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Aus: Ausgabe vom 02.02.2024, Seite 12 / Thema
Literarische Moderne

Literarischer Tauschwert

Vor 150 Jahren wurde Gertrude Stein geboren, der wir das Referenzwerk der kapitalistischen Literatur verdanken: »The Making of Americans«
Von Stefan Ripplinger
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Gertrude Stein, geboren am 3. Februar 1874 in Allegheny West in Pittsburgh, Pennsylvania; gestorben am 27. Juli 1946 in Neuilly-sur-Seine bei Paris (Aufnahme von 1935)

James Joyce oder Gertrude Stein? Wer von beiden ist bedeutender für die kapitalistische Literatur? Das zu beurteilen, hängt ganz davon ab, was eine oder einer für wichtiger hält: den Gebrauchswert oder den Tauschwert.

Joyce ist der Gebrauchswertmann. Für sein Hauptwerk »Finnegans Wake« (1939) kreierte er in jahrzehntelanger Fisselarbeit ein Wort, in das so viele Bedeutungen, Andeutungen, Idiome gepresst worden sind, dass der Sinn nach allen Seiten überquillt. Nehmen wir einen beliebigen Halbsatz auf der ersten Seite dieses Romans: »(They) went doublin their mumper all the time.« Darin steckt (wie Finnegans-Web freundlicherweise mitteilt) zunächst einmal, wenig überraschend, Dublin, dann die Verdopplung (»doubling«) insbesondere der Geburtsstadt des Dichters (die Doublette von Dublin ist in Georgia, USA), damit auch das Motto des Laurens County in Georgia (»Doubling all the time«), außerdem Giambattista Vicos Vorstellung von der Zirkularität der Geschichte. Im »mumper«, also im Bettler, Schmoller und Betrüger, darf ein Seitenhieb gegen Joyces Sohn Giorgio gesehen werden, der es nicht weit gebracht hat, darüber hinaus verweist das Wort auf einen Angehörigen der Roma. Anagrammatisch geschüttelt, ergibt sich die Ziffer (»number«), der Psychoanalytiker hört Mama und Papa auf Englisch und Französisch (»mum« und »père«), der Säufer Mum, ein süßes Bier … und mit Sicherheit stecken allein in diesem Sätzchen noch Dutzende andere Bedeutungen, die das Joyce-Dechiffrier-Kartell, eine Versammlung trostloser Privatgelehrter, demnächst heben wird. (Finnegans-Web übersieht beispielsweise »mump« als »Grimasse«, die Nähe zu »mumble« oder »mampfen« und selbstverständlich die Mumps).

Bei Gertrude Stein, die vor 150 Jahren, am 3. Februar 1874, geboren wurde, haben wir das krasse Gegenteil, ihre Sprache ist platt wie ein Wiener Schnitzel, schmeckt aber wie billiges Formfleisch, nämlich nach gar nichts. Mehr noch, das Wort scheint seines Dienstes als Träger von Sinn und Bedeutung, sogar von Klang, vorläufig enthoben. Wie die Kritikerin Frieda Grafe schreibt (»Zwei Jahre aus meinem Leben mit Gertrude Stein«, Die Republik, 18–26/1978), werden bei Stein die klassischen Bedeutungsträger und -modulatoren Sub­stantiv und Adjektiv systematisch vernachlässigt, dafür setzt sie möglichst flache Verben, gern als Verlaufsformen, und lässt es Adverbien, Pronomen und Konjunktionen hageln. Kurz, wie nach einer Entkernung bleibt das Gefüge, die Fassade der Sprache übrig. Alles, was deren Strukturen füllt, ist fad, zweitrangig, austauschbar. Aus Substanz wird Relation.

Aus demselben Grund ist aber Grafes Annahme, bei Stein werde Sprache zur »Sache selbst«, zu einem autonomen Objekt, fragwürdig. Schon Steins erstes Meisterwerk lässt an dieser Einschätzung zweifeln: »Melanctha. Each One As She May« (etwa: Jede, wie sie es (ver)mag; 1905).

Blasse »Farbige«

»Melanctha« ist der gewichtige Mittelteil des Erzählungsbands »Three Lives« (Drei Leben). Das Vorbild sind die »Trois contes« (Drei Erzählungen, 1877), das letzte Buch, das Gustave Flaubert veröffentlicht hat. Die »Trois contes« greifen das Schema der Heiligenlegende auf, und zwar in den drei völlig unterschiedlichen Stilen, die Flaubert sich erarbeitet hat, im psychologisch-realistischen (à la »Bovary«), im philosophisch-dramatischen (nach Art seines »Antonius«) und im allegorisch-überhöhten (wie in »Salammbô«). Stein greift sich aus diesem großartigen Angebot nur eine Option heraus, nämlich den psychologischen Naturalismus von »Un cœur simple« (Ein schlichtes Herz), dessen Schema sie dreimal reproduziert; »a rose is a rose is a rose«.

