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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 12 / Thema
Bertolt Brecht

Vernutzte Proletarier

Vor 126 Jahren wurde Bertolt Brecht geboren. Über Krieg und Ausbeutung in dessen frühen Stücken
Von Sabine Kebir
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Krieg und Ökonomie interessierten schon den frühen Bertolt Brecht, wie dessen dramatische Anfänge zeigen

In dem Aufsatz »Bei Durchsicht meiner ersten Stücke« stellte Bertolt Brecht anlässlich der für 1955 geplanten Gesamtausgabe seiner Werke fest, dass sie ihm nicht mehr viel sagten, weil es nur um Privates zu gehen schien. Was konnte ein Stück wie »Baal«, in dem ein Mann aus der kapitalistischen »Verwurstung« ins soziale Abseits floh, noch einem Publikum mitteilen, das sich in eine sozialistische Arbeitsgesellschaft transformierte?

Dass Brechts 1927 beginnende Marxismusstudien einen entscheidenden Umbruch seiner Dramaturgie auslösten, ist unbestreitbar. Weil auch sein Publikum immer mehr von politischer Ökonomie verstand, wurde die poetische Sprache von Brechts vormarxistischem Werk immer weniger verstanden oder nur im anarchistischen Sinne gedeutet. Da politökonomisches Wissen heute wieder abgenommen hat, können seine frühen Stücke für die Theater aber wieder interessant werden. Immerhin richteten sie sich facettenreich und entschieden gegen Krieg und Ausbeutung.

Das im September 1922 in München uraufgeführte und anschließend im Dezember in Berlin im Deutschen Theater gespielte Antikriegsstück »Trommeln in der Nacht« wurde von Kritikern als große Dichtung bejubelt. Brecht erhielt den Kleist-Preis dafür. Da sich der Publikumserfolg in Berlin aber in Grenzen hielt, wurde es bereits Anfang Januar 1923 wieder abgesetzt.

»Ich kann nimmer gut reden mit dir«

»Trommeln in der Nacht« spielt im kleinbürgerlichen Milieu, wo man sich kurz nach Kriegsende bereits wieder eine »dionysische« Zukunft bauen will. Vater Balicke versucht, die zögerliche Tochter Anna zu überzeugen, den Kriegsgewinnler Murk zu heiraten und sich ihren als in Afrika vermisst geltenden Jugendfreund Kragler aus dem Kopf zu schlagen: »Ich sage dir, der Kerl ist verfault und vermodert, von dem ist nicht mehr ein Knochen beim andern! Vier Jahre! Und kein Lebenszeichen! Und die ganze Batterie ist gesprengt! In die Luft! Zu Fetzen! Vermisst! Na, Kunststück, sagen, wo der hingekommen ist! Das ist nur deine verfluchte Angst vor Gespenstern! Schaff dir einen Mann und du brauchst Gespenster nachts nicht mehr zu fürchten.«

Der arrivierte Murk, von dem Anna bereits schwanger ist, war früher ein einfacher Arbeiter: »Ich bin zwanzig Jahre in Dachzimmern geflackt, gefroren bis auf die Knochen, habe jetzt Knopfstiefel an (…). Ich habe im Finstern geschwitzt, bei Gaslicht, es lief in die Augen, jetzt habe ich einen Schneider. (…) Der Krieg hat mich auf den berühmten grünen Zweig gebracht! Es lag ja auf der Straße, warum’s nicht nehmen, wäre zu irrsinnig. Nähm’s eben ein anderer. Der Sau Ende ist der Wurst Anfang! Richtig betrachtet, war der Krieg ein Glück für uns. Wir haben das Unsere in Sicherheit, rund, vollkommen, behaglich.«

Schauplatz ist Berlin – vor dem Hintergrund eines neuen, aber fiktiven Spartakusaufstands. Da Kragler schon vier Jahre als vermisst gilt, kann es sich nicht um die reale Revolution von 1919 handeln. Deutlich wird, dass die Wirkung des Aufstands auf die Gesamtbevölkerung begrenzt ist. Man hört Detonationen und Schüsse aus dem Zeitungsviertel, und es scheint nicht ganz ungefährlich, auf die Straße zu gehen. Dennoch wird beschlossen, die Verlobung in der Picadilly-Bar zu feiern, die jetzt Bar »Vaterland« heißt.

