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Aus: Ausgabe vom 05.02.2024, Seite 12 / Thema
Geopolitik

Eine eigene Seidenstraße

Aserbaidschan und vor allem die Türkei wollen ihr weltpolitisches Gewicht erhöhen und verfolgen dafür ehrgeizige Pipelinepläne
Von Tim Krüger
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Wollen hoch hinaus: Der türkische Staatschef Erdoğan und sein aserbaidschanischer Amtskollege Alijew, Baku, 13. Juni 2023

Spätestens seit der Eskalation des Krieges in der Ukraine und seinen weitreichenden Folgen ist das Thema der Energiesicherheit in den Fokus des politischen und öffentlichen Diskurses gerückt. Auch wenn mehrere EU-Länder allen Sanktionen und aller Feindrhetorik zum Trotz weiter kräftig russisches Erdgas importieren, hat die Eskalation des Konfliktes in Osteuropa die Diskussion um die notwendige Diversifizierung der europäischen Energieversorgung weiter angeheizt. Die Abhängigkeit von russischen Energieimporten stellte die europäischen NATO-Mächte schon seit längerem vor ernstzunehmende Probleme. Nicht erst seit dem großangelegten Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist man sich in den Generalstäben und der politischen Führung der westlichen Welt durchaus bewusst, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem geopolitischen Konkurrenten und Herausforderer nicht vom Zaun gebrochen werden kann, solange der Abbruch aller ökonomischen Beziehungen zwangsläufig den Zusammenbruch der eigenen Wirtschaft zur Folge hätte.

Dass vor Beginn des Krieges noch 55 Prozent der deutschen Gasimporte aus Russland kamen, hat sich in den vergangenen zwei Jahren wirtschaftlich in aller Härte bemerkbar gemacht. Während die Versorgung der europäischen Märkte durch US-amerikanisches Flüssiggas als gangbare Alternative gehandelt wurde und mit dem Ausbau der LNG-Terminals an Nord- und Ostsee die materielle Grundlage für eine langfristige Abhängigkeit von maritimen Gasimporten gelegt wird, ist der logistische und damit finanzielle Aufwand für den Transport des wertvollen Energieträgers bei weitem höher als bei Gas aus der Pipeline. Es ist weiterhin umstritten, ob langfristig genug Transportkapazitäten zur See zur Verfügung stehen werden, um eine dauerhafte Versorgung zu gewährleisten.

Der südliche Gaskorridor

Doch die Suche nach Alternativen zum russischen Gas begann, anders als man der Medienberichterstattung entnehmen konnte, nicht erst mit der sogenannten Zeitenwende im Februar 2022. Pläne, den europäischen Markt mit Gas aus Katar, Israel oder auch Ägypten zu sättigen und die Abhängigkeit von russischen Gasimporten zu verringern, reichen bis weit in das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre zurück. Auch der Türkei scheint in den Zukunftsplänen zur Sicherung der europäischen Energiesouveränität eine besondere Rolle zuzukommen. So berichtete das Magazin Business Insider unter Berufung auf ein Strategiepapier der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) schon kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine, im März 2022, dass die Türkei zum zukünftigen »Energie-Hub für Europa« werden könnte. Das Papier stellt fest, dass »der Ausbau des südlichen Gaskorridors und die Nutzung der Türkei als strategischen Energie-Hub mit Zugang zu Gasvorkommen im Kaspischen Meer und östlichen Mittelmeer echte Alternativen bieten« würde. Auch die Potentiale für den Import von »aserbaidschanischem, turkmenischem, irakischem und in Zukunft auch iranischem Öl und Gas seien noch nicht ausgeschöpft«, so das Magazin.

