Gesellschaft sowie die Warnungen des Soziologen und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer vor einem »autoritären Nationalradikalismus« haben nicht dazu geführt, sie zu einem vorrangigen Thema zu machen. Um so trotziger und vollmundiger erklärten hauptamtliche Vertreter der politischen Bildung sowie führende Politiker, die Deutschen hätten die Lektion aus ihrer Geschichte gelernt. Wer der gouvernementalen Leitlinie nicht folgte und ihr widerspricht, wurde und wird ignoriert. Stets weichen sie der Frage aus, ob es sich bei dem Rechtsradikalismus und Antisemitismus um eine Folge unbewältigter Nazivergangenheit und der mit ihr verbundenen deutschvölkischen Traditionen handelt – und welchen Anteil sie selbst an deren Fortwuchern haben.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verfügte die Deutsche Friedensgesellschaft über etwa 10.000 Mitglieder. Sie wandten sich gegen die »Macht geht vor Recht«-Politik der herrschenden Kreise, traten statt dessen für »Friede durch Recht« ein und sprachen sich für schiedsgerichtliche Lösungen bei internationalen Streitigkeiten aus. Die Zahl der Angehörigen in nationalistisch-militaristischen Verbänden belief sich auf 3.260.000 Mitglieder. Für sie stellte der Krieg nicht nur eine selbstverständliche Option dar, sondern auch eine »Kulturerrungenschaft«. Im Vergleich zu denen, die bei der Lösung von Konflikten für die Gewalt plädierten, machten diejenigen Kreise, welche sich für eine friedliche Verständigung engagierten, 0,003 Prozent aus. Was den Zeitraum 1918 bis 1933 betrifft, dürfte die Gewaltmentalität, wie die zahlreichen politischen Morde offenbaren, sogar noch zugenommen haben. Das erklärt auch, warum so viele Deutsche nach 1933 den Grundsatz »Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne!« hinzunehmen bereit waren, ihm gefolgt sind und sich daran beteiligten, ihn an lebenden Objekten zu verwirklichen.

Eine Auseinandersetzung mit ihrer Gewaltbereitschaft ist von den Deutschen nach 1945 kaum geleistet worden. Vielmehr stand deren Rechtfertigung im Vordergrund. Dass man die Warnungen Heitmeyers jahrzehntelang in den Wind geschlagen hat, erweist sich als eine Unterlassungssünde, deren Folgen uns inzwischen täglich vor Augen geführt werden, wenn Politiker sich wegen ihres Engagements gegen Ausländerfeindlichkeit bedroht sehen. Und: Wer glaubte, Rassismus, Antisemitismus und Rechtsradikalismus hätten sich infolge der sogenannten Aufarbeitung der Vergangenheit erledigt, sah sich spätestens nach dem Attentat von Hanau vor vier Jahren eines besseren belehrt.

»Versöhnungstheater«

Angehöriger eines Volkes zu sein, das in den Augen der Welt für zahllose Verbrechen und Grausamkeiten verantwortlich ist, wie soll das keine Spuren in den Seelen der Nachgeborenen hinterlassen? Und je weniger ihnen das bewusst ist, um so größer die Bereitschaft zu einer Flucht nach vorn, ins Ungewisse, weg aus der Last des Eingeschnürtseins, hin zu einer Politik, die sich auf mehr Verantwortung in der Welt stützt, um einer regelbasierten internationalen Ordnung die Stange zu halten – statt vor der eigenen Tür zu kehren.

Hier tut sich ein Problem auf, das weit über die augenscheinlich wenig durchdachte und sich nicht gerade an den gesellschaftlichen Realitäten orientierende Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit hinausgeht. Die Auseinandersetzung mit ihr ist längst einem »Versöhnungstheater« (Max Czollek) gewichen, das sich bekenntnishaft und allzuoft selbst inszeniert. Strikt vermeiden es deren Protagonisten, darauf hinzuweisen, geschweige denn Alarm zu schlagen, dass große Teile der Gesellschaft mit der Erinnerung an die faschistischen Verbrechen seit vielen Jahren nichts im Sinn haben.

Die Debatte um die Haltung zum Antisemitismus, Rechtsradikalismus und zur Gewaltmentalität ist mehr als überfällig, aber sie darf nicht vergessen machen bzw. ausklammern, dass wir es längst mit einem weit größeren Problem als mit der AfD zu tun haben. Die Behandlung der Judenverfolgung in den Schulen könnte ein Anfang und Beitrag dazu sein, Abhilfe zu schaffen. Es mag ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Um so mehr ist zu hoffen, dass die Lehrerschaft das Angebot annimmt.

Sigmar Schollak: Das Mädchen aus Harrys Straße. Mit Illustrationen von Anna Schilling. Donat-Verlag, Bremen 2024, 48 Seiten. Das Buch kann noch bis zum 28. März 2024 zum Subskriptionspreis von neun Euro erworben werden. Danach kostet es zwölf Euro. Interessenten schreiben an: info@donat-verlag.de

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