Während sich Murk und Anna bereits auf den Weg gemacht haben, tritt der vermisste Kragler in die Wohnung der Balickes – laut Regieanweisung »in kotiger, dunkelblauer Artillerieuniform mit kleiner Tabakpfeife«. Obwohl die alten Balickes ihm jede Hoffnung auf Anna nehmen, folgt Kragler ihnen in die Picadilly-Bar. Als er auf Anna zugeht, brüllt Balicke: »Sind Sie besoffen? Habenichts! Anarchist! Frontsoldat! Sie Seeräuber! Sie Zibebengespenst! Wo haben Sie Ihr Bettlaken?« Auf Kraglers Gefangenschaft in Afrika anspielend, beschimpft er ihn: »Ein Gesicht wie ein, wie ein verkrachter Elefant! Total kaputt, das! Unverschämtheit.«

»Anna: Haben dich nicht die Fische gefressen? (…) Bist du nicht in die Luft geflogen? (…) Haben sie dich nicht durchs Gesicht geschossen?

Kragler: (…) Seh ich so aus? (…) Ich bin wie ein altes Tier zu dir gekommen. (…) Ich habe eine Haut wie ein Hai, schwarz. (…) Und ich bin gewesen wie Milch und Blut. (…) Und dann blute ich immerfort, es läuft einfach fort von mir … (…). Ich habe geschwollene Hände, dran sind Schwimmhäute, ich bin nicht fein, und die Gläser zerbreche ich beim Trinken. Ich kann nimmer gut reden mit dir.« Das hier von Brecht gezeichnete Bild des kriegsvernutzten Proletariers erinnert stark an dessen Darstellungen bei George Grosz.

Im Kampf der beiden Rivalen wird Kragler immer wieder gesagt, dass er eben zu spät gekommen sei, dass er kein Recht mehr auf Anna habe – sprich: auf ein normales Leben. Auch hat er keinen Anspruch auf allzuviel Ehre: Murk, der kein Soldat gewesen ist, schmettert ihm entgegen: »Wollen Sie ins Tabernakel gestellt werden, weil Sie die afrikanische Sonne verschluckt haben? Ich habe gearbeitet! Ich habe geschuftet, bis mir das Blut in den Stiefeln gestanden ist! Sehen Sie sich meine Hände an! Sie haben die Sympathie, weil Sie sich haben hauen lassen, ich habe Sie nicht gehaut! Sie sind ein Held, und ich bin ein Arbeiter! Und das ist meine Braut.« Und er posaunt: »Ich gehöre zu den Leuten, die eure Heldentaten bezahlen sollen.«

Hier entfaltete sich ein recht umfassendes Pan­optikum der Absurdität des Krieges. Auf der einen Seite steht der Totalgeschädigte, auf der anderen Seite der Kriegsgewinnler – allerdings kein Vertreter des Großkapitals, sondern ein Aufsteiger aus dem Proletariat. Dass beide einem gemeinsamen »Vaterland« angehören sollen, war als Zumutung erkennbar. Weshalb das Stück überall Skandale hervorrief.

Den Heldentod sterben

Zu Beginn des vierten Aktes singt der Destillateur der Picadilly-Bar zur Klampfe die »Moritat vom toten Soldaten«, die schon in einem Programmheft unter dem Titel »Legende vom toten Soldaten« zu lesen war – wie auch in der 1923 bei Kiepenheuer erschienenen Lyriksammlung »Hauspostille«. Brecht selber hatte das provokante Lied, das die totale Vernutzung des Menschen im Krieg surreal bloßstellt, bereits im Dezember 1921 auf Trude Hesterbergs »Wilder Bühne« zur Klampfe gesungen und einen Tumult ausgelöst. Hesterberg erinnerte sich: »Ich musste notgedrungen den Vorhang fallen lassen, um dem Radau ein Ende zu machen, und Walter Mehring ging vor den Vorhang und sagte jene bedeutsamen Worte: ›Meine Damen und Herren, das war eine große Blamage, aber nicht für den Dichter, sondern für Sie! Und Sie werden sich noch eines Tages rühmen, dass Sie dabei gewesen sind!‹«

1925 wurde die »Legende vom toten Soldaten« Anlass für die bereits erstarkenden Nazis, Brecht auf ihre »schwarze Liste« zu setzen. 1932 kam es wegen des Liedes zu einem Gotteslästerungsprozess in Karlsruhe. 1935 wurde das Lied zur Begründung für Brechts Ausbürgerung herangezogen.

Dass das Streben nach persönlichem Glück ein Menschenrecht ist, verbindet »Trommeln in der Nacht« mit Brechts dramatischem Erstling »Baal«. Baal stirbt, aber Kragler kann am Ende mit seiner Braut abziehen – allerdings in eine ungewisse Zukunft, ins »Dickicht der Städte«, so der Titel von Brechts nach »Trommeln in der Nacht« verfasstem Stück.

