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Aus: Ausgabe vom 23.02.2024, Seite 12 / Thema
Literatur

»Lernt schwimmen!«

Der Schriftsteller Erich Kästner war sachlich und moralisch zugleich. Ein Gruß zum 125. Geburtstag
Von Hans Otto Rößer
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Erich Kästner, geboren am 23. Februar 1899 in Dresden, gestorben am 29. Juli 1974 in München (Aufnahme von 1955)

»Sie wirken sympathisch«, sagte sie. »Sie sind im Dezember geboren.« – »Im Februar.« – »Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?« (Erich Kästner: Fabian)

Erich Kästner hat sein Geburtsjahr 1899 nicht nur als individuelles, sondern als historisches Datum verstanden. Mit dem Eingangsgedicht seiner ersten Gedichtsammlung »Herz auf Taille« hat er seinem Jahrgang ein Denk-Mal gesetzt: Von einer »Weltgeschichte« behelligt, die einer Schlachtbank gleicht, sind seine Altersgenossen zu früh und falsch erwachsen geworden, nur um schnellstmöglich als »Kanonenfutter« in den Ausblutungsschlachten des Ersten Weltkrieges zu verenden. Kästner erfuhr die Rekrutenschinderei noch am eigenen Leib. Vor dem Tod im Schützengraben bewahrte ihn eine Herzneurose. Da hatte Kästner den Bildungsfahrstuhl für Ärmere, das Lehrerseminar, hinter sich und Notabitur sowie Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie, Zeitungskunde und Theaterwissenschaften, überwiegend in Leipzig, vor sich. Schon als Student schrieb er Gedichte und Feuilletons, von 1924 bis 1926 war er als Redakteur bei der Neuen Leipziger Zeitung angestellt, zuerst im Feuilleton, dann im politischen Ressort. Kästner zeigte Talent. Er konnte genau beobachten, schnell und klar formulieren und verfügte über Sprachwitz. Hinzu kam die Disziplinierung durch den journalistischen Berufsalltag, das Schreiben unter Termindruck. Damit war der Sockel dafür gelegt, dass die ab 1927 vom nunmehr »freien« Schriftstellerunternehmer in Berlin eingerichtete »kleine Versfabrik« einen Ausstoß verzeichnete, der die Zeitgenossen in schieres Erstaunen versetzte. Kästner erreichte in kürzester Zeit das selbst gesetzte Lebensziel: Er wurde berühmt und ein wohlhabender Mann.

Ein Spieler

Zur ökonomischen Basis der Zeitungen, durch die Kästner einem Wort Walter Benjamins zufolge seine Gedichte flitzen ließ wie ein Fisch im Wasser, gehörte die Werbung, für die er sich als Reklamedichter zur Verfügung stellte, und eine Leserschaft, deren Kern in der wachsenden und in den Großstädten konzentrierten Schicht der Angestellten bestand. Siegfried Kracauer spricht in seiner Angestelltenstudie von 1930 von 3,5 Millionen Angestellten, darunter 1,2 Millionen Frauen. Sie finanzierten nicht nur zum großen Teil das differenzierte Pressewesen, sondern auch die Angebote der kommerziellen Populär- und Freizeitkultur in Vergnügungsparks, im Theater, Kabarett, Hörfunk und vor allem im Film. Das Durchschnittsgehalt eines ausgelernten Angestellten lag bei 150 Mark im Monat, so viel bezahlte Kästner an Monatsmiete für die moderne Wohnung in der Roscherstraße in Charlottenburg, die er Ende 1929 bezog. Zu Kästners wachsendem Wohlstand trug bei, dass er sich schnell die genannten Medienapparate erschloss und seine Angebote dort vermarkten konnte. Besonders lukrativ waren Theaterstücke und Drehbücher, zumal wenn es um die Verfilmung der eigenen Bücher ging.

