»Das muss endlich angegangen werden«
Interview: Gitta DüperthalDie hohe Schulabbrecherquote von 12 Prozent gefährdet den »Wohlstand« in Deutschland, klagt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Größer ist der Anteil innerhalb der EU lediglich in Rumänien, Spanien und Ungarn. Wie kommt es, dass Deutschland hier zu den Spitzenreitern gehört?
Es ist typisch FDP, an erster Stelle den Wohlstand des Landes im Blick zu haben, nicht die Zukunft der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Wir teilen aber die Sorge, dass so viele von ihnen die Schule ohne Abschluss verlassen. Bildung in Deutschland ist generell unterfinanziert. In Berlin bringen zwar Programme Geld ins System. Eine Untersuchung dazu, was sie bewirken, fehlt aber: auch wenig hilfreich!
Warum schaffen so viele Schülerinnen und Schüler den Schulabschluss nicht?
Die wenigsten treffen bewusst die Entscheidung, die Schule verlassen zu wollen. Sie haben oft an der allgemeinbildenden Schule keinen Erfolg gehabt, Misserfolge erlebt und wurden zu wenig aufgefangen. Bei weiterbildenden Schulen gibt es die Mentalität: Der Schüler oder die Schülerin ist für die entsprechende Schulart nicht gemacht. Man schickt sie weiter. In Berlin gibt es neuerdings zumindest das 11. Pflichtschuljahr: Damit ist es möglich, zu schauen, wie es für Zehntklässler ohne konkrete Perspektive weitergehen kann, ohne dass sie in die Arbeitslosigkeit abdriften.
Welcher Zusammenhang besteht zur Kinderarmut?
Wenige Akademikerkinder verlassen die Schule vorzeitig. In Deutschland ist der Bildungsabschluss in hohem Maße von der sozialen und wirtschaftlichen Herkunft abhängig. Es gibt kaum wirksame Instrumente, um gegenzusteuern. In Berlin haben wir seit 2009 die Gemeinschaftsschule: Alle lernen bis zur zehnten Klasse gemeinsam. Schülerinnen und Schüler werden nicht frühzeitig auf der Grundlage einer ihnen vermeintlich bevorstehenden beruflichen Zukunft aussortiert. Das ist der beste Weg, die Bildungschancen, den wirtschaftlichen Erfolg und die soziale Herkunft zu entkoppeln. Es braucht aber mehr Ressourcen: mehr Schulsozialarbeiterinnen und motivierte Lehrkräfte, kleinere Klassen und attraktivere Arbeitsbedingungen – auch auf dem Land. Das muss endlich angegangen werden.
Spielt auch das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket eine Rolle? Beklagt wird häufig, viele derjenigen, die es benötigen, würden es wegen bürokratischer Hürden nicht beantragen. Ämter seien mit der Bearbeitung überfordert.
In Berlin habe ich das eher wenig erlebt. Es ist aber nur eine Symptombekämpfung. Die Schule muss gut ausgestattet und so in die Lage versetzt werden, mit ihren Mitteln allen Kindern gerecht zu werden: Unabhängig davon, aus welchen wirtschaftlichen Verhältnissen sie kommen – und ohne dass Familien oder Schulen pro Kind irgend etwas beantragen müssen. Deutschland liegt aber mit den Bildungsausgaben unter dem Durchschnitt der OECD-Länder. Wir brauchen insgesamt Milliarden Euro mehr im System. Und zwar nicht nur für die baulichen Veränderungen der teilweise maroden Schulen.
Wie kann es sein, dass die Bildungsministerin von der FDP die Zustände im eigenen Einflussbereich öffentlich beklagt, statt sie zu ändern?
Das kann sie machen, weil sie das Versagen den Bundesländern zuschieben kann. Es braucht aber eine gemeinsame Anstrengung der Bildungsminister der 16 Bundesländer und der Bundesministerin, um Grundsätzliches zu ändern. Kurzfristige Maßnahmen reichen nicht: Auch Jugendgewalt hängt mit fehlenden Perspektiven zusammen, da spielen Schule und Bildung eine zentrale Rolle.
Ist der Föderalismus das Problem?
Nein. Von der Mecklenburgischen Seenplatte bis in den Schwarzwald muss es unterschiedliche Lösungen geben. Aber die Bundesbildungsministerin ist in derselben Partei wie der Bundesfinanzminister. Es gilt, sich durchzusetzen. Christian Lindner könnte die Reichen mehr besteuern, um Geld für die Bildung herauszuholen. So hätte er die Chance, die FDP aus dem Umfragetief herauszuholen.
Tom Erdmann ist Landesvorsitzender der GEW in Berlin
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ronald B. aus Kassel (15. Februar 2024 um 14:08 Uhr)Als sollte es – den letzten Satz betreffend – wo auch nicht zuvörderst da denn doch überhaupt die Sorge der GEW sein, »die FDP aus ihrem Umfragetief herauszuholen« – schwach.
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