Aufgrund ihrer geographischen Lage hat die Türkei sich schon immer als ein Transferland für Güter aller Art, unter ihnen auch fossile Energieträger, angeboten. Insbesondere in Zeiten, in denen die weltweiten fossilen Energievorkommen absehbar erschöpft sein werden, stellt die Kon­trolle von unterirdischen Energiespeichern sowie der Förderung und des Transports von Energie eine scharfe geopolitische Waffe dar. Nicht zuletzt am Beispiel der westeuropäischen Staaten und der Russischen Föderation zeigt sich sehr deutlich, welche entscheidende Rolle der transkontinentale Energietransport in der global vernetzten Wirtschaftsordnung des 21. Jahrhunderts spielt. Dabei stellt der Ausbau der eigenen Transfer- und Förderkapazitäten eine wichtige Etappe bei der Transformation der Türkei in eine in jeder Hinsicht schlagkräftige Regionalmacht dar. Die Erschließung neuer Quellen im Schwarzen wie im Mittelmeer sowie die Sicherung des Zugangs zu Gas und Öl im Norden der Nachbarländer Irak und Syrien besitzen daher für die türkische Führung eine strategische Bedeutung und sind, neben weiteren Faktoren, der ökonomische Grund für das wiederkehrende Säbelrasseln in der Ägäis, aber auch für die türkischen Besatzungskriege im Nordirak und Nordsyrien.

Doch auch der Ausbau des »südlichen Gaskorridors«, eines Pipelinenetzes, das bisher die aserbaidschanischen Gasfelder am Kaspischen Meer über den Kaukasus und das türkische Staatsgebiet mit den europäischen Netzen verbindet, besitzt eine fundamentale Bedeutung in der türkischen Geopolitik. Schon bei der Eröffnung des türkisch-russischen Projekts »Turkstream« im Januar 2020 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass seine Regierung darauf abziele, die Türkei »zu einem globalen Energie-Hub zu machen.« Turkstream gilt als regionales Äquivalent zum mitteleuropäischen Nord-Stream-Projekt. Über die serbische Balkan-Stream-Pipeline, die direkt an die Turkstream-Pipeline anschließt, fließen weiterhin täglich Millionen Kubikmeter russisches Gas in die Europäische Union.

»Europas Energiesicherheit«

Die Ambitionen der Türkei, sich zu einem Drehkreuz für Energie zu mausern, überschneiden sich dabei mit den Interessen der Mehrheit der europäischen Staaten. Das Rückgrat des »südlichen Gaskorridors«, den Erdoğan in einer Rede anlässlich der Baku Energy Week im Juni 2022, als »Europas vierte Erdgasarterie in dieser kritischen Phase« bezeichnete, bildet die Transanatolische Erdgaspipeline TANAP. Die TANAP verbindet als zentrales Mittelstück die Südkaukasische Pipeline SCPX mit der Transadriatischen TAP, die über Griechenland und Albanien bis nach Italien führt, und sichert damit die Einspeisung von aserbaidschanischem Gas in die europäischen Netze. Das Megaprojekt wurde von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), die 1991 geschaffen wurde, um die Privatisierung der Wirtschaften des ehemaligen realsozialistischen Lagers zu fördern, mit einem Kredit von 500 Millionen US-Dollar unterstützt. Die Pläne für die Erschließung des sich insgesamt auf über 3.500 Kilometer erstreckenden südlichen Gaskorridors, den Erdoğan in einem Artikel in der georgischen Zeitschrift The Diplomat im April 2020 großspurig als die »Seidenstraße der Energie« bezeichnete, lagen schon länger in der Schublade und waren seit 2013 beschlossene Sache.

Das Pipelinenetz liefert seit 2020 durchschnittlich 8,15 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr in die Europäische Union. Es bildet die Voraussetzung für den im August 2022 zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Aserbaidschans autokratischem Regierungschef Ilham Alijew unterzeichneten Gasdeal. Im Rahmen der unterzeichneten Vereinbarungen soll der Gasimport in die EU bis zum Jahr 2027 auf 20 Milliarden Kubikmeter jährlich anwachsen. Öffentliche Kritik am Abkommen, das laut Absichtserklärung auch »erhebliche Investitionen in den Ausbau des Pipelinenetzes des südlichen Gaskorridors« beinhalten soll, wurde wie schon beim deutsch-katarischen Gasdeal im März 2022 mit Verweis auf die Dringlichkeit der Lage und die durch den Ausfall der russischen Lieferungen entstehenden Engpässe abgeschmettert. Doch ein Blick auf die teils jahrzehntelangen Planungen zum Ausbau der Netze und langfristig getätigten Investitionen offenbart, dass das Narrativ von der akuten Notfalldiplomatie alles andere als glaubwürdig ist.

