Am Rande: Unfreiwillig komisch
Geschichte wiederhole sich eigentlich nicht, hat Karl Marx geschrieben, und wenn, dann als farcenhaftes Remake großer (»tragischer«) Ereignisse. Farcenhaftes gibt es aber auch ganz ohne Wiederholung am Rande der gegenwärtigen Spannungen rund um die Ukraine und den angeblich geplanten russischen Angriff. So hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der nach seinem auslaufenden Mandat an der Spitze des westlichen Militärbündnisses einen neuen Job sucht, einen originellen Friedensvorschlag für die Ukraine gemacht: Russland möge doch bitte die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage zum Anlass nehmen, seine Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen und damit vielen Menschen die Seelenruhe zurückgeben.
So etwas zwei Tage vor Heiligabend ins Gespräch zu bringen, zeugt von einer Qualifikation des Mannes, bei der man sich nur wünschen kann, dass er wirklich Chef der norwegischen Nationalbank wird und nur noch die Leitzinsen einer grundsoliden kleinen skandinavischen Währung bewegen kann und keine Panzerdivisionen. Ihm scheint, wenn er es schon nicht weiß, keiner gesagt zu haben, dass der 24. bis 26. Dezember in Russland und der Ukraine überhaupt keine Feiertage sind. Dort herrscht das orthodoxe Christentum vor, und weil die Ostkirche die Kalenderreform des Papstes Gregor im Jahre 1582 nicht mitgemacht hat, findet Weihnachten erst im Januar statt.
Auf eine andere Art komisch ist ein Interview, das Sergij Makogon, Chef des ukrainischen Gasleitungsnetzbetreibers, der DPA gab. Er warb darin dafür, dass Russland den Transit durch das ukrainische Gasnetz wesentlich erhöhen solle, denn dessen Zustand habe sich in den vergangenen Jahren »praktisch nicht verschlechtert«. Das umschreibt die Tatsache, dass die Ukraine in die Leitungen, die sie aus Sowjetzeiten geerbt hat, praktisch nichts investiert hat. Nach westlichen Schätzungen würde ihre Sanierung ungefähr soviel kosten, wie der Bau von Nord Stream 2 als funkelnagelneue Leitung: zehn Milliarden US-Dollar (etwa 8,8 Milliarden Euro). Was übrigens alle Argumente widerlegt, die den ökonomisch begründeten Charakter von Nord Stream 2 bestreiten: Eine Pipeline, die soviel kostet, wie Russland der Ukraine innerhalb von drei bis vier Jahren für den Gastransit zahlt, ohne auf die Instandhaltung des Netzes irgendwelchen Einfluss zu haben, ist eine ökonomisch geradezu zwingende Investition. Weshalb Makogon zum Schluss auch auf die Tränendrüse drückte: Wenn der Gastransit durch sein Land eingestellt würde, müsste die Ukraine entweder die Kosten für ihre eigenen Bürger verfünffachen, gab der Mann zu, dass Europas Gaskunden bei den geltenden Preisen alles mögliche in der Ukraine quersubventionieren. Oder das Land müsse sein Gasleitungsnetz ganz stillegen. Na und, kann man da nur fragen. Das bräuchte dann ja auch niemand mehr. (rl)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (24. Dezember 2021 um 00:15 Uhr)Wirklich komisch: War in gewissen Kreisen nicht die Rede davon, dass aus der Ukraine »grüner« Wasserstoff mittels dieser Pipelines bezogen werden soll? Das Aufpeppen der Leitungen für Wasserstoff wird sicher nicht billig.
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