Aus der Schicht der Angestellten, Journalisten, Schauspieler, die Berührungszonen sowohl zum Proletariat (die Ladenmädchen, die ins Kino gehen) als auch in der Gestalt einer »Angestellten-Bohème« (Kracauer) zur Bourgeoisie besitzt (Bürgerstöchter, die gestern die Tasten des Pianos anschlugen und heute die Tastatur der Lochkarten- oder Schreibmaschine bedienen), bezieht Kästner seine Stoffe. Ihnen hält er in allen Varianten der Komik und Satire den (Zerr-)Spiegel vor, während er in der Darstellung der Besitzlosen (oft in der Perspektive von Dienstboten) und der Industriellen, deren Kritik sich in der Sehnsucht nach dem Mäzen auflöst, schwach bleibt.

Zu den Verhaltensweisen dieser Schicht, die er sich mit der sachlichen Kälte eines Moralisten vornimmt, steht er durchaus in distanzierter Nähe. Kästner legte Wert auf perfekt sitzende Anzüge, eine tadellose Rasur und einen sonnengebräunten Teint. Während diese Arbeit am angenehmen Aussehen bei Angestellten als Warenästhetik zu verstehen ist, die der Verkaufbarkeit ihrer Arbeitskraft dient, und Kosmetik und Sport, der Kult der ewigen Jugend und Gesundheit, der »Existenzsorge« entspringen, »als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden« (Kracauer), war dies bei Kästner Selbstzweck. Die Aufmachung diente der Inszenierung eines begnadeten Womanizers, der seine Eroberungen in diesem Milieu machte und das auch nicht primär aufgrund einer stattlichen Erscheinung (Kästner war oft kleiner als seine Partnerinnen), sondern mit Hilfe seines Charmes, Witzes und seiner Generosität. Auch beim Tennisspiel, Kästners dritter Leidenschaft nach dem Schreiben und den Frauen, ging es ihm nie ums Gewinnen, sondern um die Freude am Spiel. Wenn es die von der germanistischen Kästner-Forschung verzweifelt gesuchte Kategorie gäbe, die die vielfältigen Facetten seines Lebens und Arbeitens auf einen einzigen Begriff bringt, der sie zusammenhält, dann könnte diese das Spiel sein. Die Differenz zur verwertbaren Selbstoptimierung mag die Schärfe seiner Beobachtungen von Verhaltensweisen erklären, die er selbst teilt.

Kalte Frauen

Das Neue im Neuen ist der Eintritt nichtproletarischer Frauen ins Berufsleben. Die Sachlichkeit und Kälte, die eine kapitalistische Arbeitswelt den Menschen abverlangt, werden anscheinend dort besonders sinnfällig, wo sie die Frauen betreffen, die das bürgerlich-männliche Klischee gerade eben noch als Spezialistinnen für Gefühle und Hüterinnen familiärer Wärme fälschlich gefeiert hatte. Deshalb stellt Kästner diese Kälte besonders an Frauen aus, während er die Männer oft in die Position der Registratoren der Kälte setzt. Dies ist der Posten, den Kästner selbst einnimmt. Beispielhaft kann hier das Rollengedicht »Chor der Fräuleins« aus seiner ersten Gedichtsammlung angeführt werden. Es beginnt mit einer lakonischen Arbeitsbeschreibung: »Wir hämmern auf die Schreibmaschinen. / Das ist genau, als spielten wir Klavier. / Wer Geld besitzt, braucht keines zu verdienen. / Wir haben keins. Drum hämmern wir.« Die nächsten drei Strophen, die den Mittelpunkt des Gedichts bilden, wechseln nun abrupt zum Sexualleben. Die »Fräuleins« legen keinen Wert auf Jungfräulichkeit und Ehe und täuschen mögliche Sexualpartner gegebenenfalls darüber hinweg, dass diese keineswegs die ersten sind und nicht die letzten sein werden. Sex ist »schön« und »außerdem gesund« oder, wie bei der verlorenen Geliebten in Kästners Roman »Fabian«, der Juristin und Schauspielerin in spe Dr. Cornelia Battenberg, ein Mittel, Karriere zu machen. Kästners »neue Sachlichkeit« beschränkt sich aber nicht auf Moralistik, sondern ist immer auch konventionell moralisch, bisweilen romantisch aufgeladen. Das Gedicht über die »Fräuleins« endet in gebrochener Sentimentalität: »Nur wenn wir Kinder sehn, die lustig spielen / und Bälle fangen mit Geschrei, / und weinen, wenn sie auf die Nase fielen – / dann sind wir traurig. Doch das geht vorbei.«