So bemerkte Erdoğan schon im Juni 2022 bei seiner Ansprache in der symbolträchtigen Stadt Shusha in Bergkarabach mehr als zufrieden, dass »die aktuellen Entwicklungen auf der internationalen Bühne« dazu führen, dass »die entscheidende Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Aserbaidschan für die Energiesicherheit Europas nun besser verstanden« werde. Die multiethnische Stadt Shusha wurde im ersten Bergkarabach-Krieg (1992) als letzte Stadt von armenischen Freiwilligenverbänden erobert und war seitdem Teil der völkerrechtlich umstrittenen armenischen Republik Arzach. Im November 2020 wurde die Stadt wiederum von aserbaidschanischen Truppen besetzt und das Bakuer Regime zum Symbol des »patriotischen Krieges« gegen die armenische Verwaltung stilisiert.

In der Schicksalsgemeinschaft

In Shusha unterzeichneten die Staatschefs der Türkei und Aserbaidschans am 15. Juni 2021 eine Deklaration, die zur Grundlage einer Erneuerung des türkisch-aserbaidschanischen Bündnisses werden sollte. Die »Shusha-Deklaration« betont die enge historische, kulturelle und ökonomische Verbundenheit Aserbaidschans und der Türkei sowie ihre Schicksalsgemeinschaft als Teil der »türkischen Welt«. Neben weitreichenden Absichtserklärungen zu einer Ausweitung der Kooperation in den Bereichen Kultur, Sport, Jugend oder auch Wissenschaft widmet sich das Dokument vor allem den wirtschaftlichen und militärischen Fragen der pantürkischen Zusammenarbeit. So wird die »fortschrittliche Rolle der Türkei und Aserbaidschans bei der Umsetzung des strategischen südlichen Gaskorridors« benannt und betont, dass damit zur »Energiesicherheit der Region und Europas« beigetragen und »die Diversifizierung der Erdgasquellen und -routen« gewährleistet werde.

Neben der Frage des Transfers von fossilen Energieträgern widmet sich der Text auch der Ausweitung des allgemeinen Güterverkehrs zwischen den beiden Ländern. So heißt es, dass beide Parteien ihre Zusammenarbeit verstärken wollen, »um die Wettbewerbsfähigkeit des Ost-West-Verkehrskorridors, der durch das Gebiet der beiden Länder verläuft, zu erhöhen«. Ein Blick auf die Karte zeigt jedoch, dass besagter Korridor zwischen Aserbai­dschan und der Türkei nicht »durch das Gebiet der beiden Länder verläuft«, sondern dass zwischen der Autonomen Republik Nachitschewan als Teil Aserbaidschans, der an die Türkei grenzt, und dem Rest des aserbaidschanischen Staatsgebietes, nun einmal immer noch die Republik Armenien liegt. Anders als im Fall von Bergkarabach ist der Grenzverlauf hier international anerkannt und untersteht dem Schutz des Völkerrechts. Für die Türkei und Aserbaidschan stellt die armenische Region Sjunik das entscheidende Hindernis für die langfristige Umsetzung ihrer Abkommen dar. Die Öffnung des sogenannten Sangesur-Korridors, einer direkten und ungehinderten Handels- und Transportlinie zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan durch armenisches Staatsgebiet ist seit Jahren eine der wichtigsten Forderungen der aserbaidschanischen und türkischen Politik.

So ist auch im Waffenstillstandsabkommen von 2020, das die Staatschefs Armeniens und Aserbaidschans nach 44 Tagen des Krieges in Bergkarabach unter Vermittlung der Russischen Föderation unterzeichnet haben, neben der Übergabe eines Großteils der Gebiete der Republik Arzach an Aserbai­dschan, auch festgehalten, dass Armenien den freien Verkehr zwischen Aserbaidschan und seiner autonomen Teilrepublik garantieren muss. Eine von Armenien geduldete Öffnung des Korridors oder eine anderweitig, wenn nötig auch militärisch hergestellte Kontrolle, würde der Türkei und ihren Verbündeten die Möglichkeit verschaffen, auf direktem Wege eine Verbindung über Aserbaidschan, das Kaspische Meer bis nach Turkmenistan und Kasachstan zu erschließen. In der nationalistischen türkischen Presse wurde der Korridor deshalb umgangssprachlich auch gerne als »Turan-Korridor« bezeichnet. Dabei ist Turan der Name der vermeintlichen Urheimat der Turkvölker, die im historischen Mythos des pantürkischen Nationalismus (»Turanismus«) eine Schlüsselstellung einnimmt.