Dort erwartet den Proletarier – und deutlicher als in »Trommeln in der Nacht« auch die Proletarierin – kein lebenswertes Leben, sondern Ausbeutung, ebenfalls mit erheblicher Vernutzung. Das Stück hatte unter dem Titel »Im Dickicht« am 9. Mai 1923 Premiere im Residenztheater München. Erich Engel führte Regie, Kaspar Neher verantwortete das Bühnenbild – zwei Künstler, die lebenslang mit Brecht zusammenarbeiteten.

»Baal« spielte noch in Brechts heimatlicher Umgebung Bayern, »Trommeln in der Nacht« in der deutschen Hauptstadt, »Im Dickicht der Städte« schließlich hat eine fiktive Stadt namens Chicago als Handlungsort. Brecht nutzte hier nicht nur die Faszination, die die Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit mit seiner Europa umgarnenden kulturellen Hegemonie ausübte. (Sowohl in »Trommeln« als auch in »Dickicht« wird unglaublich viel gesoffen, oft Cocktails, deren Namen ein Priester der Heilsarmee als himmelschreiende Sünde laut vorliest: »Cherry-Flip, Cherry-Brandy, Gin-Fizz, Whisky Sour, Golden Slipper, Manhattan Cocktail, Curacao extra sec, Orange, Maraschino, Cuisinier und das Spezialgetränk dieser Bar: Eggnog. Dieses Getränk allein besteht aus rohem Ei, Zucker, ­Cognac, Jamaika-Rum, Milch.«) Neben diesem nach Europa herübergeschwappten Kulturgut hatte Brecht Nordamerika aber vor allem als Zentrum des avanciertesten Kapitalismus erkannt – Sehnsuchtsort für proletarische Migranten aus aller Welt, besonders aus den Regionen, in denen vorkapitalistische Not herrscht und noch nicht einmal die Chance bestand, sich ausbeuten zu lassen und damit wenigstens am Leben zu bleiben.

»Dickicht« ist das erste Stück, in dem Brecht den Kapitalismus als System zu erfassen versucht, allerdings in einer extrem dichterischen Sprache. Er selbst monierte 1955 rückblickend, dass es ihm – als damaliger Bewunderer von Sportwettkämpfen – vor allem darum gegangen sei, »einen Kampf, der etwas bewies« darzustellen, womit er sich »ohne es zu wissen, sehr nahe an dem wirklichen Kampf, (…) am Klassenkampf« bewegte. »Ich stellte Wortmischungen zusammen wie scharfe Getränke, ganze Szenen in sinnlich empfindbaren Wörtern bestimmter Stofflichkeit und Farbe. Kirschkern, Revolver, Hosentasche, Papiergott: Mischungen von der Art.«

Mit der Ortswahl USA ist Brechts Dramatik an ihrem endgültigen Ort angekommen: in der kapitalistisch globalisierten Welt. Seine Figuren sind sozial eindeutig Klassen zugeordnet. Innerhalb dieser Klassen gibt es alle möglichen Ethnien – ein bedeutender Grund für die fortdauernde globale Aktualität der Dramen, die er von nun an schreibt. Der erzkapitalistische Holzhändler Shlink, der eigentlich Wang Yen heißt, ist angeblich ein Malaie, der aus dem japanischen Yokohama stammen soll, aber allgemein für einen Chinesen gehalten wird. Sein Gehilfe Skinny ist wirklich Chinese.

Alles wird zur Ware

Erkannt hatte Brecht bereits, dass der Kapitalismus alles zur Ware macht, nicht nur den Menschen, sondern auch seine Ansichten, was jeden mehr oder weniger manipulierbar macht. Höchst eindrucksvoll wird das in der Eingangsszene demonstriert. Shlink und Skinny treten in eine Leihbibliothek. Schnell stellt sich heraus, dass sie an keinem bestimmten Buch interessiert sind, sondern an der Ansicht, die der Angestellte Garga über das Buch hat, das er ihnen empfiehlt. Shlink will diese Ansicht kaufen und erhöht sein Angebot, je stärker Garga, der zuerst eine Absurdität, dann aber schnell einen Hinterhalt befürchtet, es ablehnt. Schließlich zeigt sich, dass Shlink einen gegen Bestechung sehr widerstandsfähigen Menschen gesucht hat, einen »Kämpfer« wie er sagt, den er für einen großen geschäftlichen Coup ausnutzen kann: Er will eine bestimmte Holzmenge mit einem Trick doppelt verkaufen, ohne dafür selbst haftbar gemacht zu werden.