In diesem Punkt unterscheidet sich Kästner deutlich von Bertolt Brecht und dessen Gedichten aus dem »Lesebuch für Städtebewohner« (1926/27). In Brechts Rollengedicht »Ich bin ein Dreck« sind die Stationen der Verkommenheit und Erniedrigung zugleich Schulen des Interessen- und Selbstbewusstseins des femininen lyrischen Ichs. Die Sprecherin nimmt keinen Mann, »der nicht / Etwas für mich tat«. Entscheidend für sie ist nicht, dass der Mann sie braucht, sondern dass sie ihn in Gebrauch nimmt. Dieser Standpunkt der Nützlichkeit für sich selbst lässt sie auch ihre Süchte überwinden, nachdem ihr ein Blick in den Spiegel den Verfall des Körpers bewusst gemacht hat. So kommt sie nach selbstdisziplinierender Askese zum Schluss: »[I]ch bin / Unvermeidlich, das Geschlecht von morgen / Bald schon kein Dreck mehr, sondern / Der harte Mörtel, aus dem / Die Städte gebaut sind.«

Im schlechten Neuen, in der kühlen Kalkulation von Frauen, die im wörtlichen Sinn ihre Haut zu Markte tragen, kündigt sich eine Zukunft an, in der sich Frauen aus sentimental verklärter patriarchalischer Abhängigkeit befreit haben und selbstbewusste Gestalterinnen ihres Lebens geworden sind. Statt dieser Dialektik kennt Kästners Kulturkritik allein moralisierende Verachtung, die sich gegenüber Frauen der Bourgeoisie bis zur Gehässigkeit steigern kann. Während er dem bürgerlichen Mann in seiner »Ansprache an Millionäre« (1930) immerhin, wenn auch skeptisch, vis à vis einer möglicherweise drohenden Revolution die Vernunft und den Geschäftssinn zugesteht, den Armen aus Eigeninteresse zu helfen und den »Umbau der Welt« durch lukrative Investitionen in die Infrastruktur zu organisieren, versteigt er sich gegenüber modeversessenen »Sogenannte[n] Klassefrauen« aus dem oberen Bürgertum zu dem bösen Wunsch: »Wenn’s doch Mode würde, diesen Kröten / jede Öffnung einzeln zuzulöten! / Denn dann wären wir sie endlich los.«

