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Aus: Ausgabe vom 24.02.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Angst und Zucker

Von René Hamann
Max Ernst, »Les malheurs des immortels« (1922)

Dies ist eine Geschichte, sagt die »künstliche Intelligenz« (KI), die nach dem Muster von Tik-Tok-Clips funktioniert. Kurze, prägnante Ausschnitte, relativ zusammenhanglos, dafür in Schleifen und mit sich wiederholenden Themen. Sieben Sätze pro Absatz. Die Geschichte spielt in einer Gegenwart, die in einer fernen Zukunft liegt, sagen wir im Jahre 2123. Es werden Raumschiffe vorkommen. Und Drogen. Denn Raumschiffe und Drogen, da gibt es einen Zusammenhang.

Raumschiffe, die durchs All torkeln. Eine Gruppe nach der Ausnüchterung. Hände, die greifen wollen, ohne dass man sehen könnte, was. Griffobjekte außerhalb des Bildausschnitts. Zähe, nicht enden wollende Arbeitsstunden. Unendlichkeit. Videos von Orten, bevor sie sie kannten.

Während auf den Bildschirmen die Raumschiffe außerirdischen Kampfsternen folgen, sitzen sie, im folgenden die Gruppe genannt, vor lauwarmer Nahrung und schauen durch matte Plexiglasscheiben in das schwache Licht der Außenbeleuchtung. Draußen passiert nichts. Es kommt niemand vorbei, es schwebt kein Fahrzeug durch die Schluchten, nichts gibt Signale ab. Verstört checken sie die Systeme und denken über die lächerliche Situation nach, in die sie geraten sind. Keine Verbindung zu fernen Mitarbeitenden. Nur Erde versus fliegende Untertassen auf den Unterhaltungskanälen.

Keine Ahnung, wer den Begriff »Handjob« in den Algorithmus gespielt hat. Seitdem erscheinen laufend Großaufnahmen von Händen im System, die meisten Hände offen. Erst nach und nach kommen geschlossene Hände, Fäuste, hinzu. Meist weibliche Hände, aber nicht nur. Lange, gespreizte Finger, unberingt. Rot lackierte Fingernägel. Immer rot, keine andere Farben.

Seit dem Morgen regnet es. Es ist Regenzeit, es wird für Wochen nicht aufhören. Die Kanalisation ist weit geöffnet worden, die Schleusen, die Flutgebiete, die Kraftwerke. Fanfaren, die durch einen Wasserfall hindurch dröhnen. Alles richtig und korrekt, dem Widerstand zum Trotz. Es gibt keine Familien hier draußen, keine einfachen Angestellten, keine Dienstleistenden. Es gibt nur noch Verletzte.

Die KI ist ständig online, sagt aber kaum etwas. Die Gruppe wartet auf Bewegung, aber es passiert nichts. Es leuchtet ein Signal, aber es folgen keine Zeichen. Reines Rauschen, sich rückwärts abspielende Orgelmelodien. Da reichen die Wörter nicht hin. Es ist wie mit weißen Handschuhen berührt zu werden. Es ist, als warte man auf den Fetisch.

Die KI ist fehlerhaft. Sie hat die Anschläge nicht vorausgesehen. Die KI hat die Zeit mit dem Modulieren von Körperöffnungen vertrödelt. Auf die KI ist kein Verlass gewesen. In Taschen versteckte Hände, betäubende Müdigkeit, flirrende Lampen. Immer wieder Hände. Natürlich divers, natürlich korrekt, natürlich ab 18.

Science-Fiction in Endlosschleife. Eine Serie von Eindrücken, die nicht unterbrochen wird für Werbung oder Meldungen. Das ist nicht normal. Das gibt es normalerweise nicht. Normalerweise kommen ständig Nachrichten und versetzen die Gruppe in Handlungen. Die Nachrichten waren immer da, eine beständig rotierende Nachrichtenwelt, nur jetzt nicht. Jetzt steht die Welt still.

Raumschiffe, die durchs All torkeln. Eine Gruppe nach der Ausnüchterung. Körper in Schutzanzügen. Hände in Handschuhen, die etwas greifen wollen, ohne dass man sehen könnte, was. Griffobjekte außerhalb des Bildausschnitts. Die Handschuhe sind rosa. Sieht man genauer hin, kann man einen Ring erkennen.

Die Landschaft bewegt sich von rechts nach links, und von links nach rechts, obwohl sie nicht in einem Fahrzeug sitzen, sondern an einem festen Platz. Medienarbeiter, die an den Bildschirmen vor sich hin atmen. Rückenthematiken über Jahre. Die KI übernimmt. Die Gruppe beschließt, rauszugehen und die Lage zu sondieren. Wie in alten Fachdateien beschrieben. Wie seit Jahrzehnten nicht mehr ausgeführt.