Wir lesen von zwei Dienstmädchen, Anna und Lena, beide (wie die Autorin selbst) aus deutschstämmigen Familien, und eben von Melanctha, die eine Afroamerikanerin ist. Die Geschichte von Melanctha gehört zu den ersten der US-amerikanischen Literatur mit einer schwarzen Heldin. Allerdings – das scheint alles andere als unwichtig – ist Melanctha ungewöhnlich hellhäutig.

Grafes Analyse bestätigt sich: Wenn in dieser Geschichte über »Farbige« alle paar Seiten ein farbiges Wort vorkommt, wirkt es wie ein Riff in einem Text, der, wie zuvor schon »Q.E.D.« (1903), jedoch in mississippihafter Breite eine Dreiecks- oder eigentlich Vierecksbeziehung erzählt. Melanctha ist eine aufgeweckte, wilde, zugleich melancholische junge Frau aus bitterarmen Verhältnissen. Dr. Jeff Campbell dürfen wir uns als einen Arzt von enervierender Bedächtigkeit vorstellen, der vor allem Anstoß daran nimmt, dass seine Leute, die Afroamerikaner, so leicht den »excitements« (Aufregungen) anheimfallen. Jane Harden gibt die verbitterte, aber schlaue Trinkerin und Rose Johnson die schlichte, aber patente Kumpelin. Eine lesbische Beziehung zwischen Melanctha und den Frauen bahnt sich ebenso an wie eine heterosexuelle zwischen Jeff und Melanctha, sämtliche Verhältnisse misslingen.

Mehreres in diesem Melodram weist voraus auf die monumentale Familiensaga »The Making of Americans« (etwa: Das Tun / die Herstellung von Amerikanern, 1903–1911, veröffentlicht 1925), zwei entscheidende Punkte seien genannt: wiederkehrende Muster und Klassifizierung. Diese beiden Aspekte sind einander eng verbunden. Denn zu den Mustern, die unaufhörlich wiederkehren, gehören gerade Klassifizierungen von Personen, man könnte auch sagen: die Charakterologie. Die Charakterologie, die Stein aus dem Spätwerk ihres philosophischen Lehrers William James, aber auch von Otto Weininger übernahm, dessen »Geschlecht und Charakter« (1903) sie gründlich gelesen hatte, ließe sich leicht als der reaktionäre Bodensatz ihres Denkens abtun. Aber bei näherem Hinsehen erweist sich, dass der Versuch der »vollständigen Beschreibung«, die James gefordert hat, nie gelingt, ja gar nicht gelingen kann. Der Grund dafür, die Bestimmungen von Personen gebetsmühlenartig zu wiederholen, ist also der, dass sie sich entweder nicht bestimmen lassen oder, wie in den »Americans«, einer wie der andere ist. Die zu Bestimmenden sind entweder zu besonders oder zu allgemein, um bestimmt zu werden.

Die stete Wiederkehr von Mustern widerstrebt nicht nur einer der hehren Regeln der Rhetorik, die einen sparsamen Wortgebrauch fordert, sondern hemmt den Fortgang der Erzählung in grotesker Weise. Nachdem wir Jeff Campbell schon seit hundert Seiten kennen, kehrt stoisch, als ob wir das nicht längst wüssten, wieder: »Jeff war ein kräftiger, dunkler, gesunder, heiterer Schwarzer.«

So wird auch in der Kneipe erzählt, wo, ganz wie in Refrains von Liedern, auf Formulierungen herumgeritten wird. Der afroamerikanische Romancier Richard Wright berichtet, wie er einer Gruppe von schwarzen Arbeitern am Schlachthof, die kaum des Lesens mächtig waren, die Erzählung dieser berüchtigten Avantgardistin vorgelesen hat: »Sie verstanden jedes Wort. Begeistert schlugen sie sich auf die Schenkel, johlten, lachten, stampften auf und unterbrachen mich fortwährend, um die Figuren der Erzählung zu kommentieren.« Stein ist aber nicht nur am Wörtlichen, Geselligen orientiert. Anders als Grafe meint, will sie nicht autonome Sprache formen, sondern zur Wahrheit gelangen.