Fragen der Moral

Dass Kästners Beobachtungen auf den Fluchtpunkt des Allgemeinmenschlich-Moralischen zulaufen, ist auch Resultat davon, dass der Genauigkeit in der Darstellung der Verhaltensweisen nicht annähernd die Art gleichkommt, wie Kästner die Verhältnisse zwischen den Verhaltensweisen in den Blick nimmt. Kästner spricht zwar von Millionären und Industriellen, von Kapitalismus und Armut, aber Klasseninteressen und Akteure, die diese Interessen artikulieren und formen, spielen weder in den Gedichten noch in seinem wichtigsten Roman für Erwachsene eine Rolle, dem »Fabian – Die Geschichte eines Moralisten« aus dem Jahr 1931, der nach Kästners Willen eigentlich »Der Gang vor die Hunde« hätte heißen sollen. Das gilt bereits für die berühmte Straßenkämpferszene: Die Hauptfigur, der Germanist und Werbetexter Dr. Jakob Fabian, und sein bester Freund, der großbürgerliche Universitätsmitarbeiter Dr. Stephan Labude, bringen einen Nazi und einen Kommunisten, die beide durch Pistolenschüsse verletzt sind, mit dem Taxi ins Krankenhaus. Während der aufnehmende Arzt die politischen Schießereien mit »Tanzbodenschlägereien« gleichsetzt, bekundet Fabian gegenüber dem Kommunisten Verständnis, wenn nicht gar vorsichtige Sympathie, zweifelt aber daran, dass ein Sieg des »Proletariats« die »Ideale der Menschheit« werde verwirklichen können. Entscheidend aber ist, dass keiner der drei Außenstehenden, weder der Arzt noch die beiden Freunde, sich auch nur einen einzigen Gedanken über die Hintergründe der Straßenkämpfe macht. Was der Arzt für »Auswüchse des deutschen Vereinslebens« hält, ist tatsächlich Resultat der seit der Übernahme der NSDAP-Gauleitung in Berlin Ende 1926 von Goebbels verfolgten Strategie, die Partei durch Gewaltakte zuerst bekannt zu machen und dann durch Gewalt den Charakter politischer Veranstaltungen und Straßenaufzüge zu ändern. Alle, die ihre Stimmen erheben und gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der NSDAP protestieren, sollten mundtot gemacht werden. Schließlich wurde die Stadt mit einem Netz von »Sturmlokalen« überzogen, von denen aus die »roten Kieze« überrollt werden sollten. Die Viertel sollten zu von Linken befreiten Zonen werden. Da sich zeigte, dass die Berliner Arbeiterhochburgen relativ unempfänglich waren für die Nazipolitik und deren Ideologie, konnte dies nur durch Terror erreicht werden. Die US-amerikanische Historikerin Eve Rosenhaft spricht von einer Strategie der »gewaltsamen Einschüchterung«. Das betrifft den Zeitraum, in dem Kästners Roman spielt. Die Gegengewalt der Linken bekommt dadurch den Charakter der »Selbstverteidigung«.

Bedeutsamer für den Roman sind die weltanschaulich-politischen Diskussionen zwischen Fabian und Labude. Wie ein Schachspieler, der mit und gegen sich selbst spielt, verteilt der Autor eigene Positionen auf seine beiden Protagonisten und bringt diese Ansichten durch Kritik und Skepsis in Bewegung. Labude erzählt Fabian von einem Vortrag, den er auf einer Universitätsveranstaltung zum Thema »Tradition und Sozialismus« gehalten hat. Er habe gefordert, dass sich die bürgerliche Jugend radikalisieren und den Kontinent unter anderem »durch freiwillige Kürzung des privaten Profits« reformieren müsse. Fabian entgegnet kühl: »Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein ist?« Obwohl diese Replik auch ein skeptisches Licht darauf wirft, die Welt durch eine moralische Läuterung ihrer Bewohner besser machen zu wollen, und beide Protagonisten im Laufe der Romanhandlung den Tod finden, teilt zumindest der Erzähler letztlich Fabians moralische Orientierung. Als der arbeitslos gewordene Fabian zu seiner Mutter zurückkehrt und durch seine Heimatstadt streift, sieht er einen Jungen, der auf einem Brückengeländer balanciert und in den Fluss fällt. Fabian springt dem Jungen hinterher, will ihn retten und ertrinkt dabei, während der Junge ans Ufer schwimmt und sich selbst rettet. Der letzte Satz des Romans: »Er (Fabian) konnte nicht schwimmen«, korrespondiert mit der Teilüberschrift des letzten Kapitels: »Lernt schwimmen!« Dieser Imperativ des »Schulmeisters«, wie sich Kästner gern selbst nannte, stellt den Primat des guten Willens nicht in Frage, sondern insistiert auf der notwendigen Fähigkeit, ihn auch realisieren zu können. Da aber der Autor und seine Hauptfigur immer wieder zweifeln, ob »der Mensch« bzw. genügend viele Menschen überhaupt noch bereit sind, einen guten Willen aufzubringen, ist auch diese Position in sich brüchig, vergebliches Warten auf den »Sieg der Anständigkeit«. Es ist Kästner zugute zu halten, dass er, wenn auch stillschweigend, eine Zuschreibung aus Benjamins Kritik übernimmt, die bereits vor dem Erscheinen des Romans formuliert worden ist. In seinem Vorwort zu Neuauflagen des »Fabian« 1946 und 1950 bekennt Kästner, dass sein Platz »der verlorene Posten« ist.