Es bricht nicht einmal Panik aus. Nicht bei der Funktionärin aus den Randbezirken, die mit lascher Körperhaltung in einer schief sitzenden Uniform neben den Vorrichtungen verharrt. Einer Frau, die, wie die KI sagt, aus dem Lack geht, oder aus dem Leder. Nicht bei den Menschen in dem Wolkenkratzer, von denen nur die flackernden Lichter zu sehen sind. Nicht bei den am Hafen stationierten Einheiten, von denen nichts zu sehen oder zu hören ist. Nicht bei der Gruppe. Nicht im System, das seit Stunden einsam vor sich hin flackert.

»Das System zeigt Wetter an. Also eine Wolke. Die Wolke bewegt sich nicht. Die Werbung für Einmalklamotten finde ich strange. Darunter liegt eine Frequenz für Vogelstimmen. Vogelstimmen aus der Geschichte. Ja, wirklich, man kann einen Spatz hören oder eine Nachtigall.«

Bei der Bilderrückwärtssuche stößt die Gruppe auf seltsame Dinge. So entdecken sie eine hässlicher werdende Struktur­tapete, die aus der Form läuft. Auf ihr flitzen Blumen durchs Bild; ferale Florale. Es gibt Raumschiffe, die aus ökologischen Gründen aus Holz gebaut worden sind. Das Raketenschiffdesign hat zwei Designoptionen: eine durchgezogene Ätzung oder ein Detailschnitt. Nein, das waren keine Miniaturen, sondern echte Raumschiffe. Die Gruppe überlegte, in welcher Galaxie diese Raumschiffe würden fliegen können – vielleicht in einer, die nur aus Wasser besteht?

Ein Mann aus einer noch ferneren Zukunft reist mit der Zeitmaschine an. Setzt sein Leben aus der Vergangenheit fort. Fällt sukzessive durch Mehrwissen auf. Verdient seinen Unterhalt mit Sportwetten, Börsenpapieren, zeigt vorausschauendes Denken. Gibt’s den Turm der Neuen Musik schon? Oh, ist er noch gar nicht zum Präsidenten gewählt? Stimmt, der lebt ja noch!

Eines Tages macht er den Fehler, zu einem der Spiele zu gehen, auf die er gesetzt hatte. Prompt geht das Spiel anders aus als gedacht, und zwar seiner Anwesenheit wegen. Sein Dasein hat die chronologische Logik verschoben; das Spiel setzt unter neuen Voraussetzungen neu an und geht völlig anders aus als beim ersten Mal, das jetzt in einem Paralleluniversum stattfindet. Die Zeitläufte ändern sich. Der Mann sitzt auf der Tribüne und erbleicht. Er ist endlich in der Jetztzeit angekommen. Sein Vorteil ist verschwunden.

Die Gruppe gibt sich Handzeichen und setzt sich in Bewegung. Die sie umgebende Stadt ist flach und weitläufig. Die Straßenbeleuchtung leuchtet matt vor sich hin. Die Häuser stehen eng beieinander, zerfallende Häuser neben frisch sanierten, das mittlerweile übliche Bild. Von den fernen Gefechten ist kaum etwas zu spüren. Eine stehende Schallwelle, in der sie herumgehen, um auf die Unterschiede zu achten. Hohe Frequenzen, etwas, das klingt wie Frühchenmusik.

Hände. Die KI hat also überall ihre Hände drin. Die KI klaut alles, um es neu zusammenzusetzen. Die KI ist so etwas wie Spätsurrealismus, wie Bricolagekunst, Montage. Was wir früher mühsam selbst zusammensampeln mussten und dann beispielsweise HipHop genannt haben. Scratchende Hände. Großaufnahmen von Händen, die über schwarze Vinyl­schallplatten streichen.

Während die Gruppe Kreise durch das Areal zieht, um die Lage zu sondieren und den Kopf zu lüften, kommt der Gedanke auf, ob die Sci-Fi-Filme, die offensichtlich die Meldungen ersetzt haben, selbst Meldungen sind, und zwar nicht in einem McLuhanschen Sinn. Heißt, das sind gar keine Filme, sondern Übertragungen echter Gefechte. Kann nicht sein, wandte wer ein, wir wüssten davon. Selbst wenn es keine Nachrichten gegeben hätte, hätten wir doch die Anzeichen gesehen. Und wenn wir aus irgendeinem Grund aus den Strömen ausgeschlossen worden waren? Ausgeschlossen. Nein, ich meine: unmöglich.

Eine Nachricht kommt, die aus der Zukunft sein muss. Sie antwortet auf eine Nachricht, die noch nicht abgeschickt wurde. Aufständische halten das Planetarium besetzt. Alles ist blockiert, es kostet Mühe und Anstrengung, sich dem entgegenzustellen. Die Befreiung wird eine Falschmeldung gewesen sein. Bis dahin gibt es nur noch Stoßverkehr. Die Gruppe schaut mürrisch auf den Stillstand.

Der Untergang der Zivilisation steht bevor. Es sind graue Wolken am Firmament, die alles schlucken. Die Welt verschwindet in grauen Wolken. Wolken, die sich nicht bewegen. Die Armee liegt im Tiefschlaf. Die Bevölkerung reagiert gleichmütig. Weiße Handschuhe regeln den Verkehr, darüber ein undurchsichtiger Himmel wie aus getrübtem Plexiglas.