Garga lebt mit seinen Eltern in plastisch vergegenwärtigtem Elend: Sie kamen »aus dem flachen Land« nach Chicago. Man »schläft zu dritt neben einem geplatzten Ausgussrohr. Ich rauche abends, um schlafen zu können. Die Fenster sind geschlossen, da Chicago kalt ist, wenn es Ihnen Spaß macht.« Seine Geliebte Jane »näht Hemden zu zwei Dollar das Stück. Reingewinn zwölf Cent. Ich empfehle sie Ihnen. Wir sind sonntags zusammen. Die Flasche Whisky kostet achtzig Cent, nicht mehr und nicht weniger als achtzig Cent, wenn es Sie unterhält.« Auch Gargas Schwester Marie, die, wie sich später herausstellt, bereits längere Zeit als Wäscherin in Shlinks Betrieb arbeitet, kommt auf keinen grünen Zweig. Obwohl Garga das Risiko des doppelten Holzverkaufs kennt, kann er Shlinks Angebote letztlich nicht abschlagen und wird juristisch zum Besitzer des Holzhandels. Hier scheint sich der »amerikanische Traum« zu verwirklichen, wonach jeder vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann. Da aber auch Millionäre alles verlieren können, taucht Shlink als Kohlenschlepper ins Proletariat ab. Das ist aber nur Tarnung, denn er versorgt, wie versprochen, Gargas Eltern ziemlich üppig. Die Proletarierinnen Jane und Marie werden zu Edelprostituierte gemacht.

Um sich von der Verantwortung für das doppelt verkaufte Holz zu befreien, verschenkt Garga den Betrieb an die Heilsarmee, unterlässt es aber, wie er ursprünglich vorhatte, seinen alten Traum zu verwirklichen und sich nach Tahiti abzusetzen. Deshalb muss er dann doch für drei Jahre ins Gefängnis. Er hat sich allerdings eine Rache ausgedacht, die uns als Waffe in den heuchlerisch puritanischen USA bis heute wohlbekannt ist: gesellschaftliche Vernichtung durch eine Anklage im sexuellen Bereich. Vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis veröffentlicht er einen Brief, in dem er behauptet, dass Shlink seine Schwester Marie vergewaltigt habe. Garga weiß, dass er damit die rassistische Lynchjustiz gegen den Asiaten hetzt, was auch prompt eintritt. Doch kommt es zu einer interessanten Verlangsamung der Vorgänge. Shlink kann ihn überreden, sich mit ihm zusammen zu verstecken, und stirbt schließlich eines natürlichen Todes, bevor der Mob ihn findet. Das Proletariat hat also vor der letzten Konsequenz zurückgeschreckt, den Ausbeuter nur gestresst, nicht aber beseitigt. Garga ist noch jung und kräftig, er wird seine Arbeitskraft woanders ausbeuten lassen.

Nach unten treten

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass auch der Kapitalist Shlink ein Emporkömmling aus dem Proletariat ist. Einmal erzählt er aus seiner Jugend, die er »auf den Ruderbooten auf dem Jangtsekiang« verbracht hat. »Der Jangtse marterte die Dschunken. Die Dschunken marterten uns. Ein Mann trat uns, sooft er über die Ruderbank ging, das Gesicht platt. Nachts war man zu faul, das Gesicht wegzutun. Merkwürdigerweise war der Mann nie zu faul. Wir hinwieder hatten eine Katze zum Martern; sie ersoff beim Schwimmenlernen, obwohl sie uns die Ratten vom Leibe gefressen hatte.« Hier wird ein weiteres wichtiges Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft demonstriert: Obwohl aufgrund der juristischen Gleichheit theoretisch jeder aufsteigen kann, was Shlink ja gelungen ist, bleibt die Gesellschaft streng hierarchisiert. Machtlose halten das besser aus, wenn sie auf noch Machtloseren herumtrampeln können. Die letzten der Machtlosen trampeln auf den Tieren herum.

Ein Gag, der heute in Beziehung zur in Gang gekommenen Klimakatastrophe gesetzt werden kann, ist in einer Äußerung von Gargas Geliebter Jane angelegt: »Es ist heiß heute – vierundneunzig Grad« – ein das Publikum schon damals schockierender Witz, der durch die in den USA bei der Temperaturmessung üblichen Anwendung der Fahrenheit-Skala entstand. Übersetzt wären etwa 30 Grad Celsius zu nennen gewesen. Eine weitere, sehr modern anmutende Facette sind mehrere Anspielungen auf für völlig normal geltende homosexuelle Beziehungen.