Allerdings belässt es Kästner nicht bei einem »Dennoch«, sondern behauptet eine schwache Realitätsanbindung seiner Utopie durch eine halb soziologische, halb anthropologische Stützkonstruktion. 1929 sprach die Herausgeberin der Weltbühne, Edith Jacobsohn, Kästner an, ob er nicht einmal ein Kinderbuch schreiben könne. Seit 1924 leitete sie mit zwei Freundinnen den Kinderbuchverlag Williams & Co. Orientiert an englischer Kinderliteratur wünschte sie sich neue, zeitgemäße und realistische Kinderbücher. Mit Kästner hatte sie den Richtigen im Blick. Er hatte schon als Journalist für Kinder geschrieben. Mit dem Ende 1929 erscheinenden Buch »Emil und die Detektive«, das Kästners größter Bucherfolg werden sollte, erfand er die Großstadt als Schauplatz von Abenteuern am hellen Tag. Seine Protagonisten waren klassenübergreifend Kinder, die sich unabhängig von der Welt der Erwachsenen als kluge und kooperationsfähige (Selbst-)Helfer betätigen und bewähren.

Die reine Welt der Kinder

Dass damit der Kinderbuchautor Kästner geboren war, beruhte aber weniger auf einem zufälligen Impuls. Kästner erkannte in Kindern die Hauptakteure einer Weltverbesserung, wie er sie sich vorstellte. Prägnant und wiederum anhand einer Frauenfigur fragt das Gedicht »Mathilde, aber eingerahmt«: »Als kleines Mädchen gut und milde, / mit zwanzig Jahren ein Stück Mist! / Hast du dich je gefragt, Mathilde, / wie es dazu gekommen ist?« Für Kästner ist das eine rhetorische Frage, die Antwort einfach: Kinder sind deshalb die besseren Menschen, weil sie noch nicht wie die Erwachsenen von den Gesetzen der Warenwelt durchdrungen sind. Sie haben noch viel Herz und Gerechtigkeitsgefühl und wenig Ellenbogen und Gier. Der moralischen Verderbnis der Erwachsenenwelt entkommen lediglich Kästners eigene Mutter, die er meistens »Muttchen« nannte, und Aussteiger wie der »Nichtraucher« im »Fliegenden Klassenzimmer« oder der Lehrer »Justus«, also Menschen, die das Kind in sich nicht abgetötet haben und lieber spielen, als in den Konkurrenzkrieg zu ziehen. Auch Fabian bekennt, ihm fehle der Sinn für berufliches Vorwärtskommen. Blöd nur: Aus Kindern werden leider Erwachsene.

Weil Kästner ein entschiedener Gegner von Militarismus und Krieg war, bekämpfte er die Nazis. Er nannte sie die »Dummheit als Volksbewegung«, sah in der Industrie die Geldgeber Hitlers und wünschte sich vom »Weihnachtsmann«, er möge doch Hitler den »Germanenhintern« versohlen. Dementsprechend verhasst war Kästner bei den Nazis und nach deren Machteinsetzung gefährdet. Bei der Bücherverbrennung in Berlin am 10. Mai 1933 galt ihm zusammen mit Heinrich Mann und Ernst Glaeser bereits der zweite »Feuerspruch«, der deutlich machte, dass weniger der politische Publizist im Fokus der Nazis stand als vielmehr der Sittenschilderer, dem die Identifikation mit dem Geschilderten unterstellt wurde: »Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!« Kästner befand sich unter den Zuschauern, wurde von einer leichtsinnigen Zuschauerin erkannt und laut mit Namen angerufen. Trotz seiner Gefährdung konnte sich Kästner nicht zur Emigration entschließen. Er wollte seine Mutter nicht verlassen und bleiben, um als Zeitzeuge nach dem Ende des Regimes den fälligen umfassenden Roman über das »Dritte Reich« der Nazis zu schreiben. Dazu ist es nicht gekommen.

