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Aus: Ausgabe vom 07.02.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Thukydides-Falle

Von Jörg Kronauer
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Unvermeidlicher Konflikt? Seeschlacht der griechischen Mächte Sparta und Athen im Peloponnesischen Krieg

Wo liegen die eigentlichen Ursachen für Kriege? Die Frage stellte sich schon der griechische Geschichtsschreiber Thukydides, der in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung lebte. Eine Antwort gab er für den Peloponnesischen Krieg, dessen Verlauf er in seinem gleichnamigen Hauptwerk schilderte. Es war ein Waffengang, den in den Jahren von 431 v. u. Z. bis 404 v. u. Z. die damals fest etablierte Großmacht Sparta und die aufstrebende Macht Athen gegeneinander führten. Warum? Natürlich gab es konkrete Auslöser für den Krieg. Durchdachte man ihn aber konsequent, dann musste man, das meinte jedenfalls Thukydides, zu dem Schluss gelangen: »Es waren der Aufstieg Athens und die Angst, die er in Sparta auslöste, die den Krieg unvermeidlich machten.« Der wirkliche Grund, der zur Gewalt trieb, war also die Rivalität einer auf- und einer tendentiell absteigenden Macht.

Mit einer Frage, die überhaupt nichts mit der klassischen Antike, sondern ausschließlich mit der Gegenwart zu tun hatte, war vor einem guten Jahrzehnt Graham Allison befasst, damals Direktor des Belfer Center for Science and International Affairs an der renommierten Harvard Kennedy School in Cambridge (Massachusetts). Allison, ein in den USA recht prominenter und durchaus auch einflussreicher Politikwissenschaftler, beschäftigte sich mit dem Aufstieg Chinas und mit den Folgen, die dieser für die Vereinigten Staaten und für die Welt mit sich brachte. Die Volksrepublik, da machte Allison sich keine Illusionen, werde die USA »im nächsten Jahrzehnt überholen und zur größten Volkswirtschaft der Welt werden«. Es könne niemanden überraschen, dass sie künftig wohl »Korrekturen an den Regeln« verlangen werde, die andere für die Welt festgesetzt hätten, schrieb er im August 2012 in einem Beitrag für die Financial Times – Korrekturen etwa an der »Pax Pacifica«, der Ordnung also, die die USA Ost- und Südostasien auferlegt hatten. Und dann?

Klar war: Da dämmerte ein ernster, schwerer Konflikt herauf. US-Präsident Barack Obama hatte im November 2011 den »Pivot to Asia«, den Schwenk der Vereinigten Staaten nach Asien verkündet, konkret: Das Vorhaben, die eigenen Positionen in Ost- und Südostasien zu stärken – auch militärisch –, um weitere Machtzuwächse der Volksrepublik zu stoppen oder doch wenigstens zu bremsen. Der Konflikt zwischen der auf- und der tendenziell absteigenden Macht trieb, so fürchtete Allison, in letzter Konsequenz zum Krieg. Allison beschloss, dies zum Thema der öffentlichen Debatte zu machen, und um nicht nur die Schärfe des Konflikts schonungslos offenzulegen, sondern sie auch mit einem zündenden Gedanken zu verbinden, der sich in den Köpfen festsetzen würde, wählte er den Vergleich mit Thukydides’ Analyse des Peloponnesischen Krieges.

Zugleich warb Allison für die Hoffnung, das Schlimmste lasse sich verhindern. Thukydides habe kein unvermeidliches Schicksal geschildert, sondern eine »Falle«, der man entkommen könne, schrieb er in seinem Beitrag für die Financial Times. In den folgenden Jahren untersuchte er 16 Konflikte zwischen auf- und absteigenden Mächten in den vergangenen fünf Jahrhunderten; drei Viertel davon waren in Kriege gemündet. 2017 veröffentlichte er ein Buch, in dem er fragte, ob die USA und China die »Falle des Thukydides« umschiffen könnten. Darin suchte er aus einer Analyse des einen Viertels der Großmachtkonflikte, die nicht zum Krieg geführt hatten, Methoden herauszufiltern, um das Schlimmste zu verhindern. Eine davon: »Eine satte wechselseitige ökonomische Abhängigkeit«, schrieb er, »erhöht die Kosten eines Krieges und mindert so seine Wahrscheinlichkeit«. Als sein Buch erschien, bereitete US-Präsident Donald Trump Schritte zum Decoupling vor, zur wirtschaftlichen Entkopplung der USA von China, die einen Krieg ökonomisch möglich macht. Seinem Buch gab Allison letztlich den Titel »Destined for War«: »Zum Krieg bestimmt«. Ohne Fragezeichen.

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