Der moderne türkische Nationalismus lehnt sich dabei stark an sein historisches Vorbild, die alldeutsche bzw. pangermanische Bewegung an, die zum Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Erwachen des deutschen Imperialismus im damaligen Kaiserreich an Einfluss gewann. Viele der späteren Ideengeber und Führer des türkischen Nationalismus erhielten im Rahmen der deutschen Ausbildungsmission im Osmanischen Reich oder in der Offiziersakademie in Potsdam ihre militärischen Sachkenntnisse von der Armee des Kaisers vermittelt oder dienten im diplomatischen Korps des Osmanischen Reichs in Deutschland. Auch Enver Pasha, der nicht nur während des Ersten Weltkriegs als osmanischer Kriegsminister fungierte, sondern auch ein enger Vertrauter Kaiser Wilhelms II. und einer der Hauptverantwortlichen des Genozids an den Armeniern war, diente als Topdiplomat in Berlin, wo er maßgeblichen Anteil am Ausbau der deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft hatte. Ähnlich wie ihre pangermanischen Ideengeber Deutschland sahen die türkischen Protofaschisten um Enver Pasha die türkische Nation dazu berufen, alle Turkvölker von Aserbaidschan bis zu den Uiguren Chinas und den Steppenvölkern Sibiriens unter dem Dach eines großtürkischen Reiches, also Turan, zu einigen.

Die aggressive Stoßrichtung des türkischen Großmachtstrebens nach Osten deckte sich mit dem deutschen »Drang nach Osten«. Dabei spielte vor allem der Zugang zu den südkaukasischen Ölfeldern für beide Verbündeten eine entscheidende Rolle. In der Endphase des Ersten Weltkriegs unternahm Enver Pasha mit der von ihm ins Leben gerufenen Islamischen Kaukasus-Armee und mit tatkräftiger Unterstützung des deutschen Generalstabs einen letzten Vorstoß gegen die sowjetische Kommune von Baku. Nachdem die dortige So­wjetregierung von weißgardistischen Truppen und sie stützenden englischen Verbänden zerschlagen worden war, gelang es den türkisch-aserbaidschanischen Koalitionstruppen am 15. September 1918, die Stadt und die Ölfelder zu erreichen. Doch konnte auch dieser letzte Vorstoß den Mittelmächten nicht mehr helfen. Kein Tropfen Öl erreichte die deutschen Truppen, die OHL-Chef Erich Ludendorff in Georgien hatte zusammenziehen lassen, vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens. Nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte später sollten die deutschen Armeen ein weiteres Mal beim Versuch, zu den begehrten und strategisch notwendigen Quellen vorzustoßen, scheitern.

Ein großtürkisches Reich

Geht es um das Großmachtstreben, so hört man in der Bundesrepublik heute zwar leisere Töne, doch das Problem der Energiequellen bleibt auch weiterhin ein nicht vollständig zu lösendes geopolitisches Problem und bildet gewissermaßen die Achillesferse des deutschen Strebens nach »neuer Macht und neuer Verantwortung«. In der Türkei und auch in Aserbaidschan hingegen halten auch heute zahlreiche politische Kräfte an der strategischen Zielsetzung der Schaffung eines großtürkischen Reiches fest. Die türkische Partei der Nationalistischen Bewegung MHP vertritt als derzeitige Regierungspartei offen turanistische Vorstellungen. Realpolitisch drückt sich das Streben nach »Turan« in der 2009 gegründeten Organisation der Turkstaaten (OTS) aus. Die OTS vereint die Türkei, Aserbaidschan, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan als Mitgliedstaaten, das türkisch besetzte Nordzypern, Turkmenistan und Ungarn als beobachtende Mitglieder. Ihre »Turkic World Vision 2040« zielt vor allem auf eine stärkere kulturelle, politische und wirtschaftliche Integration der Turkstaaten ab, aber auch auf militärischer Ebene kooperieren die Turkstaaten untereinander eng. Dabei nimmt die Türkei traditionell die einflussreichste Position ein, auch weil die Offizierskorps der meisten Turkstaaten nach dem Ende der Sowjetunion von den türkischen Streitkräften ausgebildet worden sind.