Ich habe hier versucht, eine Art Fabel von »Im Dickicht der Städte« herzustellen. Tatsächlich ist das Stück wegen seiner hochgradig poetischen und die Verhältnisse stark verfremdenden Sprache schwer verständlich, wenn es auf der Bühne gespielt wird. Es gibt selten Dialoge im eigentlichen Sinne, weil zwischen zwei Personen oft Dritte und Vierte miteinander sprechen – ein sprachliches Tohuwabohu, das das Chaos im »Dickicht der Städte« vermitteln will. Man tut gut daran, das Stück mehrfach zu lesen – es erschließt sich dann in seiner Schönheit immer deutlicher.

Das zeitgenössische Publikum hat die Sprachsalven vielleicht als eine Variante der damaligen Dada-Mode hingenommen. Bei der Premiere am 18. April 1923 in München erkannten rechte Parteien dennoch sofort den systemsprengenden Charakter des Stücks als »Verherrlichung des Kommunismus«. Am 18. Mai warfen Nazis während der Vorstellung Stinkbomben in den Zuschauerraum, so dass das Publikum das Theater verlassen musste. Nach gründlicher Lüftung wurde trotzdem weitergespielt. Am 7. Juli wurde »Im Dickicht der Städte« schließlich wegen fortlaufender Proteste abgesetzt.

Viele in den ersten Stücken angeklungene Motive tauchen in den Dramen der folgenden Jahre, die sprachlich immer klarer werden, wieder auf. Die skrupellose Verführung und Vernutzung des proletarischen Menschen als Kämpfer in uneigener Sache wird in »Mann ist Mann« erneut thematisiert. Die bereits in »Dickicht« erwähnte Heilsarmee wird zum großen Thema in der Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, die Brecht ein Jahr nach »Trommeln in der Nacht« kennenlernte. Bereits in diesem Stück hatte er über die Sinnlosigkeit von Wohltätigkeit zur Weltverbesserung gespottet, weil die Wurzeln der Verarmung unberührt bleiben. Brecht schrieb Hauptmann den roten Faden des dann von ihr verfassten und unter ihrem Namen 1928 aufgeführten Stücks »Happy End« auf. Zusammen mit Kurt Weill steuerte er die berühmten Songs bei. Die Heilsarmee als untaugliches Korrekturinstrument des Kapitalismus wird nochmals zum Hauptthema in »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«, ein Stück, das noch von der Buntheit der frühen Dramen geprägt ist, aber schon als marxistisch bezeichnet werden kann.

Sinnloses Sterben?

Die Vernutzung des Proletariers im Krieg und durch Ausbeutung seiner Arbeitskraft sind auch Themen in Brechts früher Lyrik. Weniger bekannt als seine Gedichte über das Leid von Soldatenmüttern ist das »Lied der Eisenbahntruppe von Fort Donald«, das am 13. Januar 1923 im Berliner Börsen-Courier erschien. Es weist viele Parallelen zur »Ballade von den Seeräubern« auf, formuliert allerdings eine deutlich schärfere Sozialkritik. Die, die hier ertrinkend singen, sind ungeschützte Arbeiter, die beim Bau einer Eisenbahnbrücke über dem Eriesee von einer Sturmflut überrascht werden.

Schon in den Augen des frühen Brecht war der Heldentod des Proletariers in imperialistischen Kriegen sinnlos. Nach der marxistischen Wende wird auch der Tod im Klassenkampf und in den antikolonialen Kämpfen sein Thema. Man denke an Pawels Tod in Brechts Bearbeitung von Maxim Gorkis »Die Mutter« oder an die Lehrstücke »Die Maßnahme« und »Der Ja-Sager und der Nein-Sager«. Anders als häufig im Mainstream linker Politik und Kultur hütete sich Brecht, um dieses Sterben einen Märtyrerkult zu ranken, der einem Pendant zur Ideologie des Heldentods fürs Vaterlands mit anderen Vorzeichen gleichgekommen wäre. Insbesondere die beiden Lehrstücke wollten vermitteln, dass dieses Sterben nicht selbstverständlich, sondern hochgradig diskutabel sein müsse. Ich habe einmal einer Aufführung des »Ja-Sagers und des Nein-Sagers« in Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten beigewohnt, wo dem Publikum das Stück völlig unbekannt war. Nach dem ersten Teil, in dem sich der Ja-Sager bereit erklärt, sich für das Wohl der Gemeinschaft zu opfern, brandete großer Beifall auf. Aber er verdoppelte sich, als sich die Figur am Ende des zweiten Teils dagegen entschied.

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 28. November 2023 über die Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Annermaie Auer: »Die Massenkultur im Blick«.

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