Überall sind Stimmen zu hören. Es sind reale Stimmen, Stimmen aus Geräten, Stimmen, die aus Behörden, aus Geschäften und Telecafés kommen. In der Gruppe geht es um die Toxikationsfrage, die Vorbereitung, über die Strukturen der Beschaffungskartelle aus der Zeit, bevor das Ministerium für Versorgung den Handel nach und nach übernahm. Sie haben die Erlaubnis der Regierung. Um den Weg des Drogenhandels zu synchronisieren. Sie streichen all die Schutzgelder ein. Niemand macht mehr Profit ohne sie.

Die Gruppe orientiert sich neu. Eine als männlich gelesene Person verteilt Pillen. Die Besetzung der Sternwarte ist ein passagerer Zustand, das meinen alle. Jetzt heißt es: Ruhe bewahren. Dann liegen sie mit ausgestreckten Armen auf dem Boden, als ob sie im Himmel Tischtennis spielen würden. Und über ihre Arme kribbeln Ameisen, die seit 23 Jahren ausgestorben sind.

Stell dir vor, du hörst alle Stimmen, alle Worte, die je zu dir gesprochen wurden, an einem einzigen Augenblick, in einem Moment, sagt die KI. Du würdest auf der Stelle wahnsinnig werden. Der Vorteil am körperlosen Reisen ist, antwortet die Gruppe, dass man keine Hotels mehr braucht. Man braucht kein Airbnb, keine Flugzeuge, keine Tourismusindustrie. Man geht in Istanbul durch ein Portal und landet in Nairobi. Man ist heute hier und gleich schon da. Kommst du heute nicht, kommst du heute.

Für den Restnachmittag gilt Flugverbot. Keine umherschwebenden Kornfeldkreiszeichen, kein glänzendes, rotierendes Metall ist mehr zu sehen. Ein streifenfreier Himmel. Die letzten Nachrichten sagten, die feindlichen Armeen seien näher gerückt, und tatsächlich hat sich ein fieses Grollen über die Stadt gelegt. In den Vorstädten kommt es zu Plünderungen. Das Ministerium für Liebe ist für heute geschlossen. Trotzdem laufen die üblichen Vorbereitungen.

In der Stadt sollen Konferenzen stattfinden, im nächsten Zeitabschnitt, und jeder, der nicht primärproduktiv gebunden ist, möchte nur noch eines sein: Konferenzteilnehmer. Eine große Blase von Bedeutung schwebt durch die Köpfe, schließt aber alle, die nicht Teil dieser Blase sind, aus. Die Relevanz der Blase außerhalb ihrer selbst: null. Das Ministerium für Liebe ist eine der Anlaufstellen der Konferenz, die andere Anlaufstelle ist die Börse, die dritte das Ministerium für Sicherheit.

Die Systeme summen vor sich hin. Kontakte stellen sich neu her. Die Gruppe hatte die Systeme kaum noch beachtet. Aber allmählich setzt sie zur Landung an, was bedeutet, dass die Bodenstationen vereinzelt wieder Meldungen bekommen. Die Oberfläche klärt sich allmählich auf. Zum Ausgleich beginnt die Sonne, sich hinter neuen Hindernissen zu verstecken. Nach der Regenzeit beginnt eine Trockenperiode, die sich ins Endlose zieht.

Nach drei Wochen, sagt die KI, werden die Regierungsmaschinen die Stadt wieder unter Kontrolle haben. Die Aufständischen ziehen sich in die Vororte zurück. Das Planetarium ist besenrein. Fahrpläne greifen, Konferenzen finden statt. Die Raumschiffe zirkulieren im Takt. Alles wird wieder im Modus sein. Nur die KI macht weiter Fehler.

Die Tristesse von Wärmehallen, Parkhäusern, Kabinen, Auffahrten, automatischen Garagentoren. Die Leere dieser Tätigkeiten und Funktionen, die Seelenlosigkeit der Arbeiten und Dienste. Weißlicht, unendliche Langsamkeit, Weltraumgefühle. Irgendwann, Jahrzehnte später, beginnt es wieder zu regnen. Moment, denken sie, das soll Regen sein? Es ist, als ob es von unten nach oben regnete! Im Prinzip ist es genau das, sagt die KI, es regnet von unten nach oben.

In der Wärmehalle, in die sie zurückkehren, einem ehemaligen Elektrizitätskraftwerk, werden Videos an die Wand geworfen. Videos mit Großaufnahmen überdimensionierter Insekten, die längst ausgestorben sind. Eine kalte Halle, die aussieht wie um die Gruppe herumgebaut. Vielleicht eine ehemalige Lagerhalle für Instektizide. Auf den Toiletten hängen Fetischautomaten. Handschuhe, neu und benutzt, in allen Größen und Farben. Bezahlt wird mit Fingerabdruck.

René Hamann, geboren 1971 in Solingen, lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Schriftsteller und Journalist. Von 2011 bis 2013 war er Literaturredakteur dieser Zeitung.

An dieser Stelle erschien von ihm zuletzt in der Ausgabe vom 30.9./1.10.2023 »Die Zollsiedlung«

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