Anlässlich des jüngsten außerordentlichen Gipfels der Organisation in Samarkand im März 2023, erklärte der türkische Präsident Erdoğan, dass »die Turkstaaten, dank des südlichen Gaskorridors, dessen Rückgrat die TANAP bildet, eine Schlüsselposition für die europäische Energiesicherheit eingenommen« haben. Laut der russischen Nachrichtenagentur TASS wurde im Rahmen des Gipfels ein trilaterales Abkommen zwischen Turkmenistan, Aserbaidschan und der Türkei unterzeichnet. Schon 2008 hatten die EU und Turkmenistan eine Absichtserklärung über eine zukünftige Steigerung turkmenischer Gasimporte in die EU unterzeichnet. Schon damals wertete die europäische Onlinezeitung EUobserver mit Sitz in Brüssel das Memorandum als eine entscheidende Möglichkeit, die strategische Abhängigkeit von russischen Importen zu verringern. Unklar blieb jedoch, wie die nötige Infrastruktur geschaffen werden könnte. So findet der Ost-Westtransfer von turkmenischem Gas bisher nur über die russischen Netze statt und der größte Teil des Exportes fließt in die Volksrepublik China.

Vor allem nachdem der turkmenische Präsident Berdimuhamedov nach dem Fund bisher unbekannter Gasvorkommen im vergangenen Jahr angekündigt hatte, den Gasexport in den nächsten 20 Jahren zu vervierfachen und erklärte, sein Land sei bereit, die europäische Nachfrage auf Jahrzehnte zu decken, könnte der nun diskutierte Bau einer Transkaspischen Pipeline TCP, zu einem wahren Gamechanger im Kampf um die globalen Energieressourcen werden. Das Projekt der TCP wurde erstmalig 1996 von den USA vorgeschlagen, blieb jedoch aufgrund der ungeklärten Frage der Umsetzbarkeit und der instabilen politischen Verhältnisse bisher auf dem Reißbrett. Mit der Verständigung auf eine Unterseegrenze zwischen Aserbaidschan und Turkmenistan 2021 und dem Memorandum des OTS-Gipfels scheint die Realisierung des Projektes in greifbare Nähe zu rücken. So berichtete das türkisch-turkmenische Onlinewirtschaftsmagazin Business Turkmenistan unter Berufung auf das turkmenische Außenministerium, dass die konkrete Umsetzung des Projektes im engen Austausch mit der EU zusehends Gestalt annehme.

Drohungen gegen Armenien

Bisher wäre eine Weiterleitung des turkmenischen Gases nach Europa nur über die südkaukasische Pipeline, also durch Georgien und unter Umgehung von armenischem Territorium möglich. Doch in letzter Zeit wurden vermehrt Spekulationen laut, ob die Türkei und Aserbaidschan nicht langfristig an der Schaffung einer direkten Linie über den Sangesur-Korridor arbeiten könnten. Nachdem Aserbaidschans jüngste Offensive in Bergkarabach am 19. September des vergangenen Jahres nur einen Tag später mit der vollständigen Kapitulation und Auflösung der Republik Arzach geendet hatte und damit die umstrittenen Gebiete wieder vollständig in das aserbaidschanische Staatsgebiet integriert worden waren, befürchteten manche Beobachter, dass nun das verbleibende kleine, aber störende Stück Armeniens in die Zange genommen werden könnte. Für Aufsehen sorgte vor diesem Hintergrund auch die Einweihungszeremonie des ersten Abschnitts der zukünftigen Iğdır-Nachitschewan-Pipeline nur wenige Tage nach der armenischen Kapitulation. Die Pipeline, die an das Netz der TANAP angeschlossen ist, soll vorerst die isolierte Autonome Republik Nachitschewan mit Erdgas versorgen und damit eine Lösung für die anhaltenden Energieengpässe der Region liefern.