Schwache Starke

Wenn etwas an der Geschichte der Melanctha so gar nicht naturalistisch wirkt, dann ist es ihr unaufhörlicher Versuch zu erkennen, einzuordnen, zu klassifizieren. Ein junges, ungewöhnlich eigenständiges Mädchen gibt sich mit »allen Arten« von Männern ab. Aber nicht etwa, wie der von seiner Libido dressierte Lehnstuhlmacho annehmen wird, um es mit ihnen zu treiben, sondern um in aller Keuschheit herauszufinden, was das für »Arten« von Männern sind. Melanctha ist nicht irgendein Ghetto-Girl, sondern eine in Armut und Bedrängnis lebende Wissenschaftlerin.

Zwar fällt Melancthas Wille zum Wissen wesentlich stärker, ja existenzieller aus als der Jeffs, aber auch Jeff denkt auf Schritt und Tritt über das Wesen der Dinge und Menschen nach. Und beide scheitern unentwegt daran, dieses Wesens habhaft zu werden. Ja, ihre Liebesgeschichte ist ein sich schier endlos erstreckender Versuch, einander zu erkennen, aber gerade nicht im biblischen Sinn. Er oder sie weiß nicht, wer sie oder er ist und wer die »real Melanctha« oder der »real Jeff« sein könnte, und so umschleichen sie einander, während Melancthas Mutter stirbt und beerdigt wird, der Winter geht und der Frühling kommt. Und im Sommer wissen sie immer noch nicht, woran sie miteinander sind. Viele Leser werden diese retardierenden Momente verzweifeln lassen, andere (wie mich) versetzen sie in einen köstlichen Schwebezustand. Es ist wie Adalbert Stifters »Nachsommer«, aber ohne Rosen.

Manche Klassifikationen wirken durchaus rassistisch. Ganz in dem Sinn, in dem Dr. Campbell später ihre »excitements« tadelt, ist von der »simple, promiscous unmorality of the black people« die Rede. Die Übersetzerin des Arche-Verlags schreibt für »unmorality« vorsichtshalber »Moral«. Doch entscheidend ist hier gerade nicht diese oder eine andere Behauptung, sondern dass sich keine validieren lässt. Ebendeshalb sind Wiederholungen Befragungen. Wer ist denn beispielsweise ganz und gar »black«? Melancthas Vater vielleicht, der ein unbeherrschter Schlägertyp ist. Aber schon die Mutter bleibt »unbestimmt in ihrer Art« und ist von blasser Hautfarbe. Auch Jane ist wie Melanctha selbst zwar »eine Schwarze, aber so weiß, dass das kaum einer vermutet hätte«, Rose wiederum ist von afroamerikanischer Herkunft, aber von Weißen aufgezogen worden. Bei Dr. Campbell scheint der innere Widerspruch nicht in seiner Herkunft, sondern in seiner Moral zu liegen. Einerseits lehnt er Aufregungen strikt ab, andererseits fehlt ihm nichts so sehr wie die Fähigkeit, sich aufzuregen, sich zu erregen, zu fühlen. Sein überangepasster Versuch, »nach der Regel« zu leben (»living regular«), hält ihn davon ab, überhaupt zu leben. So ist er ruhig und unruhig zugleich, während Melanctha zugleich stark und schwach ist.

Schon in »Melanctha« ergeben die fehlschlagenden Versuche der Protagonisten, einander einzuordnen, den Hauptstrang des Textes. Aber noch fühlte sich Stein verpflichtet, ihre Charakterologie melodramatisch einzubetten. Damit war es in »The Making of Americans« vorbei, nun gab es nur noch Klassifikationen, und vor eine jede wurde der Allquantor gesetzt.

Alle und keine

Mit den »Americans« bleiben wir zwar, wenigstens zur Hälfte des Textes, in dem fiktiven Ort Bridgepoint, in dem auch »Three Lives« spielte. Wir verlassen aber die enge Welt der Marginalisierten und treten in die der ganz und gar Durchschnittlichen ein. Zu Bridgepoint im Osten gesellt sich Gossols im Westen. Im Osten leben die Dehnings, im Westen die Herslands. Nicht ihre Geschichtchen werden hier erzählt, vielmehr geht es um ihre Typisierung. Um nur eine aus diesem Tausendseiter zu wählen: »Mr. Hersland liebte es immer darüber nachzudenken was gut für ihn beim Essen war, er liebte es darüber nachzudenken was gut für jeden um ihn herum beim Essen war, er liebte es alle Arten von Essen zu kaufen, er liebte alle Arten über Essen nachzudenken« (Übersetzung von Lilian Faschinger und Thomas Priebsch). Bis hierhin wiederholt sich, wenn auch wesentlich mechanischer, das epistemologische Verhältnis von »Melanctha«: Es wird nicht etwa festgestellt, Mr. Hersland habe einen gesunden Appetit, vielmehr, dass er mit Vorliebe darüber nachdenkt, wie es wäre, hätte er einen. Er befindet sich also in genau der reflexiven Distanz wie Melanctha, die nicht liebt, sondern darüber nachdenkt, wie es wäre, könnte sie lieben.

