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Aus: Ausgabe vom 31.01.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Amalek

Von Knut Mellenthin
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Schlacht der Israeliten gegen die Amalekiter (Illustration von 1728)

In einer live vom israelischen Fernsehen übertragenen Pressekonferenz zum Beginn der Bodenoffensive im Gazastreifen zitierte Benjamin Netanjahu am 28. Oktober 2023 aus der Bibel: »Erinnere dich, was Amalek dir angetan hat«, und er fuhr fort: »Wir erinnern uns und wir kämpfen.«

Diese Aussage wird, zusammen mit vielen anderen Äußerungen israelischer Politiker, in der Klageschrift Südafrikas an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag als Beweis für genozidale Absichten der israelischen Kriegführung im Gazastreifen angeführt. In einer Stellungnahme dazu erklärte das Büro des Premierministers am 16. Januar, die Interpretation durch Südafrika sei »falsch und absurd« und zeuge von »tiefem geschichtlichen Unwissen«.

Die von Netanjahu zitierte Bibelstelle steht im 25. Kapitel des 5. Buches Moses, hebräisch Dewarim. Vollständig lautet sie: »Denke daran, was dir Amalek tat auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt: wie sie dich unterwegs angriffen und deine Nachzügler erschlugen, alle die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben waren, als du müde und matt warst, und dass sie Gott nicht fürchteten. Wenn nun der Herr, dein Gott, dich vor allen deinen Feinden ringsumher zur Ruhe bringt im Lande, das dir der Herr, dein Gott, zum Erbe gibt, um es einzunehmen, so sollst du die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel. Das vergiss nicht!«

Amalek wird an vielen Stellen des Tanach, der hebräischen Bibel, erwähnt. Gemeint ist ein Volk in der Negev-Wüste, das außerhalb der Bibel in der Geschichtsschreibung nicht vorkommt und dessen Existenz nicht wissenschaftlich – etwa durch archäologische Funde – nachgewiesen ist. In der jüdischen Überlieferung steht Amalek als Code für alle Todfeinde, die die kollektive Existenz der Juden bedrohen und sie vernichten wollen.

Der zugrundeliegende Vorfall wird im 17. Kapitel des 2. Buches Moses, hebräisch Schemot, beschrieben: Eine Streitmacht der Amalekiter stellt sich den Israeliten entgegen, die sich auf dem Zug aus Ägypten ins »Land Kanaan« befinden. Zum Ausgang der Schlacht, die bis zum Sonnenuntergang dauert, heißt es nur lapidar: Joschua – der Heerführer der Israeliten – »überwältigte Amalek und sein Volk durch die Schärfe des Schwertes«. Von einem Überfall der Amalekiter auf die Nachhut der Israeliten, wie im Kontext der von Netanjahu zitierten Bibelstelle, ist im 2. Buch Moses nicht die Rede.

Die im Zusammenhang mit der südafrikanischen Klage wichtigste der zahlreichen Bibelstellen, in denen Amalek und die Amalekiter erwähnt werden, steht im 15. Kapitel des 1. Buches Samuel: »So spricht der Herr der Heerscharen: Ich denke daran, was Amalek dem Volk Israel angetan hat, wie er sich ihm in den Weg stellte, als er aus Ägypten kam. Jetzt geh und schlage Amalek und zerstöre vollständig alles, was sie haben, und verschone sie nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Ochsen und Schafe, Kamele und Esel.«

Dieser Befehl ist an Saul gerichtet, den ersten König Israels nach biblischer Überlieferung, für dessen Historizität es keine Bestätigung gibt. Im 15. Kapitel des 1. Buches Samuel wird weiter erzählt, dass Saul zwar alle anderen Amalekiter töten ließ, aber ihren König Agag ebenso verschonte wie »die besten Schafe und Rinder und das Mastvieh und die Lämmer und alles, was von Wert war«. Daraufhin habe Gott den Propheten Samuel zu Saul geschickt, um ihm mitzuteilen, dass er wegen der Missachtung seines Befehls »das Königtum Israels heute von dir gerissen« und »einem anderen gegeben« habe, »der besser ist als du«. Das bezieht sich auf Sauls Nachfolger David.

Netanjahu behauptet, er habe am 28. Oktober von Amalek nur ganz arglos außerhalb des biblischen Kontextes gesprochen. Zwei Sätze zuvor hatte er es aber als Aufgabe der israelischen Streitkräfte bezeichnet, »dieses Übel aus der Welt auszurotten«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (1. Februar 2024 um 13:00 Uhr)
    Völkermord war in antiken Zeiten weithin üblich, so dass der biblische Befehl zum Völkermord an den Amalekitern nicht überraschen kann. Allerdings wird auch im Judentum vieles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. In Hesekiel 25,12ff befiehlt die Bibel z.B. einen Völkermord an den Edomitern. Der Talmud (Megilla Fol 6a/6b) wertet sodann die Germanen (vermutlich die Vandalen) als Edomiter. Gleichwohl sind Deutschland und Israel heute dicke Freunde.

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