Zu den möglichen Gründen seines Bleibens mag auch gehören, dass Kästner gut verdiente und dies alles nicht zurücklassen wollte. Er wurde zwar gleich nach der Machteinsetzung mit einem »Publikationsverbot« belegt, konnte aber im Ausland publizieren, Tantiemen für Übersetzungen beziehen und, zeitweise mit offizieller Genehmigung, unter Pseudonym Theaterstücke und Drehbücher verfassen, wobei insbesondere seine Kontakte zur Filmindustrie, Schauspielern und Produzenten hilfreich waren. Tobias Lehm­kuhl, der diese Lebensphase eingehend untersucht hat, verweist auf einen Zettel, auf dem Kästner für das Jahr 1941 Einnahmen von 31.602 Reichsmark verzeichnet hat, was 2020 einem Kaufkraftäquivalent von 136.000 Euro entsprochen haben soll. Noch höher waren seine Einkünfte 1942, wo ihm die Drehbücher für den Münchhausen-Film und für »Der kleine Grenzverkehr« allein 115.000 Reichsmark einbrachten. Obwohl 1943, nachdem Hitler erfahren hatte, dass sich hinter dem Drehbuchautor des Münchhausen-Films »Berthold Bürger« Kästner verbarg, ein endgültiges Berufsverbot verhängt worden war, konnte Kästner mit seinem bis dahin erzielten Geldeinkommen die verbleibenden 28 Monaten des »Dritten Reichs« gut überstehen. Allerdings, merkt Lehmkuhl trocken an, wurde er erst nach 1945 Millionär. Die letzten Wochen des Kriegs überstand Kästner zusammen mit einem 60köpfigen Team bei fiktiven Filmarbeiten im österreichischen Mayrhofen, ein Coup, den sein Freund Eberhard Schmidt, Produktionsleiter bei der UFA, eingefädelt hatte.

Nach 1945 wohnte Kästner in München, war bis 1948 Redakteur bei der von der amerikanischen Besatzungsmacht herausgegebenen Neuen Zeitung, gab bis 1949 die Jugendzeitschrift Pinguin heraus, schrieb fürs politische Kabarett, kümmerte sich um die (Mehrfach-)Vermarktung seiner Kinderbücher und der nach 1933 geschriebenen, in der Schweiz erschienenen Unterhaltungsromane, schrieb das wenig erfolgreiche Theaterstück »Die Schule der Diktatoren« (1956) und die Autobiographie »Als ich ein kleiner Junge war« (1957). Im selben Jahr wurde ihm der prestigeträchtige Georg-Büchner-Preis verliehen. Seit 1948 war er Präsident des deutschen, zuerst gesamtdeutschen, ab 1951 westdeutschen PEN und blieb dies bis ins Frühjahr 1962. Er hatte sich erfolgreich als Journalist und Schriftsteller reetabliert.