Nun tritt aber eine entscheidende Neuerung ein. Sie verdient es, ein Höhepunkt des literarischen Fordismus genannt zu werden: »Es gibt viele Millionen die immer genau wie er gemacht sind, viele Millionen die immer neue Arten zu essen in sich haben, neue Arten über das Essen nachzudenken immer in ihrem Inneren haben.« Und dies wiederholt sich mutatis mutandis durch den kompletten Text. Einer ist nie einer allein, sondern stets ein Exemplar einer vom Fließband rollenden Vielzahl von Humanprodukten. Ja, zuerst und vor allem sind Personen nun Produkte, mit Jean-Paul Sartre stehen wir auf dieser Stufe des Kapitalismus vor der »praktischen Einheit von Mensch und unbelebtem Ding« (»Kritik der dialektischen Vernunft«; 1960).

Was in »Three Lives« erst sprachlich erreicht ist, ist in »The Making of Americans« konzeptuell vollzogen: Die völlige Austauschbarkeit der Elemente, die sich nun als massenhaft hergestellte Waren, als mechanische Dinge zu erkennen geben. Die Herslands und die Dehnings sind »gut zusammengesetzt«, »gehen in Stücke«, haben ­»Instrumentnatur« und »hämmern« ihre Wiederholungen. Die literarische Fabrik arbeitet der sozialen nach.

Über Steins Psychologie nachzudenken, etwa darüber, ob es solche Männer und Frauen jemals gegeben hat, oder ob es sinnvoll wäre, sie in »abhängig unabhängige« und »unabhängig abhängige« einzuteilen, ist müßig. Ebensogut hätte Stein ihre Personen in runde und eckige einteilen können. Interessanter ist das notwendige Versagen der charakterologischen Bemühung und die Unmöglichkeit jeglicher umfassenden Beschreibung.

Wie Stein in ihrer Vorlesung »How Writing is Written« (Wie geschrieben wird, was geschrieben wird) von 1935 feststellte, wollte sie in den »Americans« so »exakt wie Mathematik« sein. »Wenn eins und eins zwei machen, wollte ich, dass die Worte soviel Exaktheit haben wie das. (…) Die ganze Geschichte meiner Arbeit, von ›The Making of Americans‹ an, war eine Geschichte davon.« Es war die Geschichte des Misslingens einer vollständigen Beschreibung der Welt. Stein war eine der ersten, die an diesem ehrgeizigen Versuch scheiterte, ihr hinterher taumelten James Joyce mit dem »Ulysses« (1922), John Dos Passos (»Manhattan Transfer«, 1925), Robert Musil und Ezra Pound. Danach kamen höchstens noch Michel Butor mit »Mobile« (1962) und Marianne Fritz mit »Dessen Sprache du nicht verstehst« (1985). Seither ist die Atomisierung der kapitalistischen Gesellschaften so weit fortgeschritten, dass selbst die einstigen Versuche, ein Gesamtbild zu zeichnen, in Vergessenheit geraten sind.

Am Ende des Romans räumt Stein ihr Scheitern ein: »Ich bin in Verzweiflung und meine Augen sind groß vom Weinen-Müssen und ich habe eine Röte von fiebrigem Gefühl und ich weiß nicht wie jeder Erfahrung macht im am Leben Sein und bei manchen weiß ich es in einer allgemeinen Weise und ich könnte es in einer vollständigeren Weise wissen wenn ich mehr mit demjenigen leben könnte und ich werde nie mit jedem mehr leben, ich kann zweifellos nie mit jedem leben in seinem Sein im Leben, in meinem Sein im Leben.« Selten ist Entfremdung so bewegend in Worte gefasst worden.

Stein wollte auf ihre Amerikanercharakterologie eine noch größere Arbeit folgen lassen, die »A Long Gay Book« (Ein langes vergnügliches Buch) heißen sollte und nicht nur zwei Familien, sondern überhaupt jedes nur mögliche Menschenpaar beschreiben sollte. Sie behauptet, dieses Vorhaben nicht weiter verfolgt zu haben, als ihr der Beweis erbracht schien, dass eine vollständige Beschreibung prinzipiell möglich wäre. Es ist nicht nötig, ihr das abzunehmen, sicher ist, dass sie nun zum Teil überaus kurze und überaus amüsante Dinge schrieb. Mit »Tender Buttons« (Zarte Knöpfe oder, mit Barbara Köhler, »Zarte knöpft«,1914) erfüllte sie endlich die Erwartungen, die allgemein in den Modernismus gesetzt wurden, mit der »Autobiographie von Alice B. Toklas« (1933) die der Liebhaber exzentrischer Damen. Diese Werke sind allgemein bekannt. Wenden wir uns deshalb noch einmal einem Abschnitt der zu wenig studierten »Americans« zu.

Fette und dürre Schillinge

Claudia Franken (»Gertrude Stein, Writer and Thinker«, 2000) weist darauf hin, dass die gesamten »Americans« hindurch bürgerlicher Anstand und Geldverdienen gleichgesetzt werden. Obwohl Stein sonst alle uneigentliche Rede meidet wie der Teufel das Weihwasser, fasst sie doch Geld und Persönlichkeit in ein allegorisches Verhältnis, als sie von den Damen Shilling spricht. Franken vermutet, historisches Vorbild für diese Allegorie seien die »Kleinschillingmänner«, die Karl Marx im dritten Band des »Kapitals« und in der »Kritik der Politischen Ökonomie« erwähnt. Die Kleinschillingmänner, Thomas und Matthias Attwood, Richard Spooner und andere, verfolgten eine idealistische Geldtheorie, wonach Geld zwar bloß Rechenmittel sei, die künstliche Aufwertung des Geldes aber splendide Folgen zeitige.

Ein Rechenmittel sind in dem nach mathematischen Maßgaben, »ordine geometrico« verfassten Roman die Damen Shilling. An diesen Verkörperungen des Geldes ermisst sich soziale Bedeutung. Während die Kinder Hersland sich gern mit den Armen in der Vorstadt von Gossols abgeben, wo sie jetzt leben, hat Mutter Hersland das »wichtige Gefühl« in sich, »das zuerst durch ihr Kennen der Mutter Shilling und der Tochter Sophie Shilling und der anderen Tochter Pauline Shilling ein wenig geweckt worden war«.

Mit Sartre formuliert, wird Gesellschaftlichkeit hier bloß als »seriell« vorgestellt. Auch die reichen Shillings zerfallen in Serientypen: Die dicke Tochter Sophie ist freundlich, die dünne Tochter Pauline gerät fortwährend, nach Manier der Melanctha, in Schwierigkeiten, ist allerdings »langweilig«. Auf dem Rumpf der alten Mrs. Shilling sitzt wie bei einer Puppe ein großer, loser, wackliger Kopf: »Es war immer unsicher selbst nach langem Kennen von ihr ob der wacklige Kopf auf ihr alles war was etwas Seltsames aus ihr machte oder ob es etwas Merkwürdiges («something queer») in ihrem Inneren gab.« Von der Art der Mutter und der dicken Tochter gibt es »viele Millionen die genau wie sie gemacht sind«.

Die Ursache dafür, weshalb Mutter und dicke Tochter Shilling, obwohl sie zwei von vielen Millionen sind, dennoch unsicher oder ängstlich sind, liegt darin, dass ihre quasimonetäre Austauschbarkeit mit einer inneren Leere einhergeht: »Die dickere Schwester hatte diese Angst in sich weil sie in ihrem Inneren nicht ganz ausgefüllt war.« Gerade dieses »hole«, Loch, in ihrem Innern, macht sie zu einer Vertreterin des »whole«, also des Ganzen. Aber auch für die weniger typische dürre Tochter gilt: »Immer füllte sie ein Loch in sich auf und immer hielt sie alles davon ab sie zu berühren, alles davon ab ihr nahezukommen damit es nicht von außen ein Loch in sie stoßen würde.« Die Puppenmutter Shilling aber war »zu leer um irgendeine Art einer Angst in ihrem Inneren zu haben«, sie ist nur wackelig, unsicher.

Das Gespenstische, das Marx am Tauschobjekt erkennt, erkennt bei Stein das Tauschobjekt, der zum Produkt gewordene Produzent, die »praktische Einheit von Mensch und unbelebtem Ding« selbst. Man fühlt sich unsicher, leer, lose, »queer«. Die tiefe Entfremdung, die Melanctha empfunden hat, erhält in »The Making of Americans« ihre ökonomisch-soziale Begründung. Ein kluger Freund sagte mir, gerade weil Gertrude Steins Bücher die Warenform nachbildeten, nähmen sie sie nicht an.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Oktober 2023 über den Schriftsteller Italo Calvino.

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