junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 2. Mai 2024, Nr. 102
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Online Extra
16.02.2024, 18:19:41 / Ausland
Nachruf

Ein Querfrontagitator

Russland: Vom Migrantenfeind zum Korruptionsermittler. Zum Tode von Alexej Nawalny
Von Reinhard Lauterbach
Lieblingspose des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny (Mos
Lieblingspose des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny (Moskau, 20.7.2019)

Alexej Nawalnys Tod am Freitag vormittag kam überraschend, auch wenn seine Anhänger seit langem die Befürchtung geäußert hatte, er werde die 19 Jahre Haft in einer Strafkolonie »strengen Regimes« im Permafrostgbiet des Nordural nicht überleben. Noch am Donnerstag wirkte er bei Gelegenheit einer der Gerichtsverhandlungen über seine zahlreichen Beschwerden gegen die Haftbedingungen, zu der er per Video zugeschaltet war, zumindest geistig noch völlig präsent. Er erlaubte sich sogar Witze. Als ihn der Richter nach seinen finanziellen Verhältnissen fragte, grinste er durch die Stäbe seines Häftlingskäfigs und sagte, er hätte nichts dagegen, wenn ihm der Richter von seinem guten Gehalt »etwas rüberwachsen lassen« könnte. Sogar die Justizbeamten, die das unter anderem auf auf faz.net gelinkte Video zeigte, konnten sich ein Mitlachen nicht verkneifen.

Alexej Nawalny, Jahrgang 1976, muss früh den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in der späten Sowjetunion erlebt haben. Sein Vater war zwar Soldat, soll aber aus seiner kritischen Haltung zum System des Realsozialismus keinen Hehl gemacht haben. Vor allem der Umgang des sowjetischen Beamtenapparats mit den Folgen von Tschernobyl prägte sein Gefühl, dass in der UdSSR vor allem die Heuchelei geherrscht habe: erst den Leuten den Ernst der Lage verheimlichen, dann eine hastige Evakuierung anordnen und schließlich die zurückgelassene Habe der Anwohner als angeblich verstrahlt konfiszieren und hintenherum auf eigene Rechnung verkaufen. Der Widerspruch zwischen öffentlicher Bescheidenheit und privatem Luxus der russischen Führungsspitze zog sich durch seine Veröffentlichungen bis zu seiner letzten Enthüllung über einen angeblichen Märchenpalast von Wladimir Putin nahe Sotschi, die erst nach seiner Inhaftierung veröffentlicht wurde. Oder die Dutzenden Paare roter Markenturnschuhe von Dmitri Medwedew aus Nawalnys vorheriger Reportage, ein Dingsymbol für die Porträtierung einer von den Nöten der Bevölkerung abgehobenen Elite. Ob die Enthüllungen im einzelnen zutrafen, ist dabei sekundär, auch wenn die Justiz sich gehütet hat, ihren Inhalt in irgendeinem Verfahren zu widerlegen. Entscheidend ist, dass sie in der Bevölkerung für plausibel gehalten wurden und ankamen.

Angefangen hatte Nawalny seine politische Karriere in der linksliberalen Partei »Jabloko« von Grigori Jawlinski. Der ließ ihn ausschließen, als Nawalny Mitte der nuller Jahre anfing, in Fremdenfeindlichkeit zu machen, und bei Demonstrationen erzreaktionärer Nationalisten mitlief. Damals hat er Migranten aus dem Nordkaukasus als »Kakerlaken« und Gefahr für die russischen Frauen bezeichnet. Nachdem er 2010 ein Stipendium an der US-Universität Yale in einem Programm für »junge Führungskräft« absolviert hatte und 2011 wieder in die russische Politik einstieg, hat er diese Äußerungen nicht wiederholt, sich aber auch nicht von ihnen distanziert. Fortan agitierte er gegen mutmaßliche Wahlfälschungen bei der Dumawahl 2011 und eben gegen die Korruption der Eliten – klassische Einfallstore der Propaganda von CIA-inspirierten Farbenrevolutionen. Aber Nawalny hatte auch keine Berührungsängste, bei den letzten Parlamentswahlen zur »intelligenten Abstimmung« auch für Kandidaten der KPRF aufzurufen – Hauptsache, die Stimmen gingen nicht an »Einiges Russland«. Vor allem in der Jugendorganisation der KPRF sollen diese Bündniswerbungen auf positive Resonanz gestoßen sein, die Parteispitze schloss etliche lokale Funktionäre dafür aus.

Seitdem Nawalny 2011 größere Menschenmengen zu Protesten gegen die mutmaßliche Fälschung der Dumawahlen hatte mobilisieren können, hatte die Staatsmacht auf verschiedene Weise versucht, ihn aus dem öffentlichen Leben zu entfernen. Erst mit Bewährungsstrafen wegen angeblicher Wirtschaftsdlikte, die zumindest nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte so nicht stattgefunden haben und jedenfalls nicht Nawalny anzulasten gewesen seien. Als Vorbestraftem wurde ihm die Kandidatur bei der Präsidentenwahl von 2018 verwehrt, aber bei der Wahl zum Moskauer Bürgermeisteramt erzielte er mit 27 Prozent der Stimmen durchaus einen Achtungserfolg. Er nutzte ihn, um landesweit Unterstützergruppen zu gründen, die seine Arbeit auf lokaler Ebene fortsetzten. Heute sind alle diese Komitees als »extremistisch« verboten.

2020 zeigte Nawalny auf einer Flugreise von Sibirien nach Moskau Vergiftungssymptome. Nur weil der Pilot sofort eine Notlandung in der nächsten Großstadt Omsk machte, konnte Nawalnyj gerettet werden. Danach kurierte er sich mehrere Monate als persönlicher Gast der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin aus und produzierte in einem Videostudio im Südschwarzwald seine letzte große Enthüllung über Putins Palast. Bei seiner Rückkehr nach Russland im Januar 2021 wurde er sofort verhaftet und ist seitdem nicht mehr auf freiem Fuß gewesen. Seine Ehefrau Julija war als seine Stellvertreterin auf die Münchener »Sicherheitskonferenz« geladen. Dort erklärte sie, Wladimir Putin sei alles zuzutrauen. Insofern wird Nawalny noch nach seinem Tod in einer westlichen Choreographie mitspielen, die sich schon abzeichnet: die russische Präsidentschaftswahl im März und die Legitimität, die Putin aus ihr schöpfen will, schon im voraus anzuzweifeln. Einen Missbrauch wird man das nicht nennen können. Nawalny ist nie davor zurückgeschreckt, auch sein eigenes Leben in die Waagschale zu werfen. Diesen Mut kann man ihm bei aller Distanz zu seinen Auffassungen nicht absprechen.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Mehr aus: Ausland