Öffentlicher Intellektueller

Während er schließlich von den Autoren der »Gruppe 47« als Schriftsteller allmählich in die zweite Reihe verdrängt wurde, wuchsen seine Aktivitäten und sein Ruf als öffentlicher, politischer Intellektueller. Galt seine Aufmerksamkeit zuerst dem Nachleben des Faschismus in der bürgerlichen Demokratie und dem restaurativen Charakter des Adenauer-Staates, kulminierend in Reden zur Bücherverbrennung und im Kampf gegen die Wiederauflage eines Schmutz- und Schundgesetzes (1953), standen ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zuerst der Kampf gegen die drohende atomare Bewaffnung der Bundeswehr, ab 1960 die Ostermarschbewegung und bald auch schon das Eintreten gegen die US-amerikanische Kriegführung in Vietnam im Fokus, und dies zu einer Zeit, als SPD-Mitglieder, die diese Meinung teilten, noch aus ihrer Partei ausgeschlossen wurden. Den Versuchen von Günter Grass, Kästner in den Bundestagswahlkämpfen 1965 und 1969 als Unterstützer der SPD zu gewinnen, erteilte er eine Abfuhr. Seine Schmerzgrenze war mit dem Godesberger Parteitag der SPD erreicht: »[I]ch habe mein Leben lang SPD gewählt und mich immer schwarzgeärgert (bzw. rot). Seit Godesberg ist das äußerste, wozu ich fähig bin: schweigen.«

Dass er als Fellow Traveller der Kommunisten diffamiert wurde, ehrt ihn, obwohl ihn Wesentliches von den Kommunisten trennte. Als ihm der Intendant der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main den Vorschlag machte, im Rahmen der PEN-Jahresversammlung 1957 ein Stück des kurz zuvor gestorbenen Brecht aufzuführen, befürwortete Kästner diese Idee, machte dann aber aufgrund des Drucks der fanatischen Kalten Krieger im Verband einen Rückzieher. Eine neuere Untersuchung zu Kästners Aktivitäten nach 1945 nennt ihn einen »Bewegungsintellektuellen«, der deutlich anders, vehementer als in den Jahren 1927 bis 1933 durch Resolutionen, Appelle, offene Brief und Kundgebungsreden Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen versuchte.

Zu den bekanntesten Epigrammen Kästners gehört die Maxime: »Es gibt nichts Gutes / außer man tut es.« Sie ist die verallgemeinerte Version seines Appells »Lernt schwimmen!« Nur wenige dürften Einspruch erheben, würde man ihn eingedenk dieser Maxime und trotz seiner Schwächen einen Guten nennen.

Hans Otto Rößer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 30. Dezember 2023 und am 2. Januar 2024 über den deutschen Jakobiner Georg ­Forster.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. Februar 2024 um 21:02 Uhr)
    Der Edelkommunist! Ein Jubiläum, das die Literaturwelt mit einem Augenzwinkern und einem Hauch von Wehmut feiert. Der Schöpfer von »Emil und die Detektive« und »Das fliegende Klassenzimmer« hat nicht nur Generationen von Lesern verzaubert, sondern auch als moralischer Edelkommunist in die Geschichte eingehen wollen. Kästner, der Meister der leichten Feder und scharfen Zunge, war mehr als nur ein Kinderbuchautor. Mit einem intellektuellen Blick und einer Prise Humor schaffte er es, sich in die Herzen der Leser zu schleichen und gleichzeitig politische Botschaften zu vermitteln. Als moralischer Edelkommunist verband er auf geschickte Weise seine humanistischen Überzeugungen mit einem literarischen Genie, das seinesgleichen suchte. Seine Werke sind wie kleine Schatzkisten, gefüllt mit zeitlosen Weisheiten und unaufdringlichen Gesellschaftskritiken. Kästner vermochte es, die Alltäglichkeiten des Lebens in Worte zu fassen und dabei die Essenz moralischer Grundsätze zu bewahren. Man stelle sich vor, wie er heute wohl auf die hektische Welt um uns herum blicken würde – mit einem ironischen Lächeln und einem Hauch von Enttäuschung über die Unbelehrbarkeit der Menschheit. Denn auch wenn er vor 125 Jahren geboren wurde, sind seine Worte heute genauso relevant wie damals – eine zeitlose Erinnerung daran, dass in der Literatur nicht nur die Fantasie, sondern auch die Moral fliegen kann.

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