Offen bleibt, ob das laufende Bauprojekt in Zukunft auch dazu dienen könnte, Gas aus Aserbaidschan beziehungsweise zukünftig auch aus Turkmenistan in die TANAP-Pipeline einzuspeisen. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings eine Öffnung des Sangesur-Korridors durch ein Einlenken der armenischen Seite oder wahlweise die militärische Eroberung des strategisch wichtigen Stückes Land. Dabei sind die Ambitionen Aserbaidschans kein Geheimnis, und schon 2022 erklärte Alijew öffentlich »West-Sangesur« zum »angestammten Land«. Er drohte, dass niemand Aserbaidschan von der Rückkehr in das »Land der Vorfahren« abhalten könne. In der gleichen Rede erklärte Alijew kurzerhand auch die armenische Hauptstadt Jerewan zu einer »antiken Stadt Aserbaidschans« und bezeichnete ihre Übergabe durch die Regierung der Demokratischen Republik Aserbaidschan 1918 als »unverzeihliches Verbrechen«.

Eine direkte Konfrontation zwischen Armenien und Aserbaidschan dürfte wohl auch andere Akteure auf den Plan rufen. So ist Armenien Teil der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Im Falle eines aserbaidschanischen Überfalles könnte der Bündnisfall ausgerufen werden. Auch die Islamische Republik Iran hatte seit dem Krieg von 2020 mehrfach offen gedroht, dass eine direkte Konfrontation der beiden Staaten an der iranischen Grenze und vor allem ein Erstarken Aserbaidschans die Sicherheitsinteressen des Irans gefährde und die iranischen Truppen zu einem Eingreifen zwingen würde.

In seiner Funktion als Garantiemacht des 2020 geschlossenen Waffenstillstandsabkommens zeigte die Russische Föderation bisher keinen nennenswerten Einsatz für die türkisch-aserbaidschanischen Forderungen nach der Öffnung des ­Sangesur-Korridors. Es versteht sich von selbst, dass ein derartiger Korridor vor allem dann, wenn er in Zukunft auch dem Transfer von fossilen Energieträgern dienen sollte, ein offenes Konkurrenzprojekt zum russischen Angebot darstellen würde. Ganz ohne Turbulenzen würde ein solches Unternehmen wohl kaum ablaufen. Erdoğan erklärte seine Öffnung auf dem Rückflug aus Nachitschewan am 26. September 2023 als eine »Angelegenheit von strategischer Bedeutung«.

Dazu passt, dass die Türkei einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der militärischen Kapazitäten Aserbaidschans liefert. Türkische Waffenlieferungen, vor allem von Kampfdrohnen, nahmen schon in den letzten armenisch-aserbaidschanischen Konfrontationen eine herausragende Rolle ein und entschieden das Geschehen auf dem Schlachtfeld letztlich für Aserbaidschan. Sollten sich die anhaltenden Spannungen im Südkaukasus in einer weiteren militärischen Konfrontation entladen, steht für die armenische Seite viel auf dem Spiel. Die seit 2020 vermehrt auch nahe der armenischen Grenze abgehaltenen gemeinsamen Manöver der türkischen und der aserbaidschanischen Streitkräfte nähren die Befürchtung, die Türkei könnte nunmehr direkt in den Konflikt eingreifen. Dass die aserbaidschanisch-türkische Kollaboration nicht nur eine Gefahr für die armenische Staatlichkeit ist, sondern vielmehr auch eine Bedrohung für die armenische Bevölkerung in der gesamten Region, zeigt nicht zuletzt die Shusha-Deklaration, in der in Bezug auf den Genozid an den Armenien nur die Rede von »unbegründeten Behauptungen (…) gegen die Türkei« ist. Es handele sich um Versuche, »die Geschichte zu verfälschen und historische Fakten durch ihre Verfälschung zu politisieren«. Beide Staaten leugnen bis heute vehement den Völkermord, der in der Deklaration euphemistisch als die »Ereignisse von 1915« umschrieben wird. Seitdem die ehemalige Hauptstadt der armenischen Republik Arzach Stepanakert im September 2023 unter aserbaidschanische Militärverwaltung gestellt wurde, mussten auch die armenischen Straßennamen aserbaidschanischen Neubenennungen weichen. Eine der Hauptstraßen trägt nun den Namen des Völkermörders und Kriegsverbrechers Enver Pasha. Bei solchen historischen Vorbildern der aserbaidschanischen Führung, lässt sich besser verstehen, warum es 120.000 armenische Zivilisten lieber vorzogen, die Flucht zu ergreifen, solange sie noch konnten, als auch nur einen Tag unter aserbaidschanischer Verwaltung zu leben.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. Juli 2022 über die ökonomischen Gründe des Krieges der Türkei gegen